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Soziologie und Geschichte (1929)

Schluß

So berechtigt und notwendig es war, die naturalistische Forderung zurückzuweisen, die Geschichte müßte, nach naturwissenschaftlicher Methode betrieben, »historische Gesetze« suchen, so verkehrt und unsinnig war der Kampf des Historismus gegen die Gesetzeswissenschaft vom menschlichen Handeln.

Die Geschichte kann ihre Aufgabe nicht erfüllen, wenn sie auf den Gebrauch schärfster Logik verzichtet. Sie muß bei jedem ihrer Schritte mit allgemeingültigen Begriffen und Sätzen arbeiten, sie muß die Vernunft – die ratio – gebrauchen, sie muß – ob sie will oder nicht – theoretisieren. Wenn sie das aber tut und tun muß, dann ist es klar, daß die beste Theorie für sie gerade gut genug ist. Sie darf keinen Begriff und kein Urteil aus dem naiven Bestand der volkstümlichen Denkgewohnheiten übernehmen; sie muß die Begriffe und Sätze zuvor einer scharfen kritischen Prüfung unterziehen. Sie muß jeden Gedanken bis zu Ende denken und immer wieder prüfen und anzweifeln. Sie muß die einzelnen Gedanken zu einem System verbinden. Kurz: sie muß entweder selbst Theorie treiben oder die Theorie dort nehmen, wo sie als wissenschaftliche Theorie mit allen dem menschlichen Geist zugänglichen Mitteln ausgebildet wird.

Daß mit aller Theorie für die Geschichte noch nichts geschehen ist, ist klar. Doch die Geschichte kann mit ihrer eigentlichen Aufgabe erst ansetzen, wenn die Mittel der Theorie ganz erschöpft sind. Dort erst beginnt ihr Reich, das des Individuellen, des Zeitlichen, des geschichtlichen Ganzen. Die Schwelle dieses Reiches kann sie nur überschreiten, wenn sie bis dorthin von der Kraft des rationalen Denkens gebracht wurde.

(512) Das spezifische »Verstehen in den Geisteswissenschaften«, meint Rothacker, schreitet auf den beiden rationalen Wegen des Begreifens und Erklärens so lange weiter, bis schließlich ein Sprung »in eine irrationale Beziehung« den Weg zum geisteswissenschaftlichen Verstehen ebnet. »Wird ein Werk begriffen, so liegt kein Verstehen im strengen Sinne vor. Wird es erklärt, ebenfalls nicht. Wo wir uns aber genötigt sehen, in einem Werk ein nicht restlos im Begriffe auflösbares und nicht restlos erklärbares Individuallebendiges zu suchen, da glauben wir Versuchen des echten Verstehens, des Verstehens im prägnanten Sinn, zu begegnen.« Vorausgegangen aber sind diesem Verstehen »rationale Maßnahmen«, die »restlos ausgenutzt« wurden.(100)

Am Ausgangspunkt des Methodenstreits erklärte Walter Bagehot, der 1876 als erster gegen die Verwerfung der Theorie durch den Historismus Einsprache erhob, eine wirtschaftsgeschichtliche Darstellung sei »no substitute for a preliminary theory. You might as well try to substitute a corollary for the proposition on which it depends. The history of … is the history of a confused conflict of many causes; and unless you know what sort of effect each cause is likely to produce, you cannot explain any part of what happens. It is trying to explain the bursting of a boiler without knowing the theory of steam. Any history … could not be usefully told, unless there was a considerable accumulation of applicable doctrine before existing. You might as well to try to write the ‘life’ of a ship, making as you went along the theory of naval construction. Clumsy dissertations would run over the narrative; and the result would be a perfect puzzle«.(101) Daß der Historismus das vergessen konnte, daß er »theorielos« Material sammeln wollte, hat die Arbeit seiner besten Vertreter unfruchtbar gemacht. Nur mit der geistigen Ausrüstung, die die Theorie des menschlichen Verhaltens liefert, kann Geschichte wirklich Geschichte sein. Nicht um sich ihren eigentlichen Aufgaben zu entfremden, vielmehr um sie erst recht in wahrhaft historischem Sinne zu erfüllen, muß die Geschichte sich auf die Theorie stützen.

Und niemals sollte man das Wort Bagehots vergessen: »Rightly conceived, the Historical method is no rival to the abstract method rightly conceived«.(102)

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(100) Vgl. Rothacker, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften (Handbuch der Philosophie), München und Berlin 1927, S. 123 f.

(101) Vgl. Bagehot, The Postulates of English Political Economy (Works, Edited by Russel Barrington, London 1915, Vol. VII) S. 100-104.

(102) Ebenda 104.