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Kapitel 3: Reine Theorie der sozialen Wohlfahrt

I.
II.
III.
IV.
V.

III.

[S.59] Ist es auf der Suche nach einer solchen Regel möglich, weiterhin auf deduktivem Weg, d. i. mit der bisher verwendeten Argumentationsmethode fortzufahren? Ganz offensichtlich: Handelte es sich z. B. um die Frage, welche Aussagen, die sich auf die Realität des empirischen Wissenschaftlers beziehen, universelle Gültigkeit beanspruchen können, so hätte man es mit einer empirischen Sache zu tun und deduktive Argumente wären fehl am Platz. In diesem Bereich von Forschungsaktivitäten gilt, daß die Geltung von Aussagen von Erfahrungen abhängen, die nicht (jedenfalls nicht vollständig) intern, durch den Verstand erzeugt werden, sondern (zumindest teilweise) von einer unabhängigen externen Welt stammen. – Im Unterschied zu dieser Situation handelt es sich bei Regeln freilich um intern produzierte, mentale Konstrukte, die keinerlei verstandes-unabhängige Existenz besitzen, sondern vielmehr die Instrumente des Verstandes in dessen Auseinandersetzung mit der externen Welt sind. Dieser Umstand legt es nahe, anzunehmen, daß die Problemlage im Hinblick auf Regeln andersartig ist. In der Tat ist dies der Fall. Es läßt sich, wie zu zeigen sein wird, eine quasi-aprioristische Ableitung der inhaltlichen Bestimmungen eines Prinzips geben, das sich durch allgemeine Vorzugswürdigkeit auszeichnet – ein Beweis, der von ähnlichen Argumentationsmitteln Gebrauch macht, wie kantische transzendentale Deduktionen.[FN8]

[S.60] Um den Beweis zu verstehen, muß vorausgesetzt werden, daß man weiß, was es heißt, einen Wahrheitsanspruch bezüglich irgendeiner (empirischen) Aussage zu erheben. Von dieser Kenntnis läßt sich sagen, sie sei apriori gegeben, denn es kann nicht widerspruchsfrei bestritten werden, daß man sie besitzt (was eine Falsifizierung der entsprechenden Aussage unmöglich machte). Würde man versuchen, den Gegenbeweis anzutreten, so hätte man offensichtlich für die entsprechende negative Aussage (i. e. man besitze die entsprechende Kenntnis nicht) einen Wahrheitsanspruch zu erheben und verwickelte sich damit in Widersprüche. Es ist von daher unmöglich, zu argumentieren (und Gültigkeit für dies Argument zu beanspruchen), daß man nicht wisse, wie man einen Geltungsanspruch bezüglich einer Aussage erhebe – darum die Charakterisierung des Wissens als aprioristisch.

Der Beweis beginnt mit diesem aprioristisch gegebenen Wissen und besteht in der Aufklärung seiner begrifflichen Implikationen. Zu wissen, wie man einen Wahrheitsanspruch bezüglich einer Aussage erhebt, heißt, zu wissen, wie man nach einer allseits als vorzugswürdig anerkannten Regel eine Situation herstellt (und aufrechterhält), die als Ausgangspunkt und Rahmen anschließender, auf allgemeine Übereinstimmung abzielender Aussagen-Validierungsbemühungen gelten kann. Könnte man von der Situation nicht behaupten, sie sei unter Beachtung einer derartigen, allgemein als vorzugswürdig zu bezeichnenden Regel erzeugt worden, könnte auch keinerlei weiterreichende Übereinstimmung (hinsichtlich beliebiger Dinge) erzielt werden. Nur wenn der Ausgangspunkt und Rahmen des Validierungsprozesses, der Übereinstimmung erbringen soll, selbst seinerseits korrekt erzeugt wird, d. i. nach einer Regel, die als allgemein vorzugswürdig gelten kann, kann auch das Resultat dieses Prozesses als eine korrekte allgemeine Übereinstimmung gelten. Einen Wahrheitsanspruch zu erheben heißt also zu wissen, wie man entsprechend einer allgemein-als-vorzugswürdig-anerkennungsfähigen oder korrekten oder gerechten oder fairen Regel handelt. Auf Wahrheit abzuzielen, setzt die Fähigkeit korrekten, gerechten, fairen Handelns voraus; kurz: Gerechtigkeit ist die Voraussetzung von Wahrheit.

Nun muß gezeigt werden, welche Regelspezifikationen aus diesem Wissen abgeleitet werden können. Läßt man einmal die Spezifikationen dabei außer Acht, die sich aus der Tatsache ergeben, daß ein Wahrheitsanspruch immer nur gegenüber solchen Personen erhoben wird, die man als intellektuell befähigt und als aufrichtig (nicht-lügend) betrachtet, so bleiben zwei zusammenhängende und sich gegenseitig vervollständigende Bestimmungen, die sich aus dem Wissen, wie man einen Wahrheitsanspruch erhebt, ergeben. Zum einen ist da die Bestimmung, daß aufgrund der Regel alle solche Handlungen als inkorrekt ausgeschlossen werden müssen, die irgendjemandes autonome Kontrolle über seinen Körper als sein Kognitionsinstrument beeinträchtigen. Eine korrekte Handlung muß vielmehr jedermanns Autonomie unberührt lassen. Wenn man einen Wahrheitsanspruch hinsichtlich einer Aussage erhebt, muß man also annehmen, man wisse, wie man eine Situation handelnd erzeugt, in der jeder mögliche Teilnehmer am Prozeß der Validierung dauerhaft Herr über den eigenen Körper ist. – Zum anderen, diese Bestimmung ergänzend, ist da die Spezifikation, was nicht als unkorrekte Handlung [S.61] eingestuft werden kann. Aufgrund der Tatsache, daß jeder Validierungsprozcß unter unvermeidbaren Beschränkungen empirischer Art stattfindet und stattfinden muß, beansprucht man nicht, wenn man eine Aussage als wahr behauptet, daß jedermann tatsächlich am Validierungsbemühen teilnimmt; sondern man anerkennt, daß die Knappheit des Produktionsfaktors Zeit dazu führen kann und wird, daß Personen auch andere Ziele haben, die zu verfolgen ihnen wichtiger erscheint als das Ziel der Wahrheitssuche. Würde man im Gegensatz hierzu eine Person zur Teilnahme am Validierungsunternehmen zwingen, so daß diese Person nicht länger eine autonome Körperkontrolle ausübte, dann resultierte umgekehrt eine Situation, in der ein Wahrheitsanspruch korrekterweise nicht mehr erhoben werden kann.

Autonomie beinhaltet also ein uneingeschränktes Recht, einen Interaktionsprozeß zu boykottieren, Einen Wahrheitsanspruch zu erheben, bedeutet, zu wissen, wie man eine allgemein als vorzugswürdig einzustufende Situation (als Ausgangspunkt für weiterreichende Übereinstimmung) erzeugt, indem man entsprechend einer Regel handelt, die alle Handlungen (als nicht-allgemein vorzugswürdig) ausschließt, die die Kontrolle einer Person über ihren Körper beschränken, und die gleichzeitig, indem sie dies tut, alle solchen Handlungen (als allgemein vorzugswürdig) erlaubt, die als Interaktionsboykott, als Weigerung, sich an einseitig gewünschtem interpersonellem Austausch zu beteiligen, zu klassifizieren sind. Wenn man einen Wahrheitsanspruch zu erheben weiß, anerkennt man (implizit), daß dies Prinzip allgemein vorzugswürdig ist: handle so, daß du niemals die Kontrolle einer Person über ihren Körper einschränkst und sie zu einem Austausch zwingst, an dem sie sich ansonsten nicht beteiligen würde. – Dies Prinzip, von dem geleitet jedermanns Handlungen natürlich immer noch durch die existierenden Naturgesetzlichkeiten wie auch die empirischen Kontingenzen, unter denen man zu wählen hätte, eingeschränkt wären, ist nicht nur allgemein vorzugswürdig, es ist dies auch aufgrund aprioristischen Wissens.

Indem man dies behauptet, leitet man kein 'soll' aus einem 'ist' ab. Vielmehr handelt es sich dabei um eine ausschließlich kognitive Angelegenheit. Aus dieser Klassifizierung des Prinzips folgt genauso wenig, daß man ihm entsprechend handeln sollte, wie aus dem Begriff der Wahrheit folgt, daß man nach ihr streben soll. Aber genauso, wie man eine Person, die ihre Handlungen nicht auf vermeintlich zutreffende Informationen gründet, entweder uninformiert oder einen Lügner nennt, genauso muß man eine Person, die nicht entsprechend den oben genannten Regeln handelt, entweder als uninformiert oder unehrenhaft charakterisieren. Und es gäbe dafür im letzteren Fall sogar eine bessere Begründung als im ersteren; denn die 'Wahrheit' des Prinzips muß als grundlegender gelten als beliebige empirische Wahrheiten, weil das, was empirisch wahr ist (oder was 'objektive Realität' im Unterschied zu subjektiver Einbildung ist) definiert ist als das, hinsichtlich dessen Existenz jedermann, der diesem Prinzip gemäß handelt, Übereinstimmung erreichen könnte.[FN9]