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Soziologie und Geschichte (1929)

V. Geschichte ohne Soziologie
VI. Allgemeine Geschichte und Soziologie
VII. Soziologische Gesetze und historische Gesetze
VIII. Qualitative und quantitative Analyse in der Nationalökonomie
IX. Die Allgemeingültigkeit soziologischer Erkenntnis

IX. Die Allgemeingültigkeit soziologischer Erkenntnis

Erfaßt man mit Kant »Natur« als »das Dasein der Dinge, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist«,(93) und sagt man demgemäß mit Rickert: »Die empirische Wirklichkeit wird Natur, wenn (508) wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Allgemeine, sie wird Geschichte, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Besondere und Individuelle«,(94) dann muß man notwendigerweise zu dem Schlusse gelangen, daß die Soziologie, falls solche überhaupt möglich ist, als Naturwissenschaft, d. i. als eine mit der naturwissenschaftlichen Methode arbeitende Wissenschaft anzusehen ist; auf der anderen Seite muß man dann die Frage, ob historische Gesetze möglich sind, mit nein beantworten. Gewiß hat die Vorstellung, daß Naturwissenschaft und Gesetzeswissenschaft identische Begriffe sind, viele von denen beherrscht, die die Forderung nach einer Gesetzeswissenschaft vom menschlichen Handeln in die Worte gekleidet haben, man müsse anfangen, die naturwissenschaftlichen Methoden auf die Geschichte anzuwenden. Terminologische Mißverständnisse aller Art haben überhaupt die Erörterung aller dieser Fragen in größte Verwirrung gebracht.

Kants und Rickerts Terminologie ist wohl nur aus der Tatsache heraus zu verstehen, daß beiden nicht nur die Soziologie unbekannt geblieben ist, sondern daß ihnen selbst auch nur die Möglichkeit soziologischer Erkenntnis nie ernstlich zum Problem wurde. Für Kant bedarf das weiter keines Nachweises.(95) Was Rickert anbelangt, so vergleiche man die spärlichen und unzulänglichen Bemerkungen, die er der Soziologie widmet. Wenn Rickert auch zugeben muß, daß sich »unter logischen Gesichtspunkten gegen eine naturwissenschaftliche oder generalisierende Darstellung der gesellschaftlichen Wirklichkeit« nichts einwenden läß,(96) so fällt es ihm nicht ein, sich den Weg zu den logischen Problemen der Soziologie durch Bekanntschaft mit der Soziologie selbst zu bahnen, so den Grundsatz außer acht lassend, daß die »Beschäftigung mit der Philosophie der Wissenschaften die Kenntnis der Wissenschaften selber voraussetzt«.(97) Es wäre verfehlt, daraus Rickert, dessen Verdienste um die Logik der Geschichte nicht zu bestreiten sind, einen Vorwurf zu machen. Doch man muß mit Bedauern feststellen, daß Rickert hier weit hinter dem zurückbleibt, (509) was Menger, gleich im Eingange seines Werkes, über den auch innerhalb der Sozialwissenschaften auftretenden Gegensatz zwischen den historischen, auf das Individuelle der Erscheinungen, und den theoretischen, auf das Generelle der Erscheinungen gerichteten Wissenschaften ausführt.(98)

Die letzte Stellung, die in dem hartnäckigen Kampfe gegen die Anerkennung der Soziologie noch gehalten wird, ist die der Begrenzung der Gültigkeit der soziologischen Gesetze auf eine bestimmte geschichtliche Zeit. Es war der Marxismus, der zuerst auf diesen Ausweg verfiel. Für den Interventionismus, dem die historische Schule in der praktischen Politik zum Siege verhelfen wollte, mußte jeder Versuch, eine Gesetzmäßigkeit im Ablauf der gesellschaftlichen Dinge aufzuzeigen, gefährlich erscheinen, da er die Allmacht des obrigkeitlichen Eingriffs sonst nicht hätte beweisen können; er lehnte schlechthin jede Theorie ab. Für den Marxismus lagen die Dinge anders. Ihm fiel es, zumindest für den Bereich der Theorie – (in der praktischen Politik wurde es freilich allmählich anders, da rückten die marxistischen Parteien Schritt für Schritt auf den Boden des Interventionismus) – nicht ein, den Nachweis der klassischen Nationalökonomie, daß die »Eingriffe« sinnwidrig sind, weil mit ihnen das angestrebte Ziel nicht erreicht werden kann, in Frage zu stellen. Er machte sich diese Auffassung um so lieber zu eigen, als sie es ihm ermöglichte, die Nutzlosigkeit aller Reformen der bestehenden Gesellschaftsordnung darzulegen, und alle Unzufriedenen auf das kommende Reich des Sozialismus zu verweisen. Das, was der Marxismus brauchte, war eine Theorie, die es ermöglichte, die ihm höchst unbequeme nationalökonomische Erörterung der Verwirklichungsmöglichkeit des sozialistischen Gemeinwesens, in die er mit sachlichen Argumenten nicht einzugreifen vermochte, niederzuschlagen. Das bot ihm die Lehre von den Wirtschaftssystemen. Im Laufe der Geschichte folgt ein Wirtschaftssystern auf das andere, wobei – wie bei allen Stufentheorien – das spätere immer als das »höhere« anzusehen ist. Die metaphysisch-teleologische Grundeinstellung, die die wissenschaftlichen Stufentheorien von List, Hildebrand, Schmoller und Bücher zu verhüllen suchen, wird vom Marxismus, obwohl er für sich das Prädikat »wissenschaftlich« mit Emphase beansprucht, ganz naiv hervorgekehrt; Ziel und Ende aller Geschichte ist das sozialistische Reich der Verheißung. Da aber der Sozialismus ein neues, heute noch nicht ausgebildetes Wirtschaftssystem darstellt, wäre es utopisch – das bedeutet in der Sprache des Marxismus: unwissenschaftlich – schon heute zu versuchen, die Gesetze, unter denen Wirtschaft und Gesellschaft dieses Systems stehen werden, ausfindig zu machen. Aufgabe der Wissenschaft kann es nur sein, die Gesetze der gegenwärtigen und der vergangenen Wirtschaftssysteme zu erforschen. Für das gegenwärtige, das kapitalistische Wirtschaftssystem, wollte Marx im »Kapital« diesen Versuch unternehmen. Später hat man dann innerhalb der Epoche des Kapitalismus noch (510) mehrere Unterepochen mit besonderen Wirtschaftssystemen (Frühkapitalismus, Hochkapitalismus, Spätkapitalismus, Uebergangszeit) unterscheiden wollen, und man ging daran, die Oekonomik eines jeden einzelnen dieser Systeme auszubilden.

Von der Unzulänglichkeit der konkreten Bemühungen, die Rosa Luxemburg, Hilferding, Bucharin u. a. diesen Aufgaben gewidmet haben, können wir hier absehen.(99) Die Frage, die uns hier allein beschäftigt, ist die: Wäre eine Theorie, die nur für die Bedingungen einer Geschichtsepoche Geltung hat, noch Theorie in dem Sinne, in dem wir Theorie und Geschichte unterscheiden? Erinnern wir uns an das, was wir oben über den logischen Charakter der Stufengesetze gesagt haben, dann kann die Antwort nicht schwer fallen. Die Zerlegung des gesamten Geschichtsverlaufes in Epochen kann nur idealtypisch vorgenommen werden. Dem Begriffsgebilde der einzelnen Wirtschaftsepoche fehlt daher, da es auf Merkmalen aufgebaut ist, die nicht in jedem ihm zu subsumierenden Einzelfall gegeben sein müssen, von vornherein die Allgemeingültigkeit. Mithin kann auch ein »theoretischer Satz«, der nur im Rahmen der Wirtschaftsepoche gelten soll, gleichfalls nur idealtypisch gedacht sein. Nimmt man etwa als das Kriterium des Kapitalismus das Vorwalten des »kapitalistischen Geistes« an, so behauptet man natürlich nicht, daß dieser, wie immer näher umschriebene Geist mit einem Schlage alle in dieser Zeit lebenden Menschen erfaßt hätte; mit der idealtypischen Konstruktion verträgt sich ganz gut die Vorstellung, daß daneben auch noch anderer »Geist« wirksam gewesen sei; es wird ja nicht behauptet, daß der kapitalistische Geist ausnahmslos geherrscht, sondern nur, daß er vorgewaltet habe. Stellt man dann aber etwa Preisgesetze der kapitalistischen Wirtschaft auf, dann können diese gewiß nicht ausnahmslos gemeint sein; zumindest dort, wo neben dem im übrigen vorwaltenden kapitalistischen Geist noch oder schon anderer Geist zu finden ist, können ganz wohl oder müssen gar wohl andere Preisgesetze gelten. Wer daher nur historisch bedingte Theorie gelten lassen will, der bestreitet in Wahrheit jeder allgemeingültigen Theorie die Berechtigung; was er auf dem Gebiete menschlichen Handelns gelten läßt, ist nur Geschichte mit der ihr eigentümlichen Begriffsarbeit der idealtypischen Konstruktion.

Die Ablehnung der allgemeingültigen Theorie hat aber auch für diese Schule wie für alle anderen Richtungen innerhalb des Historismus nur akademische Bedeutung; sie bleibt in ihrer Wirkung auf das Programm beschränkt. In den Arbeiten selbst wird unbedenklich von, Begriffen und Urteilen Gebrauch gemacht, die nur als allgemeingültige logisch verstanden werden können. Jener besondere »Geist«, der den einzelnen Epochen eigentümlich sein soll, entpuppt sich bei näherem Zusehen als ein die Mehrzahl der Individuen beherrschendes Ideal, die besondere Gestaltung der Wirtschaftsverfassung als eine durch die Besonderheit dieses Ideals und durch die vorwaltenden Auffassungen über den besten Weg zu seiner Verwirklichung gebotene Technik gesellschaftlicher Kooperation.

(511) Man darf nicht einwenden, die Spezies homo sapiens sei nur eine zeitliche Erscheinung und demgemäß könne eine Wissenschaft vom menschlichen Handeln schlechthin von einer Wissenschaft vom menschlichen Handeln innerhalb eines begrenzten geschichtlichen Zeitabschnitts nur dem Grade, nicht auch dem logischen Charakter nach verschieden sein. Man brauchte diesen Gedankengang nur fortzuspinnen, um auch den physikalischen Gesetzen die Allgemeingültigkeit abzusprechen, da sie doch als erfahrungswissenschaftliche nur für den unserer Erfahrung erreichbaren vergänglichen Teil des Gesamtkosmos gelten. Allein dieser Einwand verkennt den Sinn, den man im Bereiche menschlicher Erfahrungswissenschaft dem Begriffe der Allgemeingültigkeit allein beizulegen vermag. Allgemeingültig kann natürlich immer nur bedeuten: überall gültig, wo die vorausgesetzten, streng zu bestimmenden Bedingungen gegeben sind. Nicht darauf, daß wir den Menschen von seinen noch nicht menschlichen Vorfahren empirisch, sondern vielmehr darauf, daß wir menschliches Verhalten von dem bloß reaktiven Verhalten der Zellen begrifflich unterscheiden, baut sich die Objektbestimmung der Wissenschaft vom menschlichen Verhalten auf.

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(93) Vgl. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik usw., § 14 (Insel-Ausgabe, IV. Bd., S. 417).

(94) Vgl. Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 2. Auflage, Tübingen 1913, S. 224; Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, a. a. O., S. 6o.

(95) Vgl. über Kants soziale Grundanschauungen Mises, Die Gemeinwirtschaft, a. a. O., S. 284 f., 421 ff.

(96) Vgl. Rickert , Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, a. a. O., S. 196 f.; ähnlich S. 174. Dem Schlusse, zu dem Rickert schließlich gelangt, daß die Soziologie nie an die Stelle der Geschichte treten dürfe, ist natürlich zuzustimmen.

(97) Vgl. Weyl, Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft (Handbuch der Philosophie), München und Berlin 1927, S. 3. – Wundt hat sich bemüht, seine Untersuchungen auf Grund eingehenderen Studiums der Gesellschaftswissenschaften aufzubauen. (Vgl. Wundt, Logik, 3. Auflage, Stuttgart 1908, III. Bd., S. 458 ff.) Daß er dabei die moderne subjektivistische Nationalökonomie mißverstanden hat, erklären Zeit und Umwelt seines Wirkens; er hat, wie schon erwähnt, auch nicht durch Mengers Methodenbuch auf diesen Mangel aufmerksam gemacht werden können.

(98) Vgl. Menger, Untersuchungen über die Methode der Sozialwissenschaften und der politischen Oekonomie insbesondere, Leipzig 1883, S. 3 ff.

(99) Darüber, daß man zu einer solchen Theorie auf keinem der uns zur Verfügung stehenden Denkverfahren gelangen könnte, vgl. oben S. 9 ff., 24 ff.