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1930-1939

Wirtschaftsordnung und politische Verfassung (1936)
Londoner Ausgabe der Schriften von Karl Menger (1936)
Der Weg der österreichischen Finanzpolitik (1935)
Die Österreichische Nationalökonomie (1934)
Das Währungsproblem (1934)

Der Weg der österreichischen Finanzpolitik (1935)

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Quelle: Wirtschaftliche Nachrichten, 18:1, 10. Januar 1935, S.38

 

Rückblick und Ausblick

Nach den stürmischen Kämpfen und Entscheidungen politischer Natur, die das letzte Jahr gebracht hat, sind Ruhe und Frieden eingekehrt. Nun steht die Wirtschafts- und Finanzpolitik wieder im Vordergrunde.

Die finanzpolitischen Aufgaben, vor die sich ein Land gestellt sieht, sind nicht nur durch die augenblickliche politische Lage gegeben; sie sind in einem hohen Grade mitbestimmt durch das Erbe, das von der Vergangenheit übernommen werden mußte.

Das System Renner, das durch die Novemberereignisse des Jahres 1918 zur Herrschaft gelangte, war in seiner Finanzpolitik geradeso destruktionistisch wie in seiner sonstigen Politik. Es wirtschaftete darauf los und beschaffte die Mittel, die es für seine hemmungslose Ausgabenwirtschaft benötigte, einerseits durch rücksichtslose Inanspruchnahme der Notenpresse, anderseits dadurch, daß der Staat auf Kredit Lebensmittel von den Ententemächten bezog, die er an die Bevölkerung verkaufte. Die einfließenden Verkaufserlöse wurden jedoch nicht zur Bezahlung der Lieferungen verwendet, sondern zur Bestreitung laufender Staatsausgaben. Als entscheidenden großen Schlag gegen die auf dem Sondereigentum an den Produktionsmitteln beruhende Gesellschaftsordnung bereitete man eine große Vermögensabgabe vor, die nach den Plänen der führenden sozialistischen Wirtschaftspolitiker zur Vollsozialisierung und zum Bolschewismus überleiten sollte.

Wenn man dieses mit großen Schritten dem Abgrund zustrebende System beseitigen und seiner Zerstörungswut eine aufbauende Politik gegenüberstellen wollte, mußte man damit beginnen, der Hemmungslosigkeit in der Ausgabenwirtschaft Einhalt zu tun. Man mußte die Lebensmittelzuschüsse aufheben, um die Voraussetzung für eine Wiederherstellung des Gleichgewichtes im öffentlichen Haushalt und damit für die Stillegung der Notenpresse zu schaffen. Das war die Politik, für die in erster Linie die Wiener Handelskammer eintrat und die mit Kraft und Entschlossenheit durchgeführt zu haben das unvergängliche Verdienst des Bundeskanzlers Dr. Seipel war.

Man kann es heute kaum noch begreifen, welch erbitterter Widerstand zu überwinden war, ehe es gelingen konnte, diese doch eigentlich selbstverständlichen Maßnahmen ins Werk zu setzen. Die unter unter der Führung der Wiener Kammer für Handel, Gewerbe und Industrie vereinigten Spitzenorganisationen der Wirtschaft bemühten sich im Spätherbst 1921 vergebens, die Unabweislichkeit der Reformen, die sie in ihren am 7. November 1921 beschlossenen „Wirtschafts- und finanzpolitischen Leitsätzen“ vorgeschlagen hatten, den sozialdemokratischen Parlamentariern und Gewerkschaftsführern begreiflich zu machen. Die sozialistischen Führer zogen es vor, in wüster Demagogie gegen die Beseitigung der Lebensmittelzuschüsse anzukämpfen und fanden dabei auch außerhalb der Partei Unterstützung. Dr. Seipels Sanierungswerk wurde auf jedem Schritt durch die Politik der sozialdemokratischen Partei gehemmt. Die Sozialdemokratie hatte zwar nicht die Mehrheit im Nationalrat, doch sie beherrschte das volkreichste und wirtschaftlich kräftigste Bundesland Wien und konnte diese Machtstellung mit allen Künsten ausnützen, die ihr eine auf mißverstandenem Föderalismus beruhende Verfassung zur Verfügung stellte. Nicht weniger wichtig war, daß die Sozialdemokratie auch die Straße beherrschte. Seipel konnte sein Werk im Bunde verrichten, doch die Finanzpolitik des „roten“ Wien, das System Breitner, durfte sich daneben ungehindert austoben. Daß dieser Dualismus verfassungsrechtlich nicht behoben werden konnte, war das Grundübel des Staatswesens. Jahre bevor es zur unvermeidlichen endgültigen Abrechnung kam, lastete die Unabweislichkeit dieser gewaltsamen Lösung wie ein Alpdruck auf der gesamten österreichischen Wirtschaft.

Nun erst, da die destruktionistische Politik der sozialdemokratischen Partei nicht mehr im Wege steht, kann man daran denken, eine Finanzpolitik des Aufbaues und der Befreiung zu führen. Was Seipel begonnen hat, muß nun fortgesetzt werden. Auch dafür ist ein Entwurf durch Zusammenarbeiten der Wirtschaftskreise geschaffen worden. Im Jahre 1930 tagte im Bundeskanzleramt eine Wirtschaftskommission, die aus den Vertretern der in den Kammern für Handel, Gewerbe und Industrie, in den Landwirtschaftskammern und in den Kammern für Arbeiter und Angestellte vertretenen Berufsstände gebildet worden war. Das dreigliedrige Redaktionskomitee dieser Wirtschaftskommission, dem auch der nachmalige Bundeskanzler Dr. Dollfuß, damals noch Direktor der n.-ö. Landwirtschaftskammer, angehörte, hat im Dezember 1930 seinen Bericht veröffentlicht, dessen finanzpolitischer Inhalt auch heute noch Geltung behält.

Regierung und Staat dürfen nicht länger von der Substanz leben. Die Kapitalfortsteuerungs- und Kapitalaufzehrungspolitik der vergangenen Jahre hat den österreichischen Staat vom Auslande abhängig gemacht; er war angewiesen auf ausländische Darlehen, weil er die Mittel, die er bedurfte, im Inlande weder durch Steuern aufzubringen noch durch Darlehen zu beschaffen vermochte. Das erste Ziel unserer Finanzpolitik muß es sein, die politische Unabhängigkeit wirtschaftlich und finanzpolitisch dadurch zu unterbauen, daß der österreichischen Wirtschaft durch pflegliche Behandlung die Möglichkeit geboten wird, soweit wieder zu erstarken, daß sie aus eigener Kraft das aufzubringen vermag, was der Staat benötigt.

Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn man bei der Aufbringung der Mittel genau darauf achtet, daß nicht die produktive Substanz fortgesteuert und aufgezehrt wird, sondern nur die Erträge und Überschüsse zur Besteuerung herangezogen werden, und daß auf der anderen Seite in der Ausgabenwirtschaft des Bundes, der Länder und der Gemeinden die unproduktiven Ausgaben zugunsten der produktiven zurückgedrängt werden.

Das wird sicher nicht ohne radikalen Umbau des ganzen Systems der öffentlichen Verwaltung möglich sein. Unser Verwaltungsapparat beruht im Wesen noch immer auf den Reformen, die Alexander Bach vor 80 Jahren durchgeführt hat. Die gewaltigen Veränderungen politischer, geistiger und materieller Natur, die sich seither vollzogen haben, erfordern neue Einrichtungen. Als Bach die Verwaltung organisierte, waren die Länder, die das heutige Österreich bilden, Teile eines großen Reiches, dessen Politik viel stärker Böhmen und Ungarn zugekehrt war als Steiermark und Tirol. Die Alpenländer waren damals noch kaum von Eisenbahnen durchzogen, ein einziger Schienenstrang führte über die Alpen nach dem Süden; Vorarlberg hatte noch keine Schienenverbindung mit Tirol. Heute sind die österreichischen Alpenländer von den modernsten elektrisch betriebenen Eisenbahnen durchzogen und mit den modernsten Straßen ausgestattet; sie liegen im Mittelpunkt des europäischen Verkehres. Das stellt Probleme, die eine Verwaltungsreform berücksichtigen muß.

Die Aufteilung der Steuerlasten entscheidet über die Konkurrenzfähigkeit der einzelnen Gruppen und Schichten. Daher kann ein gesundes Steuersystem nur aus dem Zusammenwirken der Vertreter aller Stände hervorgehen. Das Verhältnis zwischen Handel, Industrie und Gewerbe wird in jedem einzelnen Produktionszweig weit mehr als durch gewerberechtliche Bestimmungen durch die steuerrechtlichen Verfügungen bestimmt. Gerade die Steuerfragen sind es, die ein enges Zusammenarbeiten der Vertreter des Kredit-, Finanz- und Versicherungswesens, der Industrie, des Gewerbes und des Handels in Einrichtungen, wie sie die Kammern für Handel, Gewerbe und Industrie darstellen, verlangen. Die Feststellung eines Pauschalsatzes oder einer Abfindung in der Warenumsatzsteuer hat für das Verhältnis dieser Gruppen untereinander oft eine viel größere Bedeutung als Maßnahmen, die von der Öffentlichkeit als weit wichtiger angesehen werden. Die Finanz- und Steuerpolitik regelt nicht nur die unmittelbaren Probleme des öffentlichen Haushaltes, sie greift tief in das Gefüge der Wirtschaft und jedes einzelnen Betriebes ein. Das bezeichnet ihre Stellung im modernen Produktionsprozeß und das bestimmt ihre wirtschaftspolitische Bedeutung, die in den verfassungsmäßigen Einrichtungen berücksichtigt werden muß.

Unsere Finanzlage ist heute gewiß noch verbesserungsfähig. Doch es gibt kaum ein Land der Welt, in dem heute von günstiger Finanzlage gesprochen werden kann. Wie großer Sorgfalt unsere Finanzlage auch heute noch bedarf, sie ist weitaus günstiger als sie in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts war, und doch folgte auf jene Zeit tiefster finanzieller Bedrängnis eine Zeit ruhigen wirtschaftlichen Aufschwunges und fortschreitender Erstarkung der öffentlichen Finanzen. Auch wir werden den Weg zu geordneter Wirtschaft und zum Wohlstand wiederfinden.

Finanzpolitik ist von der übrigen Wirtschaftspolitik nicht zu trennen und beide können von der allgemeinen Politik nicht getrennt werden. In einem Gemeinwesen, dessen Politik auf der Wahnidee aufgebaut ist, daß zwischen den Interessen der einzelnen Klassen ein unüberbrückbarer Gegensatz besteht und daß das Wesen der Politik der Klassenkampf sei, fehlt der geistige Boden für gedeihliche Wirtschaftspolitik.

Was unserer Wirtschaftspolitik nottut, ist auf dem am 28. und 29. Jänner 1927 abgehaltenen VII. Kammertag der Kammern für Handel, Gewerbe und Industrie klar ausgesprochen worden, und der am 11. Februar 1930 abgehaltene VIII. Kammertag hat die Ausführungen des vorangegangenen Kammertages vollinhaltlich wiederholt. Auch heute ist diesem Programm kein Wort hinzuzufügen und kein Wort fortzunehmen:

„Die Gestaltung unserer Handelsbilanz läßt die Herabdrückung der Produktionskosten als das wichtigste Problem unserer Volkswirtschaft erscheinen. Es gibt – von den unmittelbar handelspolitischen Maßnahmen abgesehen – keinen verläßlicheren Weg, um wirksam auf dem Inlandmarkt die Fabrikateneinfuhr einzudämmen und den Absatz österreichischer Erzeugnisse im Auslande zu erhöhen.

Von den Produktionskosten unserer Wirtschaft können nicht alle durch Maßnahmen der inländischen Wirtschaftspolitik beeinflußt werden. Für die Rohstoffe und Halbfabrikate, die wir aus dem Auslande zu beziehen haben, müssen wir Weltmarktpreise vergüten. Als kapitalarmes Land müssen wir zur technischen Ausgestaltung unserer Produktion und vielfach auch als Betriebskapital ausländisches Kapital in Anspruch nehmen; die Lage der ausländischen Geld- und Kapitalmärkte, von der die Höhe der von uns zu entrichtenden Zinsen abhängt, ist der Einwirkung Österreichs entzogen. Eine Verbilligung der Produktionskosten ist nur bei den Löhnen oder bei den Steuern möglich. Gelingt es nicht, die Steuern und sozialen Lasten, die die Produktion zu tragen hat, herabzudrücken, denn werden notwendigerweise die Löhne sinken oder die Arbeitslosigkeit wachsen müssen.

Die Ermäßigung der steuerlichen Belastung unserer Produktion ist somit im Interesse aller Schichten der Bevölkerung, nicht nur in dem der Unternehmer, sondern besonders auch in dem der Arbeiterschaft gelegen.

Die Herabsetzung der Steuern kann nur erfolgen, wenn im öffentlichen Haushalte die größte Sparsamkeit Platz greift. In der Hoheitsverwaltung müssen Vereinfachungen durchgeführt werden und die öffentlichen Betriebe müssen durch zweckentsprechende Maßnahmen aktiv gestaltet werden. Unter diesen Voraussetzungen wird es möglich werden, eine Reihe von bestehenden Steuern zu ermäßigen oder ganz zu beseitigen und damit in wirksamer Weise dem Aufbau unserer Wirtschaft zu dienen.“