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Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen (1920)

V. Die jüngste sozialistische Doktrin und das Problem der Wirtschaftsrechnung
Schluß

V. Die jüngste sozialistische Doktrin und das Problem der Wirtschaftsrechnung

V. Seit die jüngsten Ereignisse in Rußland, Ungarn, Deutschland und Oesterreich sozialistischen Parteien zur Macht verholfen und damit die Durchführung des sozialistischen Vergesellschaftungsprogramms in unmittelbare Nähe gerückt haben, haben auch die marxistischen Schriftsteller angefangen, sich mit den Problemen der Einrichtung des sozialistischen Gemeinwesens näher zu befassen. Aber auch jetzt weichen sie den Kernfragen noch immer behutsam aus, es den verachteten »Utopisten« überlassend, sich mit ihnen zu beschäftigen. Sie selbst ziehen es vor, sich auf das zu beschränken, was zunächst zu tun ist; sie bringen immer nur Programme über den Weg zum Sozialismus, nicht über den Sozialismus selbst. Nur das eine können wir aus allen diesen Schriften ersehen, daß ihnen das große Problem der Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Staat in keiner Weise zum Bewußtsein gekommen ist.

Als letzter und entscheidender Schritt zur Durchführung des sozialistischen Vergesellschaftungsprogrammes erscheint Otto Bauer die Vergesellschaftung der Banken. Sind alle Banken vergesellschaftet und zu einer einzigen Zentralbank verschmolzen, dann wird ihr Verwaltungsrat »zur obersten wirtschaftlichen Behörde, zum höchsten leitenden Organ der ganzen Volkswirtschaft. Erst durch die Vergesellschaftung der Banken gewinnt die Gesellschaft die Macht, ihre Arbeit planmäßig zu leiten, planmäßig auf die einzelnen Zweige der Produktion zu verteilen, planmäßig dem Bedarf des Volkes anzupassen«.(15) Von der Geldordnung, die im sozialistischen Gemeinwesen nach Durchführung der Vergesellschaftung der Banken herrschen soll, ist bei Bauer nicht die Rede. Gleich anderen Marxisten sucht er zu zeigen, wie einfach und selbstverständlich sich die künftige sozialistische Gesellschaftsordnung aus den Verhältnissen des entwickelten Kapitalismus heraus entfaltet. »Es genügt, die Macht, die heute die Aktionäre der Banken durch die von ihnen gewählten Verwaltungsräte ausüben, den Vertretern der Volksgesamtheit zu übertragen«,(16) um die Banken zu so- (115) zialisieren und damit den Schlußstein zum Gebäude des Sozialismus zu setzen. Bauer läßt seine Leser dabei völlig im Unklaren darüber, daß das Wesen der Banken sich durch die Vergesellschaftung und Verschmelzung zu einer einzigen Zentralbank vollständig verändert. Sind einmal alle Banken in einer einzigen Bank aufgegangen, dann ist ihr Wesen ganz umgestaltet; sie sind dann in der Lage, ohne jede Beschränkung Umlaufsmittel auszugeben. Damit wird die Geldordnung, wie wir sie heute haben, von selbst beseitigt.(17) Wenn aber überdies die einzige Zentralbank auch in einem auch schon sonst völlig sozialistischen Gemeinwesen vergesellschaftet wird, dann wird der Marktverkehr beseitigt und jeder Tauschverkehr aufgehoben. Dann hört die Bank auf, Bank zu sein, ihre spezifischen Funktionen erlöschen, weil für sie in einer solchen Gesellschaft überhaupt kein Platz mehr ist. Es mag sein, daß der Name Bank beibehalten wird, daß die oberste Wirtschaftsleitung des sozialistischen Gemeinwesens Bankdirektion genannt wird und daß sie ihren Sitz in einem Gebäude aufschlägt, das früher von einer Bank eingenommen wurde. Aber eine Bank ist sie dann nicht mehr, sie erfüllt keine jener Funktionen, die die Banken, in der auf dem Sondereigentum an den Produktionsmitteln und dem Gebrauch eines allgemeinen Tauschvermittlers, des Geldes, beruhenden Wirtschaftsordnung erfüllen. Sie erteilt keine Kredite mehr, weil es im sozialistischen Gemeinwesen begreiflich keine Kredite geben kann. Bauer selbst sagt nicht, was eine Bank sei, aber er leitet in seiner Schrift das Kapitel über die Vergesellschaftung der Banken mit den Sätzen ein: »Alle verfügbaren Kapitalien …. fließen bei den Banken zusammen«.(18) Müßte er sich nicht als Marxist die Frage vorlegen, was denn die Tätigkeit der Banken nach Aufhebung des Kapitalverhältnisses sein wird?

Aehnlicher Unklarheit machen sich auch alle anderen Schriftsteller schuldig, die sich mit den Problemen der Einrichtung des sozialistischen Gemeinwesens befassen. Sie sehen nicht, daß durch Ausschaltung des Austausches und der Preisbildung des Marktes die Grundlagen der Wirtschaftsrechnung beseitigt werden und daß man an ihre Stelle etwas anderes setzen müßte, (116) wenn nicht alle Wirtschaft aufgehoben werden und ein völliges Chaos eintreten soll. Man glaubt, daß die sozialistischen Institutionen sich ohne weiteres aus denen der privatkapitalistischen Wirtschaft herausbilden könnten. Das trifft in keinem Falle zu. Geradezu grotesk aber wird dies, wenn man von Banken, einer Bankleitung u. dgl. im sozialistischen Gemeinwesen spricht.

Der Hinweis auf die Verhältnisse, die sich in Großrußland und Ungarn unter der Herrschaft der Sowjets herausgebildet haben, besagt gar nichts. Was wir dort sehen, ist nichts anderes als das Bild der Vernichtung einer bestehenden Ordnung der gesellschaftlichen Produktion, an deren Stelle die geschlossene bäuerliche Hauswirtschaft tritt. Alle auf der gesellschaftlichen Arbeitsteilung beruhenden Produktionszweige befinden sich in voller Auflösung. Was unter der Herrschaft von Lenin und Trotzki vorgeht, ist nichts als Zerstörung und Vernichtung. Ob Sozialismus notwendigerweise diese Folgen nach sich ziehen muß, wie die Liberalen meinen, oder ob dies nur eine Folge des Umstandes ist, daß die Sowjetrepublik vom Auslande bekämpft wird, wie die Sozialisten behaupten, ist eine Frage, die uns hier nicht interessiert. Festzustellen ist nur, daß das sozialistische Gemeinwesen der Räteherrschaft das Problem der Wirtschaftsrechnung gar nicht berührt hat und auch keine Veranlassung hatte, es zu berühren. Denn dort, wo im Sowjetrußland trotz aller Verbote der Regierung noch überhaupt für den Markt produziert wird, wird auch in Geld gerechnet, weil soweit noch Sondereigentum an den Produktionsmitteln besteht und Waren gegen Geld verkauft werden. Auch die Regierung kann sich dem nicht entziehen, ja sie bestätigt dadurch, daß sie selbst die Menge des umlaufenden Geldes vermehrt, die Notwendigkeit, die Geldordnung wenigstens für die Zeit des Ueberganges festzuhalten.

Daß das Wesen des Problems, um das es sich handelt, im Sowjetstaat noch nicht sichtbar zutage getreten ist, zeigen am besten die Darlegungen Lenins in seiner Schrift über »Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht«. In den Ausführungen des Diktators kehrt der Gedanke immer wieder, daß die nächste und dringendste Aufgabe des russischen Kommunismus »die Organisation der Rechnungslegung und der Kontrolle in den Betrieben, in denen bereits die Kapitalisten expropriiert sind, und in allen (117) übrigen Wirtschaftsbetrieben« sei.(19) Doch Lenin ist weit davon entfernt, zu erkennen, daß es sich hier um ein ganz neues Problem handelt, das man nicht mit den geistigen Mitteln der »bürgerlichen« Kultur zu lösen vermag. Als echter Realpolitiker denkt er nicht über die Aufgaben des nächsten Tages hinaus. Er sieht um sich herum noch immer den Geldverkehr und merkt nicht, daß mit dem Fortschreiten der Sozialisierung auch das Geld seine Stellung als allgemein gebräuchliches Tauschmittel so weit verlieren muß, als das Sondereigentum und mit ihm der Tausch verschwindet. Die »bürgerliche« Buchführung, die in Geld rechnet, will Lenin in die Sowjetbetriebe wieder einführen, das ist der Sinn seiner Ausführungen. Darum will er ja auch die »bürgerlichen Fachleute« wieder in Gnaden aufnehmen.(20) Im übrigen bemerkt Lenin ebensowenig wie Bauer, daß im sozialistischen Gemeinwesen die Funktion der Banken in ihrem gegenwärtigen Sinn nicht denkbar ist. Er will »die Verstaatlichung der Banken« weiter fortsetzen und »zur Verwandlung der Banken in Knotenpunkte der gesellschaftlichen Buchhaltung unter dem Sozialismus« schreiten.(21)

Ueberhaupt sind die Vorstellungen Lenins von der Wirtschaft des Sozialismus, der er sein Volk zuzuführen bestrebt ist, recht unklar. »Der sozialistische Staat«, meint er, »kann nur entstehen als ein Netz von produktiv-konsumierenden Kommunen, die gewissenhaft ihre Produktion und ihren Konsum buchen, mit der Arbeit ökonomisch umgehen, die Produktivität der Arbeit unentwegt steigern und dadurch die Möglichkeit erzielen, den Arbeitstag bis auf sieben, bis auf sechs Stunden und auf noch weniger herabzusetzen«.(22) »Jede Fabrik, jedes Dorf erscheint als eine produktiv-konsumierende Kommune, die das Recht und die Verpflichtung hat, auf ihre Art die allgemeinen Sowjetgesetzbestimmungen anzuwenden (,auf ihre Art‘, nicht im Sinne ihrer Verletzung, sondern im Sinne der Verschiedenheit ihrer Durchführungsformen im Leben) und auf ihre Art das Problem der Berechnung der Produktion und der Verteilung der Erzeug- (118) nisse zu lösen.(23) »Die Musterkommunen müssen und werden den zurückgebliebenen Kommunen als Erzieher, Lehrer und Antreiber dienen.« Man wird die Erfolge der Musterkommunen in allen Einzelheiten bekanntmachen, damit das gute Beispiel wirke. Die Kommunen, die gute »Geschäftsergebnisse der Wirtschaft« aufweisen, werde man »durch Verkürzung einer bestimmten Zeit des Arbeitstages, durch Erhöhung des Verdienstes, durch Ueberlassung einer größeren Quantität an kulturellen und ästhetischen Gütern und Werten usw.« unverzüglich belohnen.(24)

Man ersieht daraus, daß Lenins Ideal ein Gesellschaftszustand ist, in dem die Produktionsmittel Eigentum des ganzen Gemeinwesens, nicht das Eigentum einzelner Bezirke, Gemeinden oder gar der Arbeiter des Betriebes sind. Sein Ideal ist sozialistisch, nicht syndikalistisch. Das brauchte bei einem Marxisten, wie es Lenin ist, nicht erst besonders hervorgehoben zu werden. Auffällig ist es nicht beim Theoretiker Lenin, sondern beim Staatsmann Lenin, dem Führer der syndikalistischen und kleinbäuerlichen russischen Revolution. Doch wir haben es augenblicklich nur mit dem Schriftsteller zu tun und können sein Ideal für sich betrachten, ohne uns durch das Bild der Wirklichkeit stören zu lassen. jeder einzelne agrarische oder industrielle Großbetrieb bildet demnach ein Glied der großen Arbeitsgemeinschaft. Die darin Tätigen besitzen das Recht der Selbstverwaltung; sie haben einen weitgehenden Einfluß bei der Einrichtung der Produktion und dann wieder bei der Verteilung der ihnen zum Konsum zugewiesenen Güter. Doch die Arbeitsmittel sind Eigentum der ganzen Gesellschaft, und daher fällt auch das Produkt der Gesellschaft zu, damit sie über seine Verteilung verfüge. Wie nun, muß man jetzt fragen, wird in dem so organisierten sozialistischen Gemeinwesen in der Wirtschaft gerechnet werden? Darauf. gibt Lenin nur eine ganz unzulängliche Antwort, indem er auf die Statistik verweist. Man müsse die Statistik »in die Masse tragen, sie volkstümlich machen, damit die Werktätigen allmählich selbst lernen würden, zu verstehen und zu sehen, wie und wieviel man arbeiten muß, wie und wieviel man sich erholen kann, – damit der Vergleich der Geschäftsergebnisse der Wirtschaft von einzelnen Kommunen (119) zum Gegenstand des allgemeinen Interesses und der Erlernung würde«.(25) Man kann aus diesen kargen Andeutungen nicht entnehmen, was sich Lenin hier unter Statistik vorstellt, ob er an Geldrechnung oder Naturalrechnung denkt. In jedem Fall müssen wir auf das verweisen, das oben über die Unmöglichkeit, in einem sozialistischen Gemeinwesen Geldpreise der Produktionsgüter zu erkennen, und über die Schwierigkeiten, die der Naturalrechnung entgegenstehen, gesagt wurde.(26) Für die Wirtschaftsrechnung wäre die Statistik nur dann verwendbar, wenn sie über die Naturalrechnung, deren geringe Eignung für diese Zwecke wir nachgewiesen haben, hinausführen könnte. Das ist natürlich dort, wo kein Austauschverhältnis der Güter im Verkehr gebildet wird, nicht möglich.

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(15) Vgl. Bauer a. a. O. S. 26 f.

(16) Ebendort S. 25.

(17) Vgl. Mises a. a. O. S. 474 ff.

(18) Vgl. Bauer a. a. O. S. 24.

(19) Vgl. Lenin , Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht. Berlin 1918, S. 12 f., 22 ff.

(20) Ebendort S. 15.

(21) Ebendort S. 21 und 26. Vgl. auch Bucharin, Das Programm der Kommunisten (Bolschewiki). Zürich 1918, S. 27 ff.

(22) Vgl. Lenin a. a. O. S. 24 f.

(23) Ebendort S. 32.

(24) Ebendort S. 33.

(25) Ebendort S. 33.

(26) Auch
Neurath (vgl. a. a. O. S. 212 f.) legt der Statistik große
Bedeutung für die Aufstellung des sozialistischen Wirtschaftsplanes bei.