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1920-1929

Rezension: 'Das Ende des Laissez-Faire' von J. M. Keynes (1927)
Die Vereinigten Staaten von Europa (1927)
Amerika und der Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft (1927)
Rezension: 'Papers relating to Political Economy.' von F. V. Edgeworth (1926)
Sozialliberalismus (1926)

Amerika und der Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft (1927)

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Quelle: Mitteilungen des Deutschen Hauptverbandes der Industrie, VIII. Jg., Folge 1, 6. 1. 1927, S. 5

Prof. Dr. Mises, der vor einiger Zeit in unserem Verbande über „Finanz-
und währungspolitische Fragen in der Gegenwart“ sprach, hielt am 17.
Dezember im Hauptverbande der Industrie Österreichs einen überaus
interessanten Vortrag, in dem er eingangs darlegte, daß Europa
politisch von Amerika keine Hilfe bei der Lösung seiner eigenen
Probleme erwarten dürfe, und dann weiter ausführte:

Auch rein wirtschaftspolitisch sind die Hoffnungen, die von den Vereinigten Staaten eine Behebung der Notlage Europas erwarten, stark überspannt. Die Vereinigten Staaten waren bis in das letzte Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts vor allem Lieferanten von Rohstoffen und Importeure von Fabrikaten. Europa hat jahrzehntelang in den Vereinigten Staaten immerfort Kapital investiert. Die großen Anlagen, die den Reichtum der amerikanischen Volkswirtschaft zur Entfaltung gebracht haben, waren vom europäischen Kapital finanziert worden. Vor einem Menschenalter wurden drei Fünftel der amerikanischen Eisenbahnen von London kontrolliert. Obzwar schon in den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts Amerika angefangen hatte, gelegentlich Pakete amerikanischer Effekten aus Europa zurückzukaufen, stieg die Effektenschuld der Vereinigten Staaten an Europa bis zum Ausbruch des Weltkrieges noch immerfort an. Selbst vorsichtige Schätzungen rechnen damit, dass bei Ausbruch des Weltkrieges die Effektenschuld der Vereinigten Staaten an Europa mehr als 5 Milliarden Dollar betragen hat. Unter den Effektenbesitzern standen an erster Stelle England und die kapitalistischen Staaten des Westens, aber selbst Österreich war, wenn auch mit bescheidenen Beträgen, beteiligt. Die Zinsen dieser Effektenschuld zahlten die Vereinigten Staaten durch das enorme, von Jahr zu Jahr steigende Aktivum ihrer Handelsbilanz, das nun nicht mehr lediglich durch Export von Rohstoffen, sondern auch schon zum guten Teil durch Export von Stapelgütern und Fabrikaten gebildet war. Die steigenden Überschüsse der amerikanischen Handelsbilanz hätten im Laufe der Jahre zweifellos auch ohne das Dazwischenkommen des Weltkrieges bewirkt, dass die Vereinigten Staaten ihre Effektenschuld an Europa abgetragen hätten und aus der Rolle eines Kapital importierenden in die Rolle eines Kapital exportierenden Landes übergegangen wären. Der Krieg hat diese Entwicklung ungeheuer beschleunigt. Innerhalb weniger Jahre, fast über Nacht könnte man sagen, wurde Amerika der große Weltbankier. Für Ende 1925 wird die amerikanische Kapitalanlage im Auslande vom Departement of Commerce mit 10½ Milliarden Dollar angegeben, denen zirka 3 Milliarden ausländische Kapitalanlagen in den Vereinigten Staaten gegenüberstehen. In dieser Aufstellung sind jedoch die interalliierten Schulden nicht inbegriffen. Der Saldo des internationalen Austausches von Zinsen und Kapitalgewinnen wird von derselben Stelle mit 355 Millionen Dollar beziffert, wozu noch an Zinsen der interalliierten Schuld 160 Millionen Dollar kommen. Nimmt man das Aktivum der Handelsbilanz mit 660 Millionen Dollar und die Filmleihgebühren mit 75 Millionen Dollar dazu, so ergibt sich ein Aktivum von 1424 Millionen Dollar. Die Gegenposten der amerikanischen Zahlungsbilanz sind die Auslangen der Reisenden mit 560 Millionen Dollar, die Einwandererrücksendungen mit 310 Millionen Dollar und einige kleinere Posten mit zusammen 63 Millionen Dollar, insgesamt also 922 Millionen Dollar. Die Differenz von zirka einer halben Milliarden Dollar wird durch den Überschuß der Neuinvestitionen amerikanischen Kapitals im Auslande über die Summe der Rückzahlungen von Schulden und des Ankaufes von amerikanischen Effekten durch Ausländer gedeckt. Man nimmt an, dass in den letzten Jahren die Kapitalneubildung in den Vereinigten Staaten zirka 10 Milliarden Dollar im Jahre betragen hat, wovon 1-2 Milliarden für die Anlage im Auslande zur Verfügung stehen. Das sind gewaltige Beträge, mit denen man aber nicht voll rechnen darf. Man muß ihnen einmal die erwähnten Rückzahlungen und Ankäufe durch die Ausländer gegenüberhalten. Man muß ferner berücksichtigen, dass die Beschränkung der Einwanderung sich schließlich auch in einem Rückgang der Einwanderersendungen auswirken wird, da naturgemäß die Einwanderer, die schon längere Zeit in den Vereinigten Staaten leben und dort eine Familie gegründet haben, für die Heimsendungen kaum noch in Betracht kommen und die Einwanderer, die lediglich für kurze Zeit nach Amerika kommen, um nachher mit ihren Ersparnissen nach Europa zurückzukehren, unter den gegenwärtigen Verhältnissen praktisch nicht mehr in Frage kommen. Mit dem steigenden Wohlstand der Vereinigten Staaten und der Ausgestaltung des transozeanischen Schiffsverkehrs wird die Zahl der amerikanischen Auslandsreisenden und damit die Summe der im Ausland verausgabten Beträge wachsen. Andererseits, und dies ist vielleicht das Wichtigste, ist zu erwarten, dass der Überschuß der Handelsbilanz zurückgehen wird. Die Annahme, dass die amerikanische Handelsbilanz bald passiv werden dürfte, ist zweifellos übertrieben. Es ist zwar richtig, dass sich in den ersten acht Monaten des Jahres 1926 ein Überschuß der Einfuhr über die Ausfuhr von 84 Millionen ergeben hat, aber dass die Schlussfolgerungen, die daran geknüpft wurden, voreilig waren, beweist die Tatsache, dass im September das Aktivum der amerikanischen Handelsbilanz 105 Millionen Dollar ausgemacht hat. Es wäre übrigens nur natürlich, wenn die Vereinigten Staaten als ein Gläubigerland eine passive Handelsbilanz bekämen. Es gibt für die Schuldner Amerikas ja keinen anderen Weg, die Zinsen und Dividenden, die sie schulden, an Amerika zu zahlen, als durch Warenlieferungen. Die amerikanische Wirtschaftspolitik, die durch ein straffes Hochschutzzollsystem die fremden Waren fernzuhalten sucht, muß schließlich mit der Investitionspolitik in Kollision geraten. Daß die Hochschutzzollpolitik mit dem Wunsche der Vereinigten Staaten, die Alliierten mögen ihre Schulden verzinsen und tilgen, im Widerspruch steht, wird von allen einsichtigen Amerikanern zugegeben.

Nichtsdestoweniger ist in den Vereinigten Staaten heute der Gedanke des Schutzzolles noch außerordentlich populär. Er findet seine Vertretung bei den Industrien, die Zölle zum Ausgleich der Verschiedenheit der Produktionskosten fordern. Die wörtliche Erfüllung dieses Wunsches würde jede Einfuhr nach den Vereinigten Staaten unmöglich machen, da begreiflicherweise nur solche Waren nach den Vereinigten Staaten importiert werden, für die die Produktionskosten im Auslande niedriger sind. Dasselbe gilt von der Forderung der Arbeiterschaft, dass alle jene Waren von der Einfuhr fernzuhalten sind, die im Auslande bei niedrigeren Arbeitslöhnen erzeugt werden. Da in den Vereinigten Staaten, schon als Folge der Einwanderungssperre, die Löhne höher stehen müssen als überall sonst (mit Ausnahme von Australien), würde auch dies ein absolutes Prohibitionssystem bedeuten. Auch die Forderung der angeblich gemäßigten Richtung nach „raisonablen“ Zöllen bedeutet im Wesen nicht anderes, weil unter einem „raisonablen“ Zoll gemeiniglich ein solcher verstanden zu werden pflegt, der es der inländischen Ware ermöglicht, mit Erfolg gegen die ausländische zu konkurrieren.

Selbst die Farmer stehen zum Teil im Lager der Schutzzöllner, soweit sie nämlich Produkte erzeugen, die nach den Vereinigten Staaten aus dem Auslande eingeführt werden. Die Masse der Farmer freilich sieht ein, dass ihnen als Exportinteressenten ein Zollschutz nichts bringen könnte und dass sie darunter leiden, dass die Arbeitskraft durch die Einwanderungsgesetze und die industriellen Erzeugnisse durch den Hochschutzzoll verteuert werden, wogegen die landwirtschaftlichen Produkte einen starken Preisverfall erlitten haben, der die Farmer schwer in Mitleidenschaft gezogen hat. Die Farmer sind es, die fordern, dass die Vereinigten Staaten auf eine Sanierung der politischen Verhältnisse Europas hinarbeiten, um die Konsumkraft der europäischen Völker zu stärken.

In der inneren Wirtschaftspolitik der Vereinigten Staaten verschafft sich immer mehr und mehr der Gedanke Geltung, dass die Wirtschaft durch die Regierung kontrolliert werden soll. In der auswärtigen Wirtschaftspolitik kehren sich die Vereinigten Staaten als Kapitalsausfuhrland begreiflicher-, aber nicht konsequenterweise gegen dieselbe Politik, die sie im Inland betreiben. Die Anstrengungen, die Mexiko macht, um die Produktion unter die Kontrolle des Staates zu bringen, werden von den Vereinigten Staaten auf das energischste bekämpft. Als Gläubigerland muß die Union gegen die Nationalisierungs- und Enteignungsbestrebungen auftreten, und im mexikanischen Falle geht diese Gegnerschaft bekanntlich so weit, dass kriegerische Verwicklungen nicht außerhalb des Möglichen liegen.

Schlechte Erfahrungen, die die Amerikaner mit der Zahlungswilligkeit der Schuldner gemacht haben, auf der einen Seite, der Rückgang der Aktivität ihrer Zahlungsbilanz auf der anderen Seite könnten es bewirken, dass die Vereinigten Staaten in Hinkunft in einem stärkeren Maße sich wirtschaftlich auf ihr eigenes Gebiet zurückziehen, als dies heute der Fall ist. Die amerikanischen Industrien, die ihre Produktion unerhört erweitert haben in der Erwartung, auf dem Weltmarkte ähnlich günstige Verhältnisse für den Absatz von Massenartikeln zu finden wie in den Vereinigten Staaten, werden sich umstellen, und die Vereinigten Staaten werden weniger einführen und weniger ausführen, vor allem weniger Kapital im Auslande investieren. Dieser Entwicklung könnte nur entgegengearbeitet werden durch einen allgemeinen Abbau der Handelsfeindseligkeit, die die ganze Welt heute beherrscht, durch einen allgemeinen Abbau der Zollschranken und durch einen Verzicht aller Schuldnerstaaten auf Maßnahmen, die geeignet sind, unter welchem Titel immer, das fremde, im Inland arbeitende Kapital zu gefährden und dadurch neue Kapitalsinvestitionen zu verhindern. Immerhin sind die Vereinigten Staaten noch reich genug, um dem wirtschaftlichen Aufbau Europas genügend Mittel zur Verfügung zu stellen. Aber sie sind politisch, wirtschaftspolitisch und ideenpolitisch nicht imstande, diesem Aufbau die allgemein politischen, wirtschaftspolitischen und ideologischen Grundlagen zu schaffen. Die müssten von Europa selbst ausgehen. Es ist verfehlt, anzunehmen, dass die Vereinigten Staaten zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas etwas anderes beisteuern könnten als Kapitalssummen, für die sich bietende vorteilhafte Investitionsmöglichkeiten ausgenützt werden sollen.