Home Kontakt Sitemap Impressum

Soziologie und Geschichte (1929)

V. Geschichte ohne Soziologie
VI. Allgemeine Geschichte und Soziologie
VII. Soziologische Gesetze und historische Gesetze
VIII. Qualitative und quantitative Analyse in der Nationalökonomie
IX. Die Allgemeingültigkeit soziologischer Erkenntnis

V. Geschichte ohne Soziologie

Man kann Max Weber durchaus zustimmen, wenn er erklärt: »Wo immer die kausale Erklärung einer ‚Kulturerscheinung‘ – eines historischen ‚Individuums‘ … – in Betracht kommt, da kann die Kenntnis von Gesetzen der Verursachung nicht Zweck, sondern nur Mittel der Untersuchung sein. Sie erleichtert und ermöglicht uns die kausale Zurechnung der in ihrer Individualität kulturbedeutsamen Bestandteile der Erscheinungen zu ihren konkreten Ursachen. Soweit, und nur soweit, als sie dies leistet, ist sie für die Erkenntnis individueller Zusammenhänge wertvoll«.(58) Max Weber irrt aber, wenn er hinzufügt: »je ‚allgemeiner‘, d. h. abstrakter die Gesetze, desto weniger leisten sie für die Bedürfnisse der kausalen Zurechnung individueller Erscheinungen und damit indirekt für das Verständnis der Bedeutung der Kulturvorgänge … Für die exakte Naturwissenschaft (490) sind die ‚Gesetze‘ umso wichtiger und wertvoller, je allgemeingültiger sie sind, für die Erkenntnis der historischen Erscheinungen in ihrer konkreten Voraussetzung sind die allgemeinsten Gesetze, weil die inhaltleersten, regelmäßig auch die wertlosesten. Denn je umfassender die Geltung eines Gattungsbegriffes – sein Umfang – ist, desto mehr führt er uns von der Fülle der Wirklichkeit ab, da er ja, um das Gemeinsame möglichst vieler Erscheinungen zu enthalten" möglichst abstrakt, also inhaltsarm sein muß«.(59)

Obgleich Weber in den Ausführungen, auf Grund deren er zu diesen Schlußfolgerungen gelangt, auch von »allen, sog. ‚wirtschaftlichen Gesetzen‘ ohne Ausnahme« spricht, so hat er doch wohl nur die bekannten Versuche, Gesetze der historischen Entwicklung aufzustellen, im Auge haben können. Denkt man an Hegels berühmten Satz: »Die Weltgeschichte … stellt die Entwicklung des Bewußtseins des Geistes von seiner Freiheit und der von solchem Bewußtsein hervorgebrachten Verwirklichung dar« (60) oder an einen der Breysigschen Sätze, dann sind Webers Behauptungen ohne weiteres zu verstehen. Auf die Sätze der Soziologie angewendet, erscheinen sie unbegreiflich.

Wer die Geschichte des letzten Jahrzehnts zu schreiben versuchen wird, kann an dem Reparationsproblem nicht vorbeigehen. Im Mittelpunkte dieses Problems aber steht das Problem des Transfer; sein Wesen ist die Frage, ob durch die Zahlung der Reparationsbeträge und besonders durch ihre Uebertragung ins Ausland die Goldwertstabilität des deutschen Geldes berührt werden kann oder nicht. Man kann diese Frage nicht anders untersuchen als mit den Mitteln der nationalökonomischen Theorie. Jede andere Art, sie zu untersuchen, wäre einfach unsinnig. Wohlgemerkt: nicht nur ein Teil derer, die in dieser Erörterung das Wort ergriffen haben, sondern alle, ausnahmslos alle, greifen immerfort auf allgemeine Sätze nationalökonomischer Theorie zurück. Auch wer von der für die Wissenschaft abgetanen und erledigten Zahlungsbilanztheorie ausgeht, hält an einer Lehre fest, die logisch denselben Charakter der Allgemeingültigkeit trägt wie die von der modernen Wissenschaft als richtig anerkannte Lehre. Ohne Rückgriff auf solche allgemeine Sätze wäre eine Erörterung der Wirkungen, die unter bestimmten Voraussetzungen eintreten müssen, gar nicht zu führen. Ohne solchen Rückgriff wird der Geschichtsschreiber, gleichviel, ob die Zahlungen nach dem Dawesplan wirklich geleistet werden oder ob sie aus irgendeinem, heute noch nicht gegebenen Grunde entfallen werden, zu allen Dingen, die mit dem Transfer: zusammenhängen, nichts sagen können. Gesetzt den Fall, die Zahlungen werden geleistet, und der Goldwert der Mark verändert sich nicht. Ohne Rückgriff auf den Grundsatz der Kaufkraftparitätentheorie könnte man daraus noch nicht folgern, daß die Leistung Deutschlands (491) seine Währung nicht berührt habe. Es könnte ja sein, daß eine andere, gleichzeitig wirkende Kausalkette die Wirkung auf die Währung, deren Eintritt die Zahlungsbilanztheorie erwartet, nicht hat sichtbar werden lassen, und wenn dem so wäre, so würde der Historiker diese zweite Kausalkette entweder gar nicht bemerken oder ihre Wirkung nicht erfassen können.

Ohne Theorie ist Geschichte nicht zu denken. Der naive Glaube, man könnte, durch keine Theorie voreingenommen, unmittelbar aus den Quellen Geschichte gewinnen, ist nicht zu halten. Daß die Aufgabe der Historik nicht im Abbilden der Wirklichkeit, sondern in einem Umbilden und Vereinfachen durch Begriffe besteht, hat Rickert in unwiderlegbarer Weise auseinandergesetzt.(61) Wenn man darauf verzichtet, Theorien über den Kausalzusammenhang der Erscheinungen auszubilden und zu verwenden, dann gelangt man keineswegs zu theoriefreier und darum der Wirklichkeit besser entsprechender Lösung der Aufgaben. Ohne die Kategorie der Kausalität können wir nicht denken; jedes Denken, auch das des Historikers, postuliert das Kausalitätsprinzip. Es kann sich daher nur darum handeln, ob man die durch das wissenschaftliche Denken ausgearbeiteten und kritisch geprüften Kausaldeutungen oder kritiklos volkstümliche vorwissenschaftliche »Sätze« anwenden will. Aus den Tatsachen erschließen sich unmittelbar keine Deutungen. Selbst wenn man kritiklos: post hoc, ergo propter hoc schließen wollte, wäre man angesichts der verwirrenden Fülle und Mannigfaltigkeit der Erscheinungen ratlos. Gerade der »mehrseitige Kausalaufbau« der Prozesse, von dem Muhs spricht,(62) fordert isolierende Theorien.

Geschichtsforscher und Geschichtsschreiber verwenden seit alters her Theorien, die das außerwissenschaftliche Denken mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit geschaffen hat. Man achte doch darauf, wieviel solcher Theorie in dem einfachen Satze steckt: Der besiegte König sah sich genötigt, unter ungünstigen Bedingungen Frieden zu schließen. Daß es sich hier um einfache und kaum bestrittene, ihrem Charakter nach außerwissenschaftliche Theorien handelt, ändert nichts daran, daß es doch Theorie, d. h. allgemeingültig verstandene Aussage, ist. Daneben verwendet die Geschichte Theorien aller anderen Wissenschaften, und es ist selbstverständlich, daß hier der Anspruch berechtigt ist, daß die Theorien, die zur Anwendung gelangen, dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft entsprechen, d. h. unserer Auffassung nach richtige Theorien sind. Der altchinesische Geschichtsschreiber durfte außerordentliche Dürre auf sittliche Verfehlungen des Kaisers zurückführen und berichten, daß nach Entsühnung des Herrschers wieder Regen fiel; der antike Historiker durfte den frühen Tod des Königssohns dem Neid der Götter zuschreiben. Wir werden heute bei dem gegenwärtigen Stande der Meteorologie und der Patho- (492) logie nach anderer Erklärung suchen. Wenn die Quellen uns in noch so bestimmter Weise vom Umgange des Numa Pompilius mit der Camene Egeria berichten würden, wir könnten es nicht glauben und würden achtlos darüber hinweggehen. Der Verkehr der Hexen mit dem Teufel ist selbst gerichtsordnungsmäßig erwiesen worden; wir bestreiten die Möglichkeit solchen Verkehrs, aller Akten ungeachtet, auf Grund unserer Theorien.(63) Der Geschichtsschreiber muß alle übrigen Wissenschaften als Hilfswissenschaften der Geschichte im weiteren Sinne ansehen und sich davon soviel zu eigen machen, als die besonderen Aufgaben, die er sich gesetzt hat, erfordern. Wer die Geschichte des julisch-claudischen Herrscherhauses bearbeitet, wird kaum ohne Vererbungslehre und Psychiatrie auskommen können. Wer eine Geschichte des Brückenbaus schreibt, wird vom Brückenbau, wer eine Geschichte der Kriegskunst schreibt, wird von der Kriegskunst gründliche Kenntnis benötigen.

Die Historiker geben das alles nun wohl zu, soweit alle übrigen Wissenschaften in Frage kommen, bestreiten es aber gerade in. bezug auf die Soziologie. Hier scheint ihnen die Sache anders zu liegen. Ein sachlicher Grund für diese Verschiedenheit der Beurteilung ist nicht aufzufinden. Psychologisch ist der Widerstand der Historiker nicht schwer zu verstehen. Soweit die übrigen Wissenschaften in Frage kommen, handelt es sich entweder darum, daß der Historiker sich ein bescheidenes Maß von Kenntnissen aneignet, das über das Maß dessen, was bei jedem Gebildeten selbstverständlich ist, nicht hinausgeht, oder um die Lostrennung von Sondergebieten historischer Erkenntnis, die mit dem eigentlichen Arbeitsgebiete der Geschichte nur in einem losen Zusammenhang stehen. Um zu wissen, daß noch so arge Verfehlungen des Herrschers das Wetter nicht zu beeinflussen vermögen, braucht man kein Meteorologe zu sein, und auch wer von Deszendenzlehre nur recht wenig versteht, wird die göttliche Abstammung, die die Geschichtsquellen manchen Herrscherhäusern zuschreiben, entsprechend zu würdigen wissen. Die Verselbständigung der Geschichte der Heilkunde und ähnlicher Disziplinen berührt den Aufgabenkreis der Geschichte nur wenig. Die Ansprüche der Soziologie aber empfindet der Historiker, wenn auch nur infolge Verkennung der Grenzen soziologischer und historischer Arbeit, als Strittigmachung seines ureigensten Gebietes.

In allem und jedem, was die Geschichte zu sagen hat, stecken implizite soziologische Theorien. Keine Aussage über die Wirkung politischer Maßnahmen ist denkbar, die auf den Rückgriff auf allgemeingültige Sätze über menschliches Handeln verzichten könnte. Ob nun von der »sozialen Frage«, von merkantilistischer Politik, vom Imperialismus, von Machtpolitik, von Kriegen und Revolutionen die Rede ist, immer wieder begegnen uns in den Ausführungen des Historikers Behauptungen, die Schlußfolgerungen aus allgemeingültigen soziologischen Sätzen sind. Wie Monsieur Jourdain erstaunt war, zu vernehmen, daß das, was er immer gesprochen hatte, Prosa war, so zeigen sich die Historiker überrascht, wenn man ihnen vorhält, daß sie immerfort soziologische Sätze (493) anwenden. Bedauerlicherweise gehören aber mitunter diese Theorien, von denen sie unbedenklich Gebrauch machen, dem vorwissenschaftlichen Denken an; wer die Ergebnisse der modernen Soziologie nicht beachtet, arbeitet darum noch nicht »theoriefrei«; er verwendet die abgetane naive Theorie einer überwundenen Epoche des wissenschaftlichen Denkens oder gar die noch naivere des vorwissenschaftlichen Denkens. Geradezu grotesk wirkt dies in der Wirtschaftsgeschichte. Wirtschaftsgeschichte wurde erst möglich, als die klassische Nationalökonomie dem wirtschaftspolitischen Denken einen wissenschaftlichen Apparat geschaffen hatte; ältere Versuche, z. B. die über Handelsgeschichte, waren nichts als eine Sammlung von Notizen. Nun sucht der Wirtschaftshistoriker sich von der Theorie zu emanzipieren. Er verzichtet darauf, an seine Aufgabe mit dem logischen Rüstzeug der durchgebildeten wissenschaftlichen Lehre heranzutreten, und zieht es vor, sich mit dem bescheidenen Maß von theoretischen Kenntnissen zu begnügen, das heute jedermann durch die Zeitungslektüre und durch das Tagesgespräch zu fliegt. Die Voraussetzungslosigkeit dieser Historiker ist in Wahrheit kritikloses Nachbeten der eklektischen, widerspruchsvollen, logisch unhaltbaren und durch die moderne Wissenschaft hundertmal widerlegten volkstümlichen Irrtümer.(64) So blieb die emsige Arbeit, die ganze Generationen von Forschern geleistet haben, unfruchtbar; gerade auf dem Gebiete der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, das sie als ihre ureigene Domäne in Anspruch genommen hat, hat die historische Schule versagt.

Nun behaupten die Vorkämpfer der theoriefreien Historik freilich, daß der Begriffs- und Theorieapparat dem historischen Material selbst entnommen werden müsse, da es keine allgemeingültigen überzeitlichen Gesetze des menschlichen Handelns gebe. Wir haben schon gesehen, daß die These, es könnte auch irrationales Handeln geben und das rationale Handeln sei überhaupt erst das Ergebnis einer langen historischen Entwicklung, auf einem groben Mißverstehen beruht. Der Historismus geht aber noch weiter; er verwirft die Lehre von der Ueberzeitlichkeit der Vernunft als ein Vorurteil der Aufklärung. Die logische Struktur der menschlichen Vernunft habe sich im Laufe der Zeiten geradeso verändert wie etwa die technischen Kenntnisse und Fertigkeiten.(65) Auf das, was gegen dieses Postulat des Historismus vom Standpunkte der Erkenntnistheorie grundsätzlich zu bemerken ist, wollen wir hier nicht eingehen;(66) der Historismus würde es wohl auch nicht gelten lassen, da er eben das Ausspielen der überzeitlichen Theorie gegen historische Erfahrung ablehnt. Wir müssen uns daher darauf beschränken, was auch der Historismus als immanente Kritik seiner These anerkennen muß. Da aber ist zunächst festzustellen, daß keine der uns erreichbaren Quellen geschichtlicher Kenntnis irgend etwas enthält, was die Annahme der Unveränderlichkeit der Vernunft erschüttern könnte. Niemals ist daher auch der Ver- (494) such gemacht worden, konkrete Behauptungen darüber aufzustellen, worin sich die logische Struktur der Vernunft im Laufe der Zeiten geändert haben könnte. Die Vertreter des Historismus würden in die größte Verlegenheit geraten, wenn man von ihnen verlangen wollte, sie mögen ihre These durch die Aufzeigung eines Beispiels erläutern. Die Ethnologie hat in diesem Punkte nicht weniger versagt als die Geschichte. Wilhelm Jerusalem hat zwar mit großem Nachdruck behauptet: »Kants fester Glaube an eine zeitlose, ganz unveränderliche logische Struktur unserer Vernunft … ist durch die Ergebnisse der modernen Völkerkunde nicht nur nicht bestätigt, sondern geradezu als irrig erwiesen worden«.(67) Doch auch Jerusalem hat in keinem einzigen Punkt den Versuch unternommen, uns zu zeigen, worin die Logik der Primitiven von unserer strukturell verschieden wäre. Die allgemeine Berufung auf die Schriften der Ethnologen reicht da nicht hin. Die Ethnologie zeigt nur, daß die Schlüsse, zu denen das Denken der Primitiven gelangt, andere sind als die, zu denen wir gelangen, und daß der Umfang der Dinge, über die die Primitiven nachzudenken pflegen, von dem Kreis unserer geistigen Interessen verschieden ist. Wenn der Primitive magische und mystische Verknüpfungen annimmt, wo wir Verknüpfungen anderer Art annehmen oder keine Verknüpfung finden, oder wenn er keine Verknüpfung sieht, wo wir sie erkennen, so zeigt das nur, daß der Inhalt seines Denkens von dem unseres Denkens abweicht, nicht aber, daß sein Denken von anderer logischer Struktur wäre. Jerusalem beruft sich zur Stützung seiner Behauptung immer wieder auf die Arbeiten von Lévy-Bruhl. Doch nichts von dem, was Lévy-Bruhl in seinen vortrefflichen Schriften ausführt, besagt etwas anderes als das, daß die Angehörigen der Naturvölker für die Probleme, mit denen sich bei den Kulturvölkern ein enger Kreis geistig hochstehender Menschen befaßt, kein Verständnis haben. »Der Afrikaner« sagt Lévy-Bruhl im Anschluß an Bentley, »denkt nichts bis zu Ende durch, wenn er nicht dazu gezwungen wird … Sie haben niemals die Aehnlichkeit zwischen ihrem eigenen Handel und einem Kontor an der Küste begriffen. Sie denken, daß wenn ein Weißer Stoff braucht, er nur einen Ballen aufzumachen braucht und daß er ihn dann darin findet. Aber woher kommen diese Ballen, warum und wie – daran haben sie niemals gedacht«. Der Naturmensch habe die geistige Gewohnheit, »sich an den ersten Eindruck der Dinge zu halten und nicht zu überlegen, wenn er es irgend vermeiden kann«.(68) Lévy-Bruhl und Bentley scheinen ihren Umgang auf die Angehörigen der Naturvölker beschränkt zu haben; hätten sie sich auch in Europa – und gar erst unter europäischen Volkswirten und Wirtschaftspolitikern – umgesehen, so hätten sie »nichts bis zu Ende durchdenken« und »nicht überlegen« gewiß nicht als Eigentümlichkeiten der Primitiven (495) bezeichnet. Den Mossi am Niger mangelt, wie Lévy-Bruhl nach einem Bericht von Mangin sagt, die Reflexion. Daher fehle es ihnen auch an Ideen. »Ihre Unterhaltungen drehen sich fast ausschließlich um die Frauen, die Nahrung, und in der Regenzeit um die Landwirtschaft«.(69) Hätte man nicht dasselbe auch von den engeren Landsleuten und Zeitgenossen Newtons oder Kants behaupten können? Man muß übrigens feststellen, daß Lévy-Bruhl aus seinen Zusammenstellungen keineswegs die Folgerungen zieht, die Jerusalem aus ihnen ableiten will. Ueber das Kausaldenken der Naturvölker z. B. bemerkt er ausdrücklich zusammenfassend: »Die primitive Mentalität beschäftigt sich, wie die unsere, mit den Ursachen der Geschehnisse. Aber sie sucht sie, nicht in derselben Richtung. Sie lebt in einer Welt, in der unzählige okkulte Mächte überall gegenwärtig und stets handelnd oder handlungsbereit sind«.(70) Auf Grund eindringlicher Untersuchungen gelangt Cassierer zu dem Ergebnis: »Wenn man das empirisch-wissenschaftliche und das mythische Weltbild miteinander vergleicht, so wird alsbald deutlich, daß der Gegensatz zwischen beiden nicht darauf beruht, daß sie in der Betrachtung und Deutung des Wirklichen ganz verschiedene Kategorien verwenden. Nicht die Beschaffenheit, die Qualität dieser Kategorie, sondern ihre M o d a l i t ä t ist es, worin der Mythos und die empirisch-wissenschaftliche Erkenntnis sich unterscheiden. Die Verknüpfungsweisen, die beide gebrauchen, um dem sinnlich Mannigfaltigen die Form der Einheit zu geben, um das Auseinanderfließende zur Gestalt zu zwingen, zeigen eine durchgehende Analogie und Entsprechung. Es sind dieselben allgemeinsten ‚Formen‘ der Anschauung und des Denkens, die die Einheit des Bewußtseins als solche, und die somit ebensowohl die Einheit des mythischen wie die des reinen Erkenntnisbewußtseins konstituieren«.(71)

Der Historismus verkennt, daß auch Sätze von der Art wie: »Die Lehren der klassischen Nationalökonomie hatten für die Zeit, in der sie geschaffen wurden, (relative) Wahrheit« nur ausgesprochen werden können, wenn man sich eine überzeitliche allgemeingültige Theorie zu eigen gemacht hat. Ohne solche Theorie könnte der Historiker nichts anderes als seine Aufgabe ansehen als das Sammeln und Veröffentlichen von Material. So ist es denn kein zufälliges Zusammentreffen, sondern innere Notwendigkeit gewesen, daß das Zeitalter der Herrschaft des Historismus zu einem Niedergang der Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung großen Formats geführt hat. Auf der einen Seite Quellenveröffentlichung, auf der anderen Seite dilettantische Konstruktionen von der Art Chamberlains und Spenglers, das ist, von rühmlichen Ausnahmen abgesehen, das Ergebnis des Historismus für die Historik.

Wenn Geschichte nicht ein sinnloses Unding werden soll, dann muß jede Aussage über einen Kausalzusammenhang, die sie bringt, bis zu Ende gedacht und auf ihre Verträglichkeit mit dem ganzen Bau (496) unserer Erkenntnis geprüft werden. Das aber kann für die Aussagen über das eigentliche Arbeitsgebiet der Geschichte, das menschliche Handeln, nur die soziologische Theorie leisten.

Wenn Max Weber meint, daß für die kausale Erklärung von. Kulturerscheinungen »die Kenntnis von Gesetzen der Verursachung nicht Zweck, sondern nur Mittel der Untersuchung« sein kann, so muß man durchaus zustimmen. Für die Geschichte ist Soziologie eine Hilfswissenschaft, freilich eine unentbehrliche Hilfswissenschaft.(72) In demselben Verhältnis steht die soziologische und besonders die nationalökonomische Theorie zur Politik. Selbstzweck ist jede Wissenschaft nur für den, den nach ihr dürstet.

_________________________________________________________

(58) Vgl. Max Weber, Wissenschaftslehre, a. a. O., S. 178.

(59) Ebendort S. 178 ff.

(60) Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Ausgabe von Lasson, I. Bd. (Philosophische Bibliothek Bd. 171 a), Leipzig 1917, S.148.

(61) Vgl. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 3. Auflage, Tübingen 1915, S. 28 ff. Vgl. ferner Sommer, Zur Methode der exakten und historischen Nationalökonomie (Schmollers Jahrbuch, 52. Jahrgang) S. 647.

(62) Vgl. Muhs, a. a. O., S. 808.

(63) »Historiquement le diable est beaucoup plus solidement prouvé que Pisistrate: nous n’avons pas un seul mot d’un contemporain qui dise avoir vu Pisistrate; des milliers des ‘temoins oculaires’ déclarent avoir vu le diable, il y a peu de faits historiques établis sur un pareil nombre de témoignages indépendants. Pourtant nous n’hésitons plus à rejeter le diable et à admettre Pisistrate. C’est que l’existence du diable serait inconciliab-le avec les lois de toutes les sciences constituées.« (Langlois – Seignobos, Introduction aux Études historiques, 3ème Éd., Paris 1905, S. 177 f.)

(64) Vgl. Bouglé, Qu’est-ce que la Sociologie? 5ème Éd., Paris 1925, S. 54 ff.

(65) Vgl. Mannheim, Historismus (Archiv für Sozialwissenschaft, 52. Bd.) S. 9.

(66) Vgl. Husserl, Logische Untersuchungen, a. a. O., I. Bd., S. 136 ff.

(67) Vgl. Jerusalem, Die soziologische Bedingtheit des Denkens und der Denkformen (Versuche zu einer Soziologie des Wissens, herausgegeben von MAX Scheler), München und Leipzig 1924, S. 183.

(68) Vgl. Lévy-Bruhl, Die geistige Welt des Primitiven, übersetzt von Hamburger, München 1927, S. 12 f.

(69) Ebendort S. 11.

(70) Ebendort S. 343.

(71) Vgl. Cassierer, Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 1925, II. Bd., S. 78.

(72) Umgekehrt ist die Geschichte eine unentbehrliche Hilfswissenschaft der Soziologie.