Politischer Liberalismus (1959)

Quelle: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 6 (1959) S. 591-596 und S. 596-603

Friedrich August von Hayek zeichnete für den Abschnitt "Politischer Liberalismus" (S. 591-596), Ludwig von Mises für "Wirtschaftlicher Liberalismus" (S. 596-603) verantwortlich.

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Gliederung:

1. Die liberale Tradition der Whigs
2. Der rationalistische Liberalismus der französischen Revolution
3. Der politische Liberalismus in Deutschland
4. Verfall und Neubelebung
Literatur zum Artikel "Politischer Liberalismus"

1. Die liberale Tradition der Whigs
2. Der rationalistische Liberalismus der französischen Revolution
3. Der politische Liberalismus in Deutschland
4. Verfall und Neubelebung
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1. Die liberale Tradition der Whigs

[S.591] Obwohl die gedanklichen Wurzeln des politischen Liberalismus in das klassische Altertum zurückgehen und seine Ideale mit der Renaissance in Italien wieder auftauchen, kann der Beginn seiner kontinuierlichen Entwicklung doch kaum früher als im England des 17. Jh. angesetzt werden. Dort und in Holland hat die geistige Einstellung, die sich schon in den Schriften von Männern wie Erasmus und Montaigne offenbarte, zuerst ihren Ausdruck in politischen Bewegungen gefunden; und obwohl in mancher Beziehung vielleicht zeitlich die Entwicklung in Holland vorausgegangen ist, so waren doch die Geschehnisse und Diskussionen in England von so viel weitgreifenderer Wirkung (und ist auch der Einfluß der Entwicklung in den Niederlanden noch zu ungeklärt), als daß nicht die politischen Kämpfe in England zwischen 1603 und 1688 als die eigentliche Quelle der modernen liberalen Staatsidee angesehen werden müßten. Es war dann die Partei der erfolgreichen "glorreichen Revolution" von 1688, die Whigs, die bis zur französischen Revolution der Träger dieser Ideale blieb, die in den Werken John Lockes ihren klassischen Ausdruck fanden, theoretisch von den schottischen Sozialphilosophen von David Hume bis Dugald Stewart ausgearbeitet wurden und dann schließlich durch deren Schüler vor allem in der »Edinburgh Review« weite Verbreitung erhielten.
Der Komplex von Idealen, der diese Überlieferung kennzeichnete, läßt sich am ehesten unter den drei eng zusammenhängenden Grundsätzen der "Meinungsfreiheit", der "Herrschaft des Gesetzes" und des "Sondereigentums" und der damit zusammenhängenden Wettbewerbswirtschaft zusammenfassen.
Von diesen drei Prinzipien ist in mehr als einer Hinsicht das der Meinungsfreiheit das wichtigste. Sowohl die Überzeugung, daß nur die freie Diskussion zur schrittweisen Überwindung des Irrtums führe und auch das, was der großen Mehrheit (oder selbst den "Sachverständigen") heute als zweifelloser Irrtum erscheine, den Keim künftiger neuer Erkenntnis in sich tragen könne, wie auch die damit verbundene Einsicht in die Macht der Ideen als der entscheidenden die Gesellschaft formenden Kraft sind wohl die charakteristischsten und weitesttragenden Elemente der liberalen Tradition. Beginnend mit dem Kampf um die Religions- und Gewissensfreiheit (mit Roger Williams in den amerikanischen Kolonien als ihrem wichtigsten frühen Vorkämpfer), hat der allgemeine Grundsatz sich nach und nach als Pressefreiheit, Rede- und Versammlungsfreiheit und als akademische Lehrfreiheit durchgesetzt. Von den klassischen Formulierungen John Miltons im 17. Jh. bis zu der wenig bekannten, aber sachlich wohl befriedigendsten Zusammenfassung des liberalen Arguments durch Samuel Bailey und später durch John Stuart Mill und Walter Bagehot gab es auf diesem Gebiet in England eine kontinuierliche Entwicklung, die das kontinentale Europa erst in den explosiven Ausbrüchen der Revolutionen von 1789 und 1848 nachholte. Ihre wichtigste Folge ist die in Ländern mit alter liberaler Tradition tief ver- [S.592] wurzelte Überzeugung, daß jeder Änderung der gesellschaftlichen Ordnung eine Änderung der herrschenden Ansichten vorausgehen und daher jede erfolgversprechende Reformbewegung auf lange Frist angelegt sein müsse, und vor allem, daß es unter praktisch jeder Regierungsform in letzter Linie die öffentliche Meinung sei, die die Politik bestimmt.

Kaum weniger grundlegend als dieses erste Prinzip und eng mit ihm verbunden ist das der Herrschaft des Gesetzes oder des "Rechtsstaates". Das Wesentliche sind hier strenge Bindung aller Gewaltausübung und feste, jede Willkür ausschließende Regeln – Regeln, die sowohl in gleicher Weise auf alle Mitglieder der Gesellschaft Anwendung finden als auch im Einzelfall die Regierungen nicht weniger binden als die Regierten. Das Ziel des Grundsatzes ist die Beseitigung aller von der Rechtsordnung geschaffenen Privilegien, d. h. die formelle Gleichheit vor dem Gesetz, und zugleich, wie das schon John L o c k e mit aller Deutlichkeit ausdrückte, die allgemeine Verminderung der Macht, die Menschen über Menschen ausüben. Zugrunde liegt ihm der Wunsch, den Bereich der Entscheidungsfreiheit des Individuums so sehr wie möglich zu erweitern, die Eingriffe der Staatsgewalt durch die Bindung an feste Regeln so weit wie möglich voraussehbar zu machen und zugleich auf solche Fälle zu beschränken, in denen sie nicht bestimmt sind, bekannte Personen zu begünstigen, sondern für alle günstigere Gelegenheiten zu bieten, es jedoch dem einzelnen zu überlassen, welchen Gebrauch er davon macht. Nicht immer wird erkannt, daß dieses zunächst rein formelle Prinzip tatsächlich eine sehr weitgehende materielle Beschränkung des Umfanges der zulässigen Staatstätigkeit in sich schließt: Wenn der Staat verschiedene Menschen trotz verschiedener Veranlagung und Position gleich behandeln muß, muß das Ergebnis ungleich sein; und um z. B. in ihren Fähigkeiten ungleichen Personen die gleichen Chancen zu sichern, müßte er sie ungleich behandeln. Gerade das aber schließt der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz aus.

Das dritte Grundelement ist zum Teil eine Folge und zugleich eine Voraussetzung der vorigen: die Anerkennung des Sondereigentums, insbesondere auch an den Produktionsmitteln, und damit der Selbstverantwortlichkeit des einzelnen für ihre Verwendung und für die Vorsorge für den eigenen Lebensunterhalt. "Life, Liberty, and Property" war die klassische Formel der freiheitlichen Engländer des 17. und 18. Jh., und sogar die in sozialer Hinsicht radikalste Gruppe des englischen Bürgerkriegs, die (oft zu Unrecht als Vorläufer des Sozialismus angesehenen) "Levellers", machten die Unverletzlichkeit des Privateigentums zu einem ihrer zentralen Programmpunkte. Tatsächlich hängt die Eigentums- und Vertragsfreiheit auf das innigste mit der Herrschaft des Gesetzes zusammen: die eine ist ohne die andere nicht möglich. Bewußt wurde die Forderung nach Wirtschaftsfreiheit aber eigentlich erst erhoben, nachdem ihre weitgehende tatsächliche Verwirklichung ihre Vorteile gezeigt hatte. Der Kampf gegen Privilegien und um die Einschränkung der Macht des Königs war zunächst im Interesse der Gleichberechtigung der Staatsbürger geführt worden; und es war eine Folge davon, daß der Einfluß der Verwaltung auf die Wirtschaft auf ein Minimum herabgesetzt wurde. Adam Smith hatte im Grunde nur noch für die Ausdehnung eines im Inland weitgehend geltenden und erfolgreichen Prinzips auf den Außenhandel zu plädieren und dazu zu zeigen, warum sich die wirtschaftliche Freiheit als so erfolgreich erwiesen hatte.
Es ist wichtig zu beachten, daß sich die Lehren dieses älteren Liberalismus im wesentlichen nur auf den Gegenstand der Staatstätigkeit, nicht aber auf die Regierungsform erstreckten. Aus seiner allgemeinen Abneigung gegen jede Gewaltanwendung im Inneren wie in den äußeren Beziehungen der Staaten folgte wohl, daß der ältere Liberalismus in der Frage, wer die Regierungsgewalt ausüben sollte, der einzigen bekannten Methode einer friedlichen Entscheidung zuneigen mußte, der der Majoritätsentscheidung: "Lieber die Köpfe zählen, als sie einschlagen." Aber im Grunde lag ihm mehr daran, die Wichtigkeit der politischen Entscheidungen zu verringern, als daran, wer sie ausübte.

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