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Michael von Prollius: Buchbesprechung „Sturm an der Börse. Die Panik von 1907“
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Michael von Prollius: Buchbesprechung „Sturm an der Börse. Die Panik von 1907“

Wie kommt es zu einem Crash an den Aktien- und einer Panik an den Finanzmärkten?

Über die Panik von 1907 haben Robert F. Bruner und Sean D. Carr 1 eine facettenreiche und streckenweise minutiöse Darstellung der Ereignisse und Hintergründe verfasst. Der spannend geschriebene Bericht um die Schlüsselfiguren im Finanzsektor New Yorks – inmitten J. P. Morgan – zeigt, wie ein Run auf Banken und andere Finanzinstitute entstand und vor allem, wie facettenreich Finanzkrisen sind. Konsequenterweise lautet die These, dass „es zu Finanzkrisen kommt, wenn viele Kräfte zusammenwirken; wenn auf den Finanzmärkten also sozusagen ein Sturm mit allem, was dazugehört, herrscht.“

Bruner und Carr arbeiten sieben konstituierende Elemente einer Panik heraus:

  1. Die Existenz eines komplexen Systems wie es bei Finanzmärkten per se der Fall ist.
  2. Dynamisches Wirtschaftswachstum, das mit steigender Nachfrage nach Kapital und Liquidität sowie Übertreibungen einhergeht.
  3. Eine übertriebene Kreditfinanzierung in der Spätphase des Booms bei unzureichenden Sicherungspolstern.
  4. Unsicherheit schürendes Handeln von Protagonisten im privaten und staatlichen Sektor, das Vertrauen zerstört und die Risikobereitschaft erhöht.
  5. Unerwartete Ereignisse, die als realer Schock auf die Wirtschaft einwirken und die Erwartungen der Marktteilnehmer – Investoren wie Sparer – umkehrt.
  6. Massenpsychologische Phänomene wie übertriebene Angst und Gier, die zu Abwärtsspiralen führen, aber auch einen Wechsel zum Optimismus begünstigen können.
  7. Überforderung der Akteure, die mit ihren gemeinschaftlichen Anstrengungen scheitern oder unzureichend gemeinschaftlich handeln.

Ein Sturm braut sich zusammen

1907 traf in New York ein mehrjähriger Bullenmarkt mit großen Käufen durch die Öffentlichkeit mit der Erdbebenkatastrophe von San Francisco zusammen. Die Wirtschaft war dynamisch gewachsen und befand sich in einem großen Strukturwandel. Der Kapitalbedarf war gewaltig. Zugleich machte Präsident Theodore Roosevelt als Führer der Progressiven besonders prominent Stimmung gegen Großunternehmen. Im Frühjahr 1907 war zudem der landwirtschaftliche Finanzierungskreislauf angesichts einer befürchteten schwachen Ernte infolgedessen niedrigen Exporten und einer somit problematischen Auslandsfinanzierung in vollem Gange. Jährlich hatte die Welt Kapital in Höhe von 2,4 Mrd. US-Dollar für Wertpapiere zur Verfügung gestellt; 1906 waren es sogar 3,25 Mrd. US-Dollar und 1907 überstieg die Nachfrage selbst diese Summe zuzüglich 200 Mio. US-Dollar Kosten infolge der Erdbebenschäden. Das benötigte Kapital war einfach nicht mehr verfügbar. Vorhaben und Möglichkeiten mussten neu ausbalanciert werden.

Zum Auslöser der Panik wurden ein spekulativer Aktienpool von United Copper Aktien des sogenannten Kupferkönigs Fritz August Heinze und seines Bruders Otto, die ein pyramidenartiges System, eine sogenannte „Bankenkette“, errichtet hatten. Außerdem spielte eine relativ neuartige Form eines Finanzintermediärs eine Rolle: die plötzlich kriselnde Vermögensverwaltungsgesellschaft Knickerbocker, die nicht zuletzt aufgrund ihrer privilegierten Regulierung den herkömmlichen Banken ein Dorn im Auge gewesen sein dürfte. Erwähnt sei auch die überschuldete Stadt New York.
Crash und Panik wirkten sich mit einer schweren Rezession auch auf die Realwirtschaft aus in Gestalt sinkender Industrieproduktion, steil ansteigender Arbeitslosigkeit (von 2,8 auf 8 Prozent), aber auch sinkender Einwandererzahlen. Die weitreichendste mittelbare Folgen war jedoch die Errichtung des Zentralbanksystems Fed 1913.

Lehren aus dem Sturm

Bruner und Carr ziehen nach ihrer konzisen Darstellung der Ereignisse in einem zweiten kürzeren Teil eine Reihe von Lehren entlang der sieben herausgearbeiteten Krisenelemente. Leider fehlen insbesondere die Erkenntnisse der Österreichischen Schule, die viel Erhellendes beizutragen vermag. Dazu zählt auch eine letztlich weitreichende Einsicht: Crash und Panik bedrohten zwar tatsächlich das gesamte Finanzsystem. Der Bust schien deutlich über eine bloße Bereinigung des überschwänglichen Booms hinauszugehen. Jedoch zeigt das letztlich erfolgreiche private Krisenmanagement, dass weder staatliche Eingriffe erforderlich waren noch, so weit erkennbar, die existierenden Regulierungen sich als nützlich erwiesen haben. Hinzu kommt, dass die Transformation des amerikanischen Geldwesens in das Zentralbanksystem des Fed sich keineswegs zwingend aus der Panik ableiten lässt. Zu dieser Einschätzung gelangte bereits 1936 Vera C. Smith in „The Rationale of Central Banking and the Free Banking Alternative“, die aufzeigt, dass Zentralbanken grundsätzlich Ergebnis politischer, nicht aber ökonomischer Erwägungen sind.

Bemerkenswerterweise zeigt der Bericht deutlich, dass die handelnden Akteure im Finanzsektor bei der Krisenüberwindung weit überwiegend solide Geschäftsleute mit großem Verantwortungsbewusstsein für das Gemeinwohl waren. Das gilt allen voran für J. P. Morgan, aber auch für die vielen, weniger bekannten, hart arbeitenden Fachleute in der zweiten Reihe der Banken. Zwar war die Krisenkommunikation deutlich verbesserungswürdig, aber die Protagonisten erkannten genau dieses Defizit und reagierten mit einer Reihe Transparenz schaffender Informationen. Zudem richteten die Finanzinstitute einen Liquiditätspool ein, ohne Sozialisierung möglicher Verluste und Übertragung des Haftungsrisikos auf den Steuerzahler. Kredite wurden während der Krisenbewältigung nicht für dezidiert spekulative Zwecke vergeben. Zudem wurde auf dem Höhepunkt der Panik von dem seltenen Mittel einer sechzigtägigen Kündigungsfrist für Spareinlagen Gebrauch gemacht. Selbst Ersatzgeld wie Barchecks und Münzgeld aus Kassenautomaten wurden eingesetzt.

Mehr als nur am Rande erwähnt sei, dass die Banken schon damals reguliert wurden, etwa im Hinblick auf Eigenkapitalvorschriften und Reservepflichten. Die praktizierte Privilegierung von neu entstehenden Vermögensveraltungsgesellschaften zeigt die Wettbewerb verzerrenden und System gefährdenden, vermutlich unbeabsichtigten Folgen staatlicher Interventionen einmal mehr auf. Darüber hinaus hätte deutlich gemacht werden können, dass die Regulierung im Geld- und Bankenbereich lange vor 1913 griff. Am folgenschwersten durch das Verbot des Branchbanking und eine gravierenden Restriktionen unterliegende Geldausgabe, d.h. Banknoten durften nur ausgegeben werden, wenn sie mit Staatsanleihen besichert waren. Außerdem war etwa im Bürgerkrieg eine Steuer auf die private Geldausgabe erhoben worden. Lawrence White und George Selgin sehen in diesem Interventionismus einen schweren Krisentreiber.

Warum der Staat keine Hilfe ist, Selbsthilfe indes funktioniert

Gibt es weitere Gründe warum in ordnungspolitischer Hinsicht Staatseingriffe nicht erforderlich waren? Zunächst ist offensichtlich, dass die Komplexität des Finanzsystems nicht reduziert werden kann. Ganz im Gegenteil ist sie seitdem weiter gewachsen. Die alltägliche Existenz asymmetrischer Informationen können Behörden zwar versuchen durch Vorschriften und Kontrollen abzubauen. Indes zeigt der Bericht über den Sturm im Finanzsektor von 1907, dass die staatlichen Kontrollen und Buchprüfungen in einem dynamischen Markt strukturell unzureichend bleiben mussten. Erst die Zusammenarbeit der Finanzkapitäne brachte die erforderlichen Informationen krisenbezogen ad hoc hervor, erst private Buchprüfungen und Einschätzungen erwiesen sich als ausreichende Handlungsgrundlage.

Bruner und Carr kommen überdies zu dem Urteil: „Runs könnten somit ein rationales Mittel sein, die Leistung von Banken zu überwachen und Banken auf primitive Weise zu zwingen, ihren Anlegern offenzulegen, ob sie über ausreichend Aktiva und Reserven verfügen.“ Tatsächlich zeigt die Krise, dass es kein System gibt, vermutlich auch nicht ein 100% Reservesystem, dass einer derartigen Panik gewachsen ist. Die Liquidierung von Vermögenswerten dauert zum Teil Jahre. Eine „Ad hoc“-Verflüssigung von Kapital, gerade wenn dies vertraglich gebunden ist, die Verträge aber gekündigt werden, erscheint kaum möglich. Wollen (fast) alle Einleger nahezu gleichzeitig ihre Einlagen abheben, führt das nicht nur zu einem gigantischen Arbeitsaufkommen in der Bank und infolgedessen zu Schlangenbildungen – auch andere Geschäftsbanken sind automatisch betroffen, unabhängig davon wie solide sie wirtschaften. Letztlich hat die Liquiditätsversorgung 1907 letztlich funktioniert, wenn auch über eine Reihe von Zusammenbrüchen unhaltbarer Geschäftsmodelle hinaus Kollateralschaden entstand. Clearingzentralen und Kooperationsabkommen hätten dies begrenzen können. Gemeinschaftliches Handeln stärken, das ist ein Schlüssel für die Krisenüberwindung und vermutlich auch für die Krisenvorsorge. Neben Clearingzentralen sind heute das Aussetzung des Handels bei zu stark fallenden Kursen in zu kurzer Zeit eine Lehre, die aus dem Crash von 1987 gezogen wurde. Auch hierfür ist kein staatlicher Eingriff erforderlich.

Bruner und Carr betonen die Rolle negativer Leitfiguren, zugleich wird durchweg deutlich, wie wichtig positive Leitfiguren gewirkt haben. J. P. Morgan schloss beispielsweise die führenden Banker solange ein, bis sie sich auf eine Krisenlösung verständigt hatten. Schwierig wird es allerdings, wenn das System von der Klugheit einzelner abhängt. Daher ist ein Dezentralisierung und ein Lob der Kleinheit statt der Großkonzerne ein wichtiger Schluss, den die Autoren so nicht konsequent genug aussprechen. Das mag daran liegen, dass J.P. Morgan aufgrund seiner Marktmacht als Retter erfolgreich agierte. Ein organischeres Wachstum erscheint indes möglich. Das gilt insbesondere dann, wenn der Staat klein ist und damit seine Finanzierungsbedürfnisse gering ausfallen. Die Geschichte der Finanzmetropolen (Youssef Cassis: Metropolen des Kapitals) ist nicht zuletzt eine Geschichte der Befriedigung wachsenden staatlichen Geldhungers. In diesen Zusammenhang gehört auch eine Unsicherheit schürende Wirtschaftspolitik, die Anfang des 20. Jahrhundert von höchster Stelle aus ging, namentlich Präsident Roosevelt.

Zusammen genommen bleibt der Schluss, dass es bereits 1907 systemrelevante Finanzinstitute gab. Anders als in der total politisierten Ökonomie heute, waren Untergang und Rettung privatwirtschaftliche Belange. Die unheilvolle Vermischung von Wirtschaft und Politik unterblieb. Risiko, Haftung und Gewinne blieben verbunden. Die Verantwortlichen übernahmen Verantwortung. Die Rebalancierung des Finanzsystems gelang. Der Sturm zog vorüber.



Robert F. Bruner und Sean D. Carr: Sturm an der Börse. Die Panik von 1907, Wiley-VCH Verlag, englische Erstauflage 2007, Weinheim 2009.