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Kapitel 3: Reine Theorie der sozialen Wohlfahrt

I.
II.
III.
IV.
V.

I.

[S.56] Es ist in politischen Diskussionen üblich, ein bestimmtes Realitätsmerkmal, das der menschlichen Beeinflussung zugänglich ist, zu rechtfertigen, indem man behauptet, seine Anwesenheit trage mehr zur sozialen Wohlfahrt bei als seine Abwesenheit. Angenommen nun, daß 'soziale Wohlfahrt' die aggregierte Summe der Wohlfahrt aller eine gegebene Gesellschaft bildenden Individuen ist, und daß darüber hinaus 'individuelle Wohlfahrt' keine Ausdehnung im physikalischen Raum aufweist, und von daher nicht durch Kardinalzahlen gemessen werden kann, sondern vielmehr eine 'intensive Größe' darstellt, die sich nur ordinal messen lässt,[FN1] dann muß folgendes bezüglich der wegen ihres Beitrags zur sozialen Wohlfahrt gerechtfertigten Realitätsmerkmale gelten: Nur wenn die Anwesenheit eines gegebenen Realitätsmerkmals ausnahmslos seiner Abwesenheit vorgezogen wird, ist es zulässig, zu behaupten, es trage positiv zur sozialen Wohlfahrt bei. Wenn es dagegen Uneinigkeit hinsichtlich derartiger Präferenzen gibt, muß eine Bezugnahme auf soziale Wohlfahrt – wegen des Fehlens metrischer (kardinaler) Meßverfahren – als unzulässig gelten und resultiert in arbiträren Beurteilungen.[FN2]

Das schließt ersichtlich die meisten faktisch zu beobachtenden Verwendungen des Ausdrucks soziale Wohlfahrt als Aussagen ohne jede kognitive Bedeutung aus, da sie sich auf Realitätsmerkmale beziehen, hinsichtlich deren Vorzugswürdigkeit eindeutig abweichende Auffassungen existieren, und so (illegitimerweise) den Einsatz von Arithmetik verlangten, um die Aggregatgröße soziale Wohlfahrt zu bilden.[FN3] Aber ist es nicht zuviel verlangt, wenn man auf ausnahmsloser Übereinstimmung hinsichtlich der Rangordnung der An- bzw. Abwesenheit eines gegebenen Realitätsmerkmals als notwendiger Voraussetzung jeder legitimen Verwendung des Ausdrucks soziale Wohlfahrt beharrt? Ist nicht jede derartige Übereinstimmung unerreichbar oder, falls je erreicht, in dauernder Gefahr, jederzeit widerrufen zu werden, so daß letztlich jede Bezugnahme auf soziale Wohlfahrt ausgeschlossen ist?

Tatsächlich ist dies der Fall. Dennoch kann der Ausdruck soziale Wohlfahrt legitimerweise verwendet werden; denn es gibt zwingende Gründe, der gerade angesprochenen Einstimmigkeitsbedingung eine gelockerte Interpretation zu geben, vor deren Hintergrund eine sinnvolle Verwendung des Begriffs 'soziale Wohlfahrt' wieder möglich wird.

Wie sieht diese Einstimmigkeits-Interpretation aus, und warum sollte man sie akzeptieren? Einstimmigkeit bedeutet nicht, daß jedermann faktisch der Vorzugswürdigkeit eines gegebenen Phänomens A im Vergleich zu Nicht-A zustimmt; vielmehr ist damit nur gemeint, daß jedermann im Prinzip in der Lage sein muß, zu einer derartigen Übereinstimmung zu gelangen, um eine sinnvolle Bezugnahme auf soziale Wohlfahrt zu ermöglichen. Warum 'im Prinzip' anstelle von 'faktisch'? Aus denselben Gründen, aus denen man dieselbe Substitution bezüglich aller kognitiven (d. i. einen Wahrheitsanspruch erhebenden) Aussagen macht – und ganz offensichtlich soll ja die Behauptung, daß A übereinstimmend Nicht-A vorzuziehen ist, eine kognitive Aussage sein. Man verlangt z. B. von einer Aussage, die eine empirische Wahrheit konstatiert, nicht, daß sie von jedermann bestätigt ist; denn man weiß zunächst einmal a), daß Zeit knapp ist und schon von daher jede Einstimmigkeit, bei ganz beliebigen Dingen, als praktisch unerreichbar gelten muß; man weiß b), daß Personen intellektuell schlicht und einfach unfähig sein können, um eine gegebene Aussage zu validieren – aber man würde die Aussage nicht als unwahr verwerfen wollen, nur weil irgendjemand zu ihrer Validierung nicht in der Lage ist; man weiß außerdem c), daß Personen unehrlich sein können – doch würde man den Wahrheitsanspruch einer Aussage nicht schon deshalb verwerfen wollen, weil irgendjemand nicht der Wahrheit verpflichtet ist; und man weiß schließlich d), daß es möglich ist, daß eine Person nicht Herr über den eigenen Körper als ihr eigenes Erkenntnisinstrument ist – und würde doch jede Meinung bezüglich der Validität einer Aussage ignorieren wollen, es sei denn, der Sprecher wäre tatsächlich Herr über seinen Körper.

Was man stattdessen vom (empirischen) Wissenschaftler verlangt, ist, daß seine Aussagen derart sein sollen, daß sie ausnahmslose Zustimmung erlangen könnten, gäbe es nicht die intervenierenden Umstände von Zeitknappheit, intellektuellem Unvermögen, Unehrlichkeit und Abwesenheit von autonomer Körperkontrolle. In der gleichen Weise sollte es auch als vernünftig gelten, von Aussagen, die einen Wahrheitsanspruch in bezug auf die uneingeschränkte Vorzugswürdigkeit eines A gegenüber einem Nicht-A behaupten, nur zu verlangen, sie sollten von jedermann bestätigt werden können, vorausgesetzt er sei fähig, ehrenhaft, autonom und von Zeitknappheit nicht tangiert.

Das Problem der Formulierung einer Theorie der sozialen Wohlfahrt verlangt somit die Erörterung der Frage, ob es Realitätsmerkmale gibt, hinsichtlich deren Vorzugswürdigkeit eine ausnahmslose Übereinstimmung als möglich behauptet werden kann, obwohl, aus genannten Gründen, durchaus keine entsprechende tatsächliche Übereinstimmung gegeben sein muß.