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Soziologie und Geschichte (1929)

Einleitung
I. Das methodologische und das logische Problem
II. Der logische Charakter der Geschichtswissenschaft
III. Idealtypus und soziologisches Gesetz
IV. Die Wurzel der Irrtümer über den logischen Charakter der Nationalökonomie

I. Das methodologische und das logische Problem

(468) Man muß, von dem gewöhnlich eingeschlagenen Verfahren abweichend, zunächst das methodologische von dem logischen Problem sondern.

In der Regel wird unter Methodenlehre die Logik als Lehre von den Methoden des Denkens verstanden. Wir wollen von ihr in dem weniger gebräuchlichen Sinn als Technik des wissenschaftlichen Denkens (Heuristik) sprechen und sie der Wissenschaft der Logik als eine Kunstlehre (ars inveniendi) gegenüberstellen.

Lange Zeit hindurch hat man, in den Bahnen Bacons wandelnd, das induktive Verfahren ganz besonders hoch eingeschätzt. Die Naturwissenschaften, so hörte man besonders auch aus dem Munde von Laien, verdankten ihre Erfolge vor allem der vollständigen Induktion; habe man alle Fälle zusammengetragen, dann sei es erst möglich, das allgemeine Gesetz zu gewinnen. Man ließ sich nicht irremachen durch den Umstand, daß Bacon und die meisten, die seine Lehre vortrugen, selbst keine Erfolge aufzuweisen hatten, und daß gerade die erfolgreichsten Forscher einen anderen Standpunkt eingenommen hatten. Man beachtete nicht, daß z. B. Galilei die gewöhnliche vollständige Induktion in den Naturwissenschaften für überflüssig, die unvollständige für unsicher erklärt hatte, und daß er die Vergleichung der Fälle durch die Analyse eines Falles ersetzte, aus dem er das Gesetz gewann, das dann experimentell zu verifizieren war. Und geradezu grotesk war es, daß man die vollständige Induktion als die spezifische Verfahrensart der Naturwissenschaften pries, ohne zu bemerken, daß sie tatsächlich nicht von den Naturforschern, sondern von den Altertumsforschern gehandhabt wurde, die bei der Spärlichkeit der ihnen zur Verfügung stehenden Quellen grundsätzlich darauf ausgingen, ihre Schlüsse aus einer Durcharbeitung des gesamten zugänglichen Materials zu ziehen.

Nicht auf das Material kommt es an, sondern auf den Geist, der sich mit ihm befaßt. Das Material, an dem sich Galilei, Newton, Hume, Ricardo, Menger, Freud zur höchsten Leistung entzündeten, stand jedem ihrer Zeitgenossen und vorher schon ungezählten Geschlechtern zu Gebote. Galilei war doch nicht der erste, der die schwingende Bewegung des Kronleuchters im Dom zu Pisa beobachten konnte. Wie viele Aerzte mögen wohl vor Breuer an das Bett eines an Hysterie Leidenden getreten sein! Nur die Technik wissenschaftlicher Kärrnerarbeit ist lehrbar und in Handbüchern darstellbar; die Kraft, wissenschaftliche Leistungen zu vollbringen, kann nur in dem geweckt werden, der die geistige Anlage und die Charakterstärke bereits besitzt. (469) Ohne die Grundlagen, die die Beherrschung der wissenschaftlichen Technik und des wissenschaftlichen Schrifttums bieten, kann wohl nichts vollbracht werden; aber das Entscheidende bleibt doch die Persönlichkeit.

Hierüber sind die Meinungen nicht mehr geteilt, Wir haben da nicht länger zu verweilen.

Ganz anders ist es um das logische Problem bestellt. Die Frage nach dem logischen Charakter der Soziologie ist im Verlaufe des Methodenstreits in den Hintergrund getreten, sie ist schließlich ganz fallen gelassen worden. In den ersten Jahren des Methodenstreits war das anders. Da haben gegen die grundsätzliche Ablehnung jeder theoretischen Wissenschaft vom menschlichen Handeln zuerst Walter Bagehot und dann Carl Menger das Wesen und die logische Notwendigkeit theoretischer Sozialwissenschaft auseinandergesetzt. Wie dieser Streit im Deutschen Reiche ausging, ist bekannt. Die Nationalökonomie verschwand von den Kathedern und an ihrer Stelle, mitunter auch unter ihrem Namen, wurden »wirtschaftliche Staatswissenschaften« getrieben, eine enzyklopädische Sammlung von Kenntnissen aus dem Gebiete verschiedener Fächer. Wer sie wissenschaftlich bestimmen wollte, faßte sie als eine bis in die allerjüngste Vergangenheit fortgeführte Geschichte der Staatsverwaltung, der Wirtschaft und der Wirtschaftspolitik auf, aus der man sich, unter Festhalten an den von der Obrigkeit und von den politischen Parteien gegebenen Wertmaßstäben, praktische Regeln für die künftige Wirtschaftspolitik ähnlich abzuleiten mühte, wie die Militärschriftsteller aus der Beschäftigung mit den Feldzügen der Vergangenheit Regeln für kommende Kriege zu finden suchten. Von den als Historiker abgestempelten Gelehrten unterschied sich der Vertreter der wirtschaftlichen Staatswissenschaften im allgemeinen dadurch, daß er sich gewöhnlich mehr mit der jüngsten Vergangenheit und mehr mit den Problemen der inneren Politik, der Finanzen und der Wirtschaftspolitik beschäftigte, daß er weniger darauf bedacht war, seine politische Stellungnahme zu verbergen, und daß er unbedenklicher aus der Vergangenheit Nutzanwendungen auf die Politik der Zukunft zu ziehen pflegte. Der logische Charakter seiner Arbeit wurde ihm kaum jemals zum Problem; geschah es doch, dann beruhigte er sich bald mit der von Schmoller ausgegebenen Parole.

Unruhe brachte erst der Streit um das Werturteil, der im zweiten und dritten Lustrum des 20. Jahrhunderts losbrach. Man begann an der naiven Selbstverständlichkeit, mit der politische Forderungen in Vorlesungen, Lehrbüchern und Monographien als Postulate der Wissenschaft vorgetragen wurden, Anstoß zu nehmen. Eine Gruppe jüngerer Professoren verlangte, daß die Weltanschauung des Lehrers auf den Inhalt seines Lehrvortrags keinen Einfluß nehmen soll, oder daß zumindest der Lehrer, sobald er seine persönlichen Werturteile vorbringt, auf den subjektiven Charakter des Vorgetragenen ausdrücklich hinweise. Die Erörterungen, die sich an diesen Aufruhr knüpften, haben jedoch das Problem der Möglichkeit einer theoretischen Sozialwissenschaft kaum berührt.(6)

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(6) Die Frage, um die es sich im Streit um die Wertfreiheit der Sozialwissenschaften handelte, war schon lange vorher entschieden; sie hatte überhaupt niemals ein Problem gebildet, dessen Lösung irgendwelche Schwierigkeiten hätte bereiten können. Vgl. Cantillon, Abhandlung über die Natur des Handels im allgemeinen, übersetzt von H. Hayek, Jena 1931, S. 56; Ricardo, Notes on Malthus’ »Principles of Political Economy« ed. by Hollander and Gregory, Baltimore 1928, S. 180; J. St. Mill, Logik, a. a. O., III. Bd., S. 367 ff.; Cairnes, Essays in Political Economy Theoretical and Applied, London 1873, S. 256 ff.; Sidgwick, The Principles of Political Economy, Second Edition, London 1887, S. 12 ff.