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Politischer Liberalismus (1959)

1. Die liberale Tradition der Whigs
2. Der rationalistische Liberalismus der französischen Revolution
3. Der politische Liberalismus in Deutschland
4. Verfall und Neubelebung
Literatur zum Artikel "Politischer Liberalismus"

4. Verfall und Neubelebung

[S.594] Bis zu Ende des 19. Jh. oder vielleicht sogar bis 1914 konnte es in den meisten Teilen des Westens noch scheinen, als ob der politische Liberalismus eine der unverlierbaren Errungenschaften westlicher Zivilisation geworden und nur der wirtschaftliche Liberalismus sich als vorübergehende Phase erwiesen hätte. Schärfere Beobachtung hätte schon damals Zweifel darüber hervorrufen sollen, ob die Trennung dieser beiden Anwendungsgebiete liberaler Prinzipien nicht künstlich und auf die Dauer unvollziehbar sei. Tatsächlich hatte in dem Bereich der internationalen Beziehungen das Wiederaufleben der Schutzzollbewegung und das damit verbundene Verschwinden des Prinzips der "offenen Türe" in den Kolonien unmittelbar zur Entstehung des Imperialismus und zu neuen Machtkonflikten geführt. In den inneren Angelegenheiten der Staaten ging die Abkehr vom wirtschaftlichen Liberalismus langsamer vor sich, und ihre Folgen zeigten sich daher auch erst später [—>Liberalismus (II)]. Aber langsam haben die neuen Prinzipien der Wirtschafts- und Sozialpolitik, die seit den 1870er Jahren immer rascher vordrangen, zu einer fortschreitenden Untergrabung der politischen Grundlagen der liberalen Gesellschaft geführt. Daß Sondereigentum und Wettbewerbswirtschaft ihre unerläßliche Voraussetzung bildeten, wurde nicht verstanden; den langsamen Verfall des Rechtsstaatsprinzips, den die zunehmenden administrativen Eingriffe des Staates mit sich brachten, nahm man mit Gleichmut hin. Die vermeintliche Trennbarkeit des politischen vom wirtschaftlichen Liberalismus wurde zur Doktrin erhoben, deren markantester Vertreter später Benedetto Croce wurde, der die beiden Richtungen sogar mit besonderen Namen ("liberalismo" bzw. "liberismo") bezeichnete.

Als geistige Tradition war der echte Liberalismus zu Ende des ersten Weltkrieges nahezu erloschen. Wenn es auch in der Praxis noch Männer gab, die seinen Lehren anhingen, so war doch das theoretische Denken in einem Maße von anti-liberalen, insbesondere sozialistischen, Gedanken durchsetzt, daß die Entwicklung in dem Zwischenraum zwischen den zwei Weltkriegen sich auf allen Gebieten mit großer Geschwindigkeit von den liberalen Traditionen abwandte. In den 1920er Jahren wurden sie systematisch überhaupt nur mehr von ganz wenigen Nationalökonomen, insbesondere Ludwig v. Mises, vertreten. Aber so wichtig auch die Diskussionen, die sich insbesondere an v. Mises' Kritik des Sozialismus knüpften, für die spätere geistige Neubelebung des Liberalismus wurden, so wurde doch das Verständnis weiterer Kreise erst durch die tatsächliche politische Entwicklung wieder auf die entscheidenden Probleme gelenkt. Erst als das Vordringen totalitärer Regierungsformen unverkennbar zeigte, daß die Entwicklung, die auf dem Gebiete der Wirtschaft begonnen hatte, schließlich unvermeidbar auch die geistige Freiheit bedrohte, begann in jenen Intellektuellenschichten, die die Führer in der Abkehr vom Liberalismus gewesen waren, eine Umkehr. In den Jahren, in denen die Drohung des Totalitarismus am größten war, übten dann die Schriften von Walter Lippmann, Louis Rougier, Wilhelm Röpke, Friedrich A. v. Hayek, Walter Eucken und anderer eine weitgreifende Wirkung aus, die den früheren Arbeiten von v. Mises, denen jene zum großen Teil die Anregung verdankten, zunächst versagt geblieben war.

Der neue Liberalismus unterscheidet sich vom alten vor allem darin, daß er sich des engen [S.595] wechselseitigen Zusammenhanges zwischen wirtschaftlichen und politischen Institutionen bewußter ist. Nicht nur, daß politische Freiheit ohne freie Wirtschaft unmöglich sei, sondern vor allem auch, daß das befriedigende Funktionieren der Wettbewerbswirtschaft ganz bestimmte Erfordernisse bezüglich des rechtlichen Rahmenwerkes stelle, sind die Grunderkenntnisse, auf die sich der neue Liberalismus gründet. An die Stelle der stets irreführend gewesenen Formel "Laissez faire" trat das ausdrückliche Bemühen um eine Gestaltung der Rechtsordnung, die der Erhaltung und dem ersprießlichen Wirken des Wettbewerbs günstig ist und das Entstehen von privaten Machtpositionen auf der Seite sowohl der Unternehmer wie der Arbeiter zu verhindern sucht. Es war klar geworden, daß die klassischen "Grundrechte", in denen die liberalen Ideale des 19. Jh. vor allem ihren Niederschlag gefunden hatten, nicht dadurch wirklich gesichert werden können, daß die Verfassungen sie einfach aussprechen, sondern daß der ganze Charakter der Rechtsordnung ihrem Geiste entsprechend gestaltet werden muß und daß es vornehmlich die wirtschaftliche und soziale Gesetzgebung der beiden letzten Generationen gewesen ist, die die Freiheit bedrohte, die jene Grundrechte hatten schützen sollen. Das Ziel des wiedererstandenen Liberalismus, der zur Zeit noch mehr eine intellektuelle als eine politische Bewegung darstellt, ist somit im wesentlichen eine Wiederbelebung des Rechtsstaatsideals, wobei das Prinzip der strengen Bindung der Gewaltausübung des Staates durch das Gesetz und die weitestgehende Verminderung aller Ermessensvollmachten an die Stelle der vagen Gegnerschaft des älteren Liberalismus gegen alle "Staatsintervention" getreten ist.

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