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Neue Beiträge zum Problem der sozialistischen Wirtschaftsrechnung (1923)

Einleitung
I. Arthur Wolfgang Cohn: Kann das Geld abgeschafft werden?
II. Karl Polányi: Sozialistische Rechnungslegung
III. Eduard Heimann: Mehrwert und Gemeinwirtschaft
IV. Kautsky: Die proletarische Revolution und ihr Programm/Leichter: Die Wirtschaftsrechnung in der sozialistischen Gesellschaft

IV. Kautsky: Die proletarische Revolution und ihr Programm/Leichter: Die Wirtschaftsrechnung in der sozialistischen Gesellschaft

Auch die marxistischen Parteiliteraten können die Beschäftigung mit dem Problem der Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen nicht mehr länger ablehnen.

Schon ein halbes Jahr nach dem Erscheinen meiner Abhandlung »Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen« behandelten der Moskauer Nationalökonom Tschajanow, die Bolschewiken Strumilin, Bucharin, Varga und andere das Problem in einer Reihe von Aufsätzen in der »Ekonomitscheskaja Shiznj«, einem Amtsblatte der Sowjetregierung.(22) Das Ergebnis dieser Erörterung war kläglich. Tschajanow kam nicht über den mißglückten Versuch hinaus, Verhältnisziffern für die Aufstellung einer Naturalwirtschaftsrechnung einzelner Produktionszweige willkürlich zu konstruieren. Strumilin verwarf den Lösungsvorschlag Tschajanows und versuchte es mit einem System der Konstituierung des Arbeitswerts. Seine Ausführungen über die Beziehungen des Arbeitswertes zur Nützlichkeit werden in dem uns vorliegenden Auszuge nur kurz erwähnt. Varga befaßt sich nur mit der Arbeitszeitrechnung, ohne auf die Schwierigkeiten, die ihrer Anwendung entgegenstehen, näher einzugehen.

Ganz besonders leicht macht sich Kautsky die Lösung des Problems. Daß es mit der Arbeitszeitrechnung nicht gehen kann, sieht er nun endlich ein. »Statt sich an die hoffnungslose Arbeit zu machen, fließendes Wasser mit einem Sieb zu messen – und dieser Art wäre die Konstituierung des Wertes –, wird sich das proletarische Regime für die Zirkulation der Waren an das halten, was es greifbar vorfindet: ihre historisch gewordenen Preise, die heute in Gold gemessen werden, was selbst die weitestgehende Inflation nur verschleiern und verzerren, nicht aber aufheben kann. Was selbst der ungeheuerste und vollkommenste statistische Apparat nicht zu leisten vermöchte, die Schätzung der Waren nach der in ihnen enthaltenen Arbeit, das finden wir in den überkommenen Preisen als Ergebnis eines langen historischen Prozesses gegeben vor, unvollkommen und ungenau, aber als einzig mögliche Grundlage für möglichst glattes und leichtes Weiterfunktionieren des ökonomischen Zirkulationsprozesses«.(23) An diesen überkommenen Preisen wird zunächst nichts geändert. Doch, »wenn das gesellschaftliche Interesse es erheischt«, können »die Ziffern der Produktion und der Preise einzelner Waren« (497) auch »abweichend von den aus der kapitalistischen Zeit überkommenen festgesetzt werden«. Das, meint Kautsky, »ist, von Fall zu Fall vorgenommen, eine weit einfachere Operation als das Berechnen der Arbeitswerte aller Waren zur Einführung des Arbeitsgeldes. Natürlich wird man dabei nicht willkürlich verfahren können«.(24) Doch bedauerlicherweise unterläßt es Kautsky, zu zeigen. wie das anders als willkürlich geschehen könnte. Und wenn er die Beibehaltung des kapitalistischen Geldsystems empfiehlt, erklärt er, sich auf Andeutungen beschränken zu müssen und keine Geldtheorie geben zu wollen.(25)

Man wird Kautsky nicht Unrecht tun, wenn man feststellt, daß die von ihm vorgeschlagene Lösung keiner weiteren. Erörterung wert ist. Daß man auf die Dauer mit den überkommenen. Preisen das Auslangen nicht finden kann, gibt er selbst zu. Er weiß jedoch nicht anzugeben, wie man die erforderlichen Korrekturen vorzunehmen hätte.

Im Gegensatz zu Kautsky hält Leichter mit aller Strenge an dem Gedanken der Arbeitszeitrechnung fest.(26) Es gelingt ihm unschwer zu beweisen, daß auch Marx »in diesem Wertmaß die einzige Möglichkeit für eine sozialistische Wirtschaft sieht«. Damit ist seine Aufgabe im Sinne der marxistischen Wissenschaft eigentlich gelöst; mit Genugtuung stellt er fest, daß er sich »direkt auf die Gedankenrichtung des Kapitals berufen könne«.(27) Leichter will aber noch ein Uebriges tun und die Kritik zurückweisen, die an dem Gedanken der Arbeitszeitrechnung geübt wurde. Hier versagt er vollkommen.

Die Arbeitszeitrechnung ist für die Wirtschaftsrechnung unge-eignet, einmal weil es nicht möglich ist, Arbeit verschiedener Qualität auf eine Einheit zu bringen, und dann, weil sie nur den Produktionsfaktor Arbeit nicht auch den Produktionsfaktor Natur in die Rechnung einstellt.(28) Leichter will das nicht gelten lassen. Man kann, meint er, »die Wichtigkeit der verschiedenen Arbeitsverrichtungen miteinander vergleichen; man kann sehr wohl die Wichtigkeit eines Hammerführers in einer Großschmiede mit der Qualifikation eines Kesselburschen vergleichen etwa in dem Sinne, um wieviel wichtiger es ist, daß der Hammerführer zur, Stelle ist oder besser ,arbeitet als der Feuerbursch oder um wieviel schwerer, anstrengender die Arbeit des Hammerführers ist«.(29) Mann kann solche Vergleiche anstellen, gewiß, doch sie werden je nach dem subjektiven Anschauungen derer, die sie anstellen, zu verschiedenen Ergebnissen führen. Und was bedeutet hier »Wichtigkeit«? Soll es Wichtigkeit (498) in bezug auf das Zustandekommen des Arbeitsergebnisses sein, dann muß man wohl auf die sophistischen Erörterungen über die Frage zurückgreifen, ob Hammer oder Nagel, ob Papier oder Stift wichtiger seien, Wichtigkeit in bezug auf die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse, d. h. den subjektiven Gebrauchswert, kann doch wohl Leichter, der sich als unbelehrbarer Anhänger der marxistischen Arbeitswertlehre erweist, nicht gemeint haben. Doch ganz abgesehen davon: welche der vier Fragen, die sich aus den Darlegungen Leichters ergeben, soll man diesen Beurteilern vorlegen? Soll die Wichtigkeit des »zur Stelle seine oder die Wichtigkeit des »besser arbeiten« oder die Schwere der Arbeit oder die Anstrengung, die sie verursacht, verglichen werden? Oder soll man die beiden Arbeiten in hundert anderen denkbaren Beziehungen vergleichen, etwa in bezug auf ihre Gesundheitsschädlichkeit oder in bezug auf die Schwierigkeit ihrer Erlernung? Jeder dieser Vergleiche bringt doch wohl ein anderes Ergebnis und man kann doch nur eines dem Reduktionsschlüssel zugrunde legen. Oder sollen die Ergebnisse verschiedener Vergleiche zur Errechnung des Reduktionsschlüssels kombiniert werden?

Die Behauptung Leichters, daß der Alltag alle diese Probleme täglich löse, indem er die Löhne aller Arten von Arbeit bildet, ist ganz verfehlt. Die Lohnsätze bilden sich im Tauschverkehr des Marktes auf Grund der subjektiven Wertschätzungen, und das Problem liegt ja gerade darin, zu ergründen, ob auch in der verkehrslosen Gesellschaft die Zurückführung der verschiedenen Qualitäten von Arbeit auf einen einheitlichen Ausdruck möglich wäre. Leichter sieht in diesem Einwand nichts als »Marktfetischismus« (auf die Prägung dieses Ausdrucks ist er ganz besonders stolz).(30) Denn, meint er, bei den Verhandlungen, die zwischen den einzelnen Unternehmern, dem Werkstättenleiter und den einzelnen Arbeitern über den Lohnsatz für verschieden qualifizierte Arbeitsoperationen geführt werden, handelt es sich nicht »um das Marktfeilschen im gewöhnlichen Sinn. Mit dem Stand am Arbeitsmarkt, mit der jeweiligen Größe der Arbeitslosenzahl hat das Verhältnis der Entlohnung von qualifizierter und weniger qualifizierter Arbeitskraft, besonders aber das Verhältnis zwischen der Entlohnung verschiedener Professionistenkategorien oder die Entlohnung verschiedener Maschinenarbeiten derselben Professionisten fast gar nichts zu tun; also auch Angebot und Nachfrage spielen fast überhaupt keine Rolle im Sinne des sonstigen Marktverkehrs«.(31) Einen Beweis für diese Behauptung zu erbringen, unterläßt Leichter bedauerlicherweise. Man beachte übrigens, wie er seiner These durch die zweimalige Einfügung des Wörtchens »fast« jede grundsätzliche Bedeutung nimmt.
Die Quelle der Leichterschen Irrtümer ist in der Unzulänglichkeit und Unklarheit seiner Vorstellung vom Wesen des Marktes und der Marktpreisbildung zu suchen. Das Wesen des Marktes scheint (499) ihm in dem »Feilschen« und in der Berufung der Parteien auf Angebot und Nachfrage gelegen zu sein. Doch das Feilschen kann auch ganz fehlen; auch wo »feste Preise« bestehen, von denen »nichts abgehandelte werden kann, spielt der Marktmechanismus wie immer, nur daß die Marktlage auf den Preis nicht auch unmittelbar durch die Verhandlungen der Parteien, sondern mittelbar durch ihr Verhalten (Ausbleiben oder Andrang der Käufer und dementsprechendes Benehmen der Verkäufer) einwirkt. Uebrigens muß auch Leichter zugeben, daß bei den von ihm angeführten Lohnverhandlungen gefeilscht wird; er meint nur, es sei kein »Marktfeilschen im gewöhnlichen Sinne. Offenbar, weil die Parteien sich dabei nicht auf Angebot und Nachfrage berufen. Doch solche Berufung kommt auch sonst nie vor; die Parteien pflegen sich auf die Gerechtigkeit ihrer Forderung, auf die Höhe der »Selbstkosten« und auf die »Notwendigkeit« der Erzielung eines gewissen Einkommens zu berufen. Aber das, was die Parteien beim Tauschakte sprechen, ist für die Erkenntnis seines Wesens ohne Bedeutung, auf ihr Verhalten und nicht auf ihre Rede kommt es an. Hätte Leichter das beachtet, dann hätte er selbst in dem Eifer seiner marxistischen Befangenheit nicht darauf verfallen können, den Einfluß der Lage des Arbeitsmarktes auf die Lohnbildung zu be-streiten. Wird eine bestimmte Arbeitergruppe schlechter entlohnt als es der Grenzproduktivität entspricht, dann muß das Abströmen von Arbeitskräften zu anderen, verhältnismäßig besser entlohnten Arbeiten bald wieder einen Ausgleich herbeiführen; und bei verhält-nismäßig zu hoher Entlohnung bringt der Zuzug von Arbeitskräften die Sache wieder in Ordnung. Daß der Gewerkschaftsbureaukrat und der Betriebsrat diese Zusammenhänge nicht erkennen, kann man ohne weiteres zugeben, doch wer sich mit den ökonomischen Pro-blemen der Lohnbildung befaßt, sollte zumindest versuchen, die Dinge weniger oberflächlich zu betrachten.

Der Versuch, den anderen gegen die Brauchbarkeit der Arbeitszeitrechnung geltend gemachten Einwand zurückzuweisen, glückt Leichter ebensowenig. Er baut seine Polemik auf einer mißverständlichen Auffassung meiner Ausführungen auf; dieses Mißverstehen enthüllt eine erstaunliche Unvertrautheit mit den elementaren Begriffen der nationalökonomischen Lehre und ist so kraß, daß man geneigt ist anzunehmen, Leichter hätte meine Worte absichtlich mißverstanden, um nur überhaupt etwas gegen sie vorbringen zu können. Ich hatte ausgeführt, daß die Wirtschaftsrechnung nicht nur die Arbeit, sondern auch die sachlichen Produktionsmittel erfassen müsse; es sei zwar wahr, daß diese, wie Marx sagt, »ohne Zutun des Menschen von Natur aus vorhanden« sind, doch wenn sie nur in einer solchen Menge vorhanden sind, daß sie Gegenstand der Bewirtschaftung werden, müßten sie auch in die Wirtschaftsrechnung eingehen.(32) Leichter erwidert darauf: »Mises …. zäumt …. die Frage zunächst (500) so auf, als ob es sich um alle Produktionssphären handeln würde, in die neben menschlicher Arbeitskraft auch sachliche Produktionsvoraussetzungen eingehen. In dieser allgemeinen Fassung ist sein Einwand absolut unberechtigt, denn die meisten Güter sind vollständig durch die normale Kostenaufstellung in Arbeitsstunden zu erfassen. Und nur am Schluß seiner Darlegungen fügt er die allerdings entscheidende Einschränkung hinzu, daß seine Behauptung nur für den Fall einen Sinn habe, wenn es sich um Seltenheitsgüter handle, bei denen eine Bewirtschaftung notwendig ist«.(33) Die »entscheidende Einschränkung«, von der Leichter spricht, ist die, daß die freien Güter – wie Luft, Wasser, Sonnenlicht – eben in die Wirtschaftsrechnung nicht eingehen, da diese nur die wirtschaftlichen Güter erfaßt, das sind die Güter, die nicht in einer praktisch unbegrenzten Menge zur Verfügung stehen, so daß man mit ihnen ökonomisch verfahren muß. Leichters Ausdruck »Seltenheitsgüter, bei denen eine Bewirtschaftung notwendig ist« und der Ausdruck »wirtschaftliche Güter« sind gleichbedeutend. Doch Leichter stellt die ,Sache so dar, als ob nur einige wenige Güter bewirtschaftet werden müßten; der ungenaue Ausdruck »Seltenheitsgüter«, demgegenüber der ebenso ungenaue »die meisten Güter« steht, soll den klaren und durchsichtigen Tatbestand verdunkeln. Leichter möge doch ein wirtschaftliches Gut nennen, das man nicht bewirtschaften muß!

Aber selbst im Sinne seiner eigenen konfusen Ausführungen wäre Leichter nun genötigt gewesen, zu zeigen, wie das Problem der sozialistischen Wirtschaftsrechnung in bezug auf seine »Seltenheitsgüter« zu lösen sei. Das läßt er aber wohlweislich bleiben und begnügt sich zu sagen, die Gesellschaft wird »in ihrem Plan für die Wirtschaftstätigkeit, B. in Bergwerken, genau das Ausmaß des Abbaues feststellen, und sofern noch außerdem höhere Preise für diese Seltenheitsgüter notwendig sein sollten, werden sie eben dadurch zustandekommen, daß man den bei der Herstellung dieser Güter verwendeten Arbeitsstunden nicht bei der Entlohnung, sondern bei der Preisfestsetzung eine höhere Produktivkraft zuschreibt«.(34) Nun handelt es sich aber bei unserem Problem gar nicht darum, ob die Gesellschaft die Grenzen des Abbaues festsetzt oder nicht und ob sie höhere oder niedere Preise verlangt, sondern darum, ob sie in der Lage sein wird, derartige Verfügungen auf Grund der Ergebnisse einer Wirtschaftsrechnung zu treffen. Nie ist bezweifelt worden, daß die Gesellschaft verfügen kann; ich behaupte aber, daß sie nicht rationell, d. h. nicht auf Grund einer Rechnung, vorgehen kann.

Damit ist der Kern der Ausführungen Leichters erledigt. Alles, was sein Buch sonst enthält, ist überflüssiges Beiwerk, das bestimmt ist, die Schwäche der entscheidenden Ausführungen zu verhüllen.

Den orthodoxen Marxisten ist es ebensowenig wie anderen gelungen, ein für die, sozialistische Gesellschaft brauchbares System der Wirtschaftsrechnung ausfindig zu machen.

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(22) Diese Artikel waren mir nicht zugänglich, da mir die russische Sprache fremd ist. Mir standen nur die Auszüge zur Verfügung, die Leichter auf S. 85-92 seiner weiter unten behandelten Schrift aus den Aufsätzen von Tschajanow und Strumilin gibt, und ein knapper Bericht Vargas (in dem weiter unten genannten Artikel) über Tschajanows Abhandlung. Vargas Artikel ist auch in deutscher Sprache im II. Jahrgang (1921) der Wiener Zeitschrift »Kommunismus« (Heft 9/10, S. 290-298) unter dem Titel: »Die Kostenberechnung in einem geldlosen Staat« erschienen.

(23) Vgl. Kautsky , Die proletarische Revolution und ihr Programm, 2. Aufl., Berlin und Stuttgart 1922, S. 321.

(24) Ebendort S. 322 f.

(25) Ebendort S. 324.

(26) Vgl. Leichter, Die Wirtschaftsrechnung in der sozialistischen Gesellschaft (Marxstudien, V. Bd., I. Heft, Wien 1923.)

(27) Ebendort S. 50.

(28) Vgl. meine »Gemeinwirtschaft«, a. a. O., S. 121 ff.

(29) Vgl. Leichter, a. a. O., S. 62.

(30) Ebendort S. 26 ff.

(31) Ebendort S. 63.

(32) Vgl. meine Gemeinwirtschaft, a. a. O., S. 122. (Auch in diesem Archiv, Bd. 47, 106 f.)

(33) Vgl. Leichter, a. a. O., S. 69f.

(34) Ebendort S. 70.