Wirtschaftlicher Liberalismus (1959)

Quelle: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 6 (1959) 591-96 und 596-603

Friedrich August von Hayek zeichnete für den Abschnitt "Politischer Liberalismus" (S. 591-596), Ludwig von Mises für "Wirtschaftlicher Liberalismus" (S. 596-603) verantwortlich.

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 Gliederung:

 1. Liberalismus und Nationalökonomie
 2. Aufstieg und Niedergang des Liberalismus
 3. Liberalismus und Sonderinteressen
 4. Vorrang des Verbrauches und Freiheit des Marktes
 5. Liberalismus und Außenhandel
 6. Bestrebungen zur Erneuerung des Liberalismus
 Literatur zum Artikel "Wirtschaftlicher Liberalismus"

1. Liberalismus und Nationalökonomie
2. Aufstieg und Niedergang des Liberalismus
3. Liberalismus und Sonderinteressen
4. Vorrang des Verbrauches und Freiheit des Marktes
5. Liberalismus und Außenhandel

1. Liberalismus und Nationalökonomie

(596) Die übliche Unterscheidung zwischen politischem [–->Liberalismus (I)]
und wirtschaftlichem Liberalismus verkennt – wenn sie mehr sein will
als eine formale Gliederung der empirischen Sachverhalte – das Wesen
des Liberalismus. Sie entspringt dem Gedanken, daß es einen scharf
umgrenzten Bezirk des Politischen gebe, in dem der Ablauf der Dinge
nicht berührt wird von dem, was im Umkreis des Wirtschaftlichen vor
sich geht. Die Abschaffung der wirtschaftlichen Freiheit werde daher
alle anderen Freiheiten unberührt lassen, ja, erst die Voraussetzungen
für ihre Verwirklichung schaffen. In diesem Sinne nennen sich heute in
den Vereinigten Staaten von Amerika Marxisten, Sozialisten und
Kommunisten liberal.

Das Grundprinzip des Liberalismus ist die Marktwirtschaft, d. h.
die auf dem Sondereigentum an den Produktionsmitteln beruhende
arbeitsteilige Wirtschaft. In dieser Wirtschaftsverfassung entscheidet
letzten Endes das Kaufen oder Nichtkaufen von seiten der Verbraucher
über Menge und Beschaffenheit der zu erzeugenden Waren. Die
Notwendigkeit, Gewinne zu erzielen und Verluste zu meiden, zwingt die
Unternehmer und die Eigentümer der Produktionsmittel, nach
bestmöglicher und billigster Versorgung der Verbraucher zu streben. In
ihrer Eigenschaft als Erzeuger und Verkäufer sind alle Glieder der
Gesellschaft von den Käufern und Verbrauchern abhängig. Der Markt ist
ein Austausch produktiver Dienste. Er ist auch als eine Demokratie
bezeichnet worden, in der jeder Pfennig einen Stimmzettel bedeutet und (597) die Gewählten sich täglich zur Neuwahl stellen müssen.

In dieser Gesellschaftsordnung fällt dem Staate die Aufgabe zu, das
ungestörte Wirken des Marktes zu sichern durch Verhütung und Abwehr
gewaltsamer oder heimtückischer Anschläge gegen Leben, Gesundheit,
Freiheit oder Eigentum der einzelnen. Diese Umschreibung der
Staatsaufgaben – Rechtsschutz im Innern und Verteidigung gegen Angriffe
von außen entspringt nicht einem besonderen Prinzip, etwa einem gegen
den Staat gerichteten "Haß". Indem der Liberalismus die Marktwirtschaft
will, lehnt er logischerweise andere Wirtschaftssysteme – Sozialismus
und Interventionismus – und damit alles ab, was diese anderen Systeme
dem Staate an besonderen Aufgaben zuweisen. Der Staat – der
gesellschaftliche Zwangs- und Unterdrückungsapparat – ist in den Augen
des Liberalismus weder ein Gott noch ein Übel, sondern eine
unentbehrliche gesellschaftliche Einrichtung.

Der Liberalismus ist ein Erzeugnis der Nationalökonomie. Er
entspringt der Erkenntnis, die das Wesen der nationalökonomischen Lehre
von den Markterscheinungen ausmacht, daß nämlich der einzelne in
Verfolgung seiner richtig verstandenen Interessen notwendigerweise der
Wohlfahrt der Mitmenschen dient. Während alle älteren Lehren Entstehung
und Bestand gesellschaftlicher Bindungen auf göttliche Einsetzung oder
auf das Wirken charismatischer Zwingherren zurückzuführen suchten,
erblickt der Nationalökonom in der höheren Ergiebigkeit arbeitsteilig
verrichteter Arbeit das Prinzip, das die Gesellschaft aufbaut und
erhält. Im nichtmenschlichen Kreis der natürlichen Dinge sind für jedes
Lebewesen alle übrigen Individuen, besonders auch die seiner eigenen
Gattung, Mitbewerber um einen Anteil an knapp bemessenen
Unterhaltsvorräten. Da herrscht unversöhnlicher Interessengegensatz
zwischen dem Wesen, das überlebt, und dem, das stirbt, weil ein anderes
ihm das Futter weggeschnappt hat. Da gilt der Satz Montaignes, der
Grundgedanke aller vorliberalen und antiliberalen Politik, insbesondere
auch des Merkantilismus: Die Quelle, aus der der Gewinn eines
Individuums stammt, ist der Verlust eines andern. Dieser biologisch
bedingte Krieg aller gegen alle wird nicht etwa durch den Abschluß
eines Gesellschaftsvertrages beendet, sondern durch die Erkenntnis der
höheren Ergiebigkeit arbeitsteilig verrichteter Arbeit, die allein das
Vertragen ermöglicht. In der gesellschaftlichen Arbeitsteilung wird der
unversöhnliche biologische Konflikt des Kampfes aller gegen alle
überwunden und in den gesellschaftlichen Wettbewerb übergeleitet, bei
dem es nicht mehr um Leben und Tod geht, sondern um die Erlangung eines
Platzes im Rahmen der gesellschaftlichen Ordnung. Alle
Interessengegensätze werden letztlich durch das gemeinsame Interesse
aller an der Erhaltung und Fortbildung der gesellschaftlichen
Zusammenarbeit aufgelöst. In diesem Sinne sprechen die älteren
Generationen der Liberalen von der Harmonie der richtig verstandenen
Interessen. Die Modernen ziehen den Ausdruck "endliche" (long run)
Interessen vor.

So ist die liberale Gesellschafts- und Wirtschaftslehre rein
diesseitig und frei von religiösen Gedankengängen. Gottgläubige
Nationalökonomen wie Adam Smith und Frédéric Bastiat gelangen dann in
der Gesamtbetrachtung der gesellschaftlichen Gebilde ebenso dazu, Gott
als deren Schöpfer zu preisen, wie es gottgläubige Naturforscher in der
Gesamtbetrachtung der Naturerscheinungen seit altersher zu tun pflegen.

Man hat den Liberalismus auch ein Erzeugnis des Utilitarismus
genannt. Das ist insofern richtig, als der Grundgedanke des
Utilitarismus, ein jedes Handeln an seinen Früchten zu erkennen und
danach zu beurteilen, den Ausgangspunkt nationalökonomischen Denkens
bildet. Es ist falsch insofern, als man sowohl die Nationalökonomie als
auch den Liberalismus des ethischen Materialismus bezichtigen wollte.

Eine auch nur einigermaßen angemessene Untersuchung dieses
ethischen Problems verlangt ein Eingehen auf die Geschichte der
Philosophie und die der Nationalökonomie und besonders auch auf die
Erkenntnistheorie der Wissenschaften vom menschlichen Handeln, für das
hier der Raum fehlt. Es muß genügen festzustellen, daß, wenn die
Nationalökonomie von dem Streben des einzelnen nach Befriedigung seiner
Wohlfahrtszwecke spricht, sie das Wort "Wohlfahrtszwecke" im weitesten
Sinn gebraucht, "in welchem es nicht bloß die egoistischen Zwecke eines
Subjekts, sondern alles umfaßt, was diesem erstrebenswert erscheint"
(Eugen v. Böhm-Bawerk, 1886). Der Liberalismus als
wirtschaftspolitisches Parteiprogramm geht über diese wertfreie Haltung
der Wissenschaft hinaus und trägt der historisch-empirisch
feststellbaren Tatsache Rechnung, daß die ungeheure Mehrheit aller
Menschen Leben dem Tode, Gesundheit dem Leiden und eine reichlichere
Versorgung mit materiellen Gütern einer weniger reichlichen vorzieht.
Von diesem Gesichtspunkt aus empfiehlt er die Marktwirtschaft, den
Kapitalismus, und verwirft Interventionismus und Sozialismus. Die
Nationalökonomie sagt: Diese Maßnahme ist zweckwidrig; sie wird nicht
das erzielen, was die, die sie befürworten, erreichen wollen; sie wird
vielmehr Folgen zeitigen, die vom Standpunkte ihrer Befürworter weniger
befriedigend sind als der Zustand, den sie ändern soll. Der
Liberalismus fügt hinzu: Darum bekämpfe ich diese Maßnahme.

(598) Einige Menschenalter einigermaßen liberaler
Wirtschaftspolitik haben die Volkszahl vervielfacht und dem
Durchschnittsmenschen der kapitalistischen Länder eine Lebenshaltung
gebracht, die hoch über der der Wohlhabenden älterer Zeiten liegt. Der
Rückgang der Kindersterblichkeit und das Verschwinden mancher
Volksseuchen beleuchten die Aussprüche jener, die die Wirtschaftsethik
der mittelalterlichen Denker preisen und dem Erwerbsstreben vorwerfen,
daß es "ruin to the soul and confusion to society" bringe (Richard
Henry Tawney, 1926).

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