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1920-1929

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Rezension: 'Der Nationalismus Westeuropas' von Waldemar Mitscherlich (1923)

Rezension: 'Der Nationalismus Westeuropas' von Waldemar Mitscherlich (1923)

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Quelle: Weltwirtschaftliches Archiv. 19 (1923) S. 302-303

Mitscherlich, Waldemar, o. Prof. der Staatswissenschaften a. d.
Universität Breslau, Der Nationalismus Westeuropas. Leipzig 1920. C. L.
Hirschfeld. XV, 373 S.

Nichts hindert den Fortschritt der Erkenntnis des soziologischen Problems der Nation mehr als die Vernachlässigung der Unterscheidung zwischen Nationalität und Nationalismus, d. i. zwischen der Tatsache der nationalen Verschiedenheit der Menschen und der Tatsache der Wirksamkeit bestimmter Ideologien, die der nationalen Verschiedenheit der Menschen eine bestimmte Bedeutung für das soziale Verhalten beilegen. Man muß genau unterscheiden zwischen der Tatsache der Zugehörigkeit zum deutschen Volke und der Tatsache der Zugehörigkeit zur deutschnationalen Partei. Auch der Anhänger der deutschnationalen Partei wird nicht jedem Deutschen, der seine Anschauungen über deutsche Politik nicht teilt, die Zugehörigkeit zum deutschen Volke absprechen; ja, er wird mitunter durch eine Aussage wie die: solche Laxheit in nationalen Dingen könne nur bei Deutschen vorkommen, sei echt deutsch, dem politischen Gegner ausdrücklich die Zugehörigkeit zum deutschen Volke bestätigen. Die nationalistische Parteiideologie erhebt darauf Anspruch, daß jeder von ihr zur Nation Gerechnete sich ihr anschließe; doch sie muß nicht gerade immer die zur Nation zählen, die eine von anderen Gesichtspunkten vorgenommene Absteckung der nationalen Grenzen noch zu ihr rechnet. Der russische Nationalist rechnet Kleinrussen und Weißrussen ohne weiteres zur russischen Nation; der tschechische Nationalismus von heute will die Nachkommen der im im Dreißigjährigen Krieg ins Land gekommenen katholischen Adelsgeschlechter, der antisemitische Flügel des Nationalismus der meisten europäischen Völker will die Juden nicht zur eigenen Nation rechnen. Kroaten und Serben, der Nationalität nach eins, haben besondere einander entgegenarbeitende nationalpolitische Ideologien entwickelt, mit deren auseinanderstrebenden Kraft das neue jugoslawische Staatswesen zu kämpfen hat.

Daß man diese Unterscheidung zwischen Nationalität und Nationalismus vernachlässigt hat, hat schließlich dazu geführt, daß man das Kriterium der Nation anderswo als in der Gemeinsamkeit der Sprache suchen wollte. Es kann nicht die Aufgabe dieser-Zeilen sein, sich mit der Unzulänglichkeit aller dieser Versuche, den Begriff der Nation zu bestimmen, auseinanderzusetzen. Nur auf eines sei hingewiesen: Für die Autoren, die sich mit dem Problem ohne alle Seitenblicke auf die politischen Ideologien beschäftigten, stand es fest, daß das Nationale in der Sprachgemeinschaft liege; so für E. M. Arndt, für Jakob Grimm, für Wilhelm Scherer. Erst als aus dem modernen liberalen Freiheitsgedanken das moderne Nationalitätsprinzip entsprang und sich zum Imperialismus umbildete, begann man zwischen der Sprachgemeinschaft und der Nationalität zu unterscheiden.

Das vorliegende Werk von Mitscherlich ist vor allem geschichtlich orientiert. Es sucht das Werden des westeuropäischen Nationalismus, der von dem Osteuropas durchaus verschieden ist, genetisch zu erklären. Es bringt dabei eine Fülle neuer Gesichtspunkte und Ideen. Bedauerlicherweise vernachlässigt es das ökonomische Problem. Der moderne Nationalismus ist mit dem Protektionismus so eng verbunden, daß man ihn nicht erschöpfend untersuchen kann, wenn man nicht zugleich die Grundgedanken der modernen Schutzzolltheorien überprüft. Die Vernachlässigung der kritischen Auseinandersetzung mit den Ideen und Theorien des Freihandels und der nationalen Autarkie führt den Verf. zu einem — wie er wohl glaubt, zwischen den Gegensätzen vermittelnden — Ideal der Unionwirtschaft. Die Unionwirtschaft soll ein autarkes Wirtschaftsgebilde sein, das mehrere Völker und Staaten umfaßt. Doch die Autarkiebestrebungen können nicht anders begründet werden als mit nationalpolitischen Erwägungen; Autarkie, die nationalpolitisch indifferent ist, findet keinen Verteidiger. Es ist nicht abzusehen, was die Staaten vom Freihandel abhalten könnte, wenn nicht nationalpolitische Erwägungen. Ich habe darauf (im „Archiv für Sozialwissenschaft“, 42. Bd., S. 578 ff., und dann in der Schrift „Nation, Staat und Wirtschaft“, Wien 1919) hingewiesen, als Naumann die Idee eines über Staats- und Volksgrenzen hinausgreifenden Zollvereins propagierte.

Jeder, der sich mit dem Problem des Nationalismus und des Imperialismus beschäftigen will, wird aus Mitscherlichs Werk vielfältig Anregung und Belehrung schöpfen.

Prof. Ludwig Mises, Wien.