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Soziologie und Geschichte (1929)

Einleitung
I. Das methodologische und das logische Problem
II. Der logische Charakter der Geschichtswissenschaft
III. Idealtypus und soziologisches Gesetz
IV. Die Wurzel der Irrtümer über den logischen Charakter der Nationalökonomie

II. Der logische Charakter der Geschichtswissenschaft

(470) Mittlerweile hatte sich, ganz abseits von allem, was mit dem logischen Problemkreis »Soziologie und Geschichte« zusammenhängt, ein außerordentlich wichtiger Fortschritt der Logik der Geisteswissenschaften vollzogen.

Man hatte schon lange die Forderung aufgestellt, die Geschichte müsse dadurch zu einer echten Wissenschaft erhoben werden, daß man endlich damit beginne, sie naturwissenschaftlich, d. h. als Gesetzeswissenschaft zu betreiben.(7) Die einen erklärten dieses Verlangen als unerfüllbar, weil sie keinen Weg sahen, wie man zu historischen Gesetzen gelangen könnte; von der Ueberzeugung durchdrungen, daß nur Gesetzeswissenschaften beanspruchen könnten, den Namen Wissenschaft zu tragen, gaben sie wehmutsvoll zu, daß die Geschichte keine Wissenschaft sei. (Manche wollten sie darum eine Kunst nennen.) Die anderen wieder schrieben sich die Kraft zu, »Gesetze der Weltgeschichte« zu formulieren. Am fruchtbarsten erwies sich darin Kurt Breysig.

Wohlgemerkt: Hier ging es nicht um das Problem einer theoretischen Wissenschaft vom menschlichen Handeln. Was man anstrebte, waren Gesetze der geschichtlichen Entwicklung, waren Gesetze der Geschichte, nicht Gesetze der Soziologie. So lautet z. B. das 31. der Breysigschen Gesetze: »Die Volkswirtschaft muß unter der Kaiser- und ihr gleich entwickelter Volksherrschaft zu einem bis dahin unerhörten Aufschwung im Handel und Gewerbe fortschreiten«.(8)

Gegen die Verwirrung der Begriffe, die dieser Forderung nach einer neuen Geschichtswissenschaft zugrunde lag, traten in Frankreich Bergson und in Deutschland Windelband, Rickert und Max Weber auf. Sie haben das Wesen der Geschichte und der Geschichtsforschung logisch zu bestimmen und die Unübertragbarkeit der Begriffsbildung der Physik auf die Geschichte aufzuzeigen gesucht. Die südwestdeutsche Schule des Neukritizismus hat damit ohne Zweifel eine Leistung vollbracht, die ungeachtet der ihr anhaftenden Mängel höchster Anerkennung wert ist und Grundlage und Ausgangspunkt aller weiteren Untersuchungen über die Logik der Geschichte bilden muß. Doch diese Leistung ist in einem Punkte durchaus unzulänglich: sie kennt das Problem soziologischer Wissenschaft überhaupt nicht und schenkt ihm darum keine Beachtung. Windelband, Rickert und Max Weber haben Naturwissenschaften und Geschichte gekannt; daß es Soziologie als Gesetzeswissenschaft gibt, ist ihnen fremd geblieben.(9)

(471) Diese Behauptung bedarf, besonders soweit sie Max Weber betrifft, einer eingehenderen Begründung. Max Weber war doch Lehrer der Nationalökonomie an zwei Universitäten und an zwei anderen Lehrer der Soziologie. Dennoch war er weder Nationalökonom noch Soziologe, sondern Historiker.(10) Er hat das Lehrgebäude der nationalökonomischen Theorie nicht gekannt. Nationalökonomie und Soziologie waren in seinen Augen historische Wissenschaften. Soziologie ist für ihn so etwas wie eine stärker generalisierende und zusammenfassende Geschichte.

In dieser Feststellung liegt, wie kaum noch hervorgehoben werden muß, kein Versuch, Max Weber und sein Werk irgendwie herabzusetzen. Max Weber war wohl eine der glänzendsten Erscheinungen, die die deutsche Wissenschaft des 20. Jahrhunderts aufzuweisen hat. Er war ein Bahnbrecher und Wegbereiter, und kommende Geschlechter werden genug damit zu tun haben, sich sein Erbe geistig zu eigen zu machen, es zu verarbeiten und auszugestalten. Daß er Historiker und Logiker der Geschichtswissenschaft war und nicht Nationalökonom und Soziolog, soll nicht besagen, daß er irgendwie gegenüber den Aufgaben, die die Zeit gestellt und die er zu bearbeiten übernommen hat, versagt hätte. Sein Gebiet war eben das der Geschichte, und auf diesem hat er sein Teil geleistet. Und endlich: wenn es heute möglich ist, an die logischen Probleme der Soziologie mit besserer Ausrüstung heranzutreten, so ist dies in erster Linie der Arbeit zu danken, die Max Weber den logischen Problemen der Geschichtswissenschaft gewidmet hat.

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(7) Vgl. darüber Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode, 6. Auflage, Leipzig 1908, S. 101 ff.; Rothacker, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Tübingen 1920, S. 195.

(8) Vgl. Breysig, Der Stufenbau und die Gesetze der Weltgeschichte, 2. Auflage, Berlin 1927, S. 165.

(9) Ueber Bemerkungen Rickerts, in denen er die Möglichkeit »einer naturwissenschaftlichen oder generalisierenden Darstellung« der »Schicksale der Kulturmenschheit« zugibt, vgl. weiter unten S. 508.

(10) Jaspers (Max Weber, Oldenburg 1932, S. 43) nennt Weber einen »Universalhistoriker« und fügt bei: »Seine Soziologie ist Universalhistorie«. – Vgl. über Weber als Nationalökonom meine Kritik des Interventionismus, a. a. O., S. 85 ff.