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Kapitel 3: Reine Theorie der sozialen Wohlfahrt

I.
II.
III.
IV.
V.

IV.

[S.62] Angesichts der Formulierung des allgemein vorzugswürdigen Handlungsprinzips ist dem Leser möglicherweise bereits das Nicht-Aggressionsprinzip der libertären, individualistisch-anarchistischen Gesellschaftstheorie eingefallen.[FN10] In der Tat läßt sich zeigen, daß beide Prinzipien identisch sind – vorausgesetzt 'Gewalt' oder 'Aggression' oder 'Zwang' (alle Ausdrücke hier synonym verwendet) erhält eine ganz bestimmte Deutung. Auf der einen Seite muß, wenn man das Nicht-Aggressionsprinzip als mit dem oben aprioristisch gewonnenen Prinzip identisch erweisen will, erkannt werden (was üblicherweise auch der Fall ist), daß Gewalt nicht als ein objektiv gegebenes Phänomen mit definitiv festliegenden physischen Merkmalen konzeptualisiert werden kann. So vielmehr, wie die 'Güter' der Ökonomie nicht durch ihre physischen Attribute definiert sind, sondern dadurch, daß sie von Personen wertgeschätzt und entsprechend behandelt werden, so muß auch Gewalt als Phänomen konzeptualisiert werden, dessen Vorliegen oder Nicht-Vorliegen nicht unabhängig von subjektiven Bewertungen interagierender Personen festgestellt werden kann. Genaugenommen muß Gewalt interpretiert werden als das einzige Phänomen, hinsichtlich dessen eine übereinstimmende Beurteilung dahingehend erzielt werden kann, daß seine Anwesenheit nicht übereinstimmend präferiert werden kann (obwohl manche Person von der Gegenwart des Phänomens profitieren könnte), während die Abwesenheit von Gewalt ihrer Anwesenheit gemeinsam vorgezogen werden kann.

Zum anderen (und dies wird üblicherweise übersehen) muß Gewalt als Phänomen konzeptualisiert werden, dessen Klassifizierung als 'gemeinsam präferierbar' oder 'nicht gemeinsam präferierbar' jedermann immer schon vorgängig bekannt ist, vorausgesetzt nur, er weiß, was es heißt, einen Wahrheitsanspruch zu erheben. Zusammengefaßt: das Nicht-Aggressionsaxiom und das aprioristisch herleitbare, übereinstimmend vorzugswürdige Prinzip sind identisch, wenn man berücksichtigt, daß Gewalt kein objektiv gegebenes Ereignis ist, dessen nicht-allgemein akzeptablen Charakter man erst im Verlauf empirischer Arbeit entdecken und gemeinsam festlegen müßte, dessen entsprechende Einstufung vielmehr jedermann aprioristisch gegeben ist, wenn man nur weiß, wie man einen Wahrheitsanspruch erhebt (was von jeder zur Argumentation überhaupt zugelassenen Person vorausgesetzt werden muß!). Das Nicht-Aggressionsaxiom, so interpretiert, ist das einzige Grundprinzip des Handelns, das universelle Übereinstimmung bezüglich seiner Vorzugswürdigkeit erlangen kann.

Mit dieser Regel müssen alle übrigen kompatibel sein. Gibt es einen Fall von Inkompatibilität, dann muß diese andere Regel als nicht allgemein vorzugswürdig eingestuft werden. – Aber wie steht es mit diesem Kompatibilitätstest? Ist er objektiv, d. i. sind seine Resultate intersubjektiv kontrollierbar, trotz des doch gerade [S.63] erwähnten subjektiven Charakters von Gewalt als des Grundbegriffs der Regel? Eindeutig: obwohl Gewalt nicht in dem Sinn objektiv ist, daß es unabhängig von einem 'Verstand' existiert, ist die Feststellung seiner Gegenwart oder Abwesenheit doch insofern intersubjektiv kontrollierbar, als man bereits verstanden haben muß, wie man mit und ohne Gewaltanwendung handelt, um überhaupt den Begriff einer objektiven, subjektunabhängigen Tatsachenwelt (im Unterschied zu einer Welt bloßer subjektiver Einbildungen) zu verstehen. Man muß die Kenntnis der korrekten Anwendung des Begriffs Gewalt voraussetzen, um sagen zu können, daß irgendein anderer, sich auf die objektive Realität beziehender Begriff korrekt angewendet wurde; und man zeigt dadurch, daß die Objektivität von Gewalt in gewisser Weise fundamentaler ist als die Nicht-Subjektivität irgendeines objektiven Phänomens.[FN11]

Mit Gewalt als einem objektiven Phänomen kann auch der Kompatibilitätstest nicht anders als objektiv sein. So wie man intersubjektiv kontrollierbar weiß, wie man eine gewaltfreie und eine nicht-gewaltfreie Situation herstellt, so weiß man auch, ob Grundprinzip und irgendeine zusätzliche Regel kompatibel sind, oder ob ihre Koexistenz zu unvereinbaren rechtlichen Beurteilungen bestimmter Handlungssorten führen muß.

(jede Regel z. B., die irgendeine Form des erzwungenen Austauschs zwischen Personen erlaubt, wäre unvereinbar mit einem Grundprinzip, das, wie gezeigt, jedermanns unbeschränktes Recht auf Boykott konstatiert.[FN12] Nur solche Regeln können nicht mit dem Grundprinzip in Konflikt geraten (und dennoch mehr sein als dessen redundante Wiederholungen), die die Bedeutung von Aggression weiter entfalten: Der Ausdruck Gewalt wird nicht mehr allein auf Handlungen angewendet, die die Autonomie einer gegebenen Person, ihren Körper entsprechend eigenen Vorstellungen und zu eigenen Zwecken einzusetzen, einzuschränken versuchen; sondern er wird auch auf Handlungen angewendet, die die Kontrolle einer Person über die anderen Dinge beschränken, die sie neben und zusätzlich zum Objekt des eigenen Körpers objektiv nachweisbar (als objektivierbarer Ausdruck ihrer Persönlichkeit) unter ihre Kontrolle gebracht hat, ohne dabei anderen Personen gegenüber gewalttätig aufzutreten, d. i.: weil sie entweder die Dinge nachweisbar unter Kontrolle gebracht hat, ehe sich irgendeine andere Person in ihnen 'vergegenständlicht' hat, oder weil sie sie vom früheren Erwerber durch zweiseitig freiwilligen (gewaltfreien) Austausch übernommen hat. Die Bedeutung von Aggression würde hierbei, verglichen mit der ursprünglichen (nur auf Körper bezogenen Bedeutung) erweitert; aber diese Erweiterung würde nicht zu Regelinkompatibilitäten führen, weil sie bereits im ursprünglichen Konzept einer autonomen Person (oder eines autonomen Willens) enthalten ist: so wie eine Person nicht autonom genannt werden kann, die keine uneingeschränkte Kontrolle über das Objekt, mit dem sie koexistiert, hat, und das für sie einzige 'naturgegebene' Mittel seines Ausdrucks ist (ohne dessen Existenz man selbst nicht real ist, und ohne exklusive Verfügungsgewalt über das nicht als von seinem Körper gesprochen werden kann), so kann auch eine Person nicht autonom genannt werden, wenn es nicht zulässig für sie wäre (indem man das natürliche Ausdrucksmittel des eigenen Körpers benutzt), indirekt auch über alle übrigen Güter Kontrolle zu erlangen (sofern es solche gibt), durch und in denen sie sich (ihre Persönlichkeit) objektiv Ausdruck verleihen will, vorausgesetzt, daß die fraglichen Güter nicht von einer anderen Person nachweisbar schon früher zum Gegenstand ihrer Selbstverwirklichung gemacht worden sind, so [S.64] daß es eine Einschränkung ihrer Autonomie beinhalten würde, würde man ungefragt in etwas eingreifen, was (bisher) Ausdruck allein ihres Willens ist.[FN13])