3.1.3. Demokratisierung

I.
II.
III.

I.

[S.152] Gewalt und unter strategischen Gesichtspunkten durchgeführte Umverteilung reichen als Stichworte freilich immer noch nicht aus, um die Voraussetzungen eines stabilen (wachsenden) Staates vollständig darzulegen. Sie bezeichnen nur die Eigentümlichkeit der Angebotsseite des Unternehmens Staat. Der komplementäre Aspekt der internen Unternehmensverfassung und Organisationsstruktur bleibt unbeachtet. Für die Stabilität des Staates als eines nicht an die üblichen Regeln des Privatrechts gebundenen Unternehmens ist jedoch gerade auch dieser Aspekt bedeutsam. Nicht nur auf der Angebotsseite, durch Hinzunahme von Umverteilung zur bloßer Gewalt, kann der Staat sein Einkommen stabilisieren und erhöhen, auch durch – naturgemäß wieder unter strategischen Gesichtspunkten ausgewählte – organisationstechnische Maßnahmen kann dies gelingen.

Während sich ein normales Privatrechtsunternehmen in der Weise organisiert, wie es bei gegebenen Mitteln im Hinblick auf das Ziel einer Einkommensmaximierung durch Wahrnehmung und produktionstechnische Implementierung unternehmerischer Chancen (d. i. Kosten/antizipierte Preise-Differenzen) am geeignetsten erscheint,[FN80] ist das Unternehmen Staat vor die Ausgabe gestellt, diejenige Organisa- [S.153] tionsstruktur zu finden, die ihm bei gegebenem Gewaltpotential und gegebener Umverteilungspolitik erlaubt, Einkommen aus gewalttätigen Aneignungen über ein gegebenes Niveau hinaus maximal zu steigern, Der Frage, welche Organisationsform hierfür geeignet ist, hat sich die Staatslehre traditionellerweise unter dem Titel Staatsformen zugewandt. Und dort ist, wenngleich regelmäßig in eher verunklarender Terminologie, in weitgehender Einigkeit die Antwort formuliert worden: geeignet, um dies Ziel zu erreichen, ist vor allem eine demokratische Staatsverfassung (und gerade sie ist darum, wenn es um das Problem einer ‚guten’ Regierung geht, besonders negativ zu beurteilen).[FN81]

Die Korrektheit dieser These läßt sich unter Voraussetzung einer einzigen, fraglos als realistisch einzustufenden empirischen Annahme einsichtig machen. Die Annahme ist, daß nicht nur die den Staat repräsentierenden Personen das Bedürfnis haben (und in ihrem Fall auch befriedigen), ihr Einkommen auf der Grundlage einer gegenüber normalen Privatrechtssubjekten privilegierten Rechtsposition, u. d. i. auf Kosten entsprechender Einkommensverluste bei anderen Personen, erhöhen zu dürfen, sondern daß solche Wünsche auch in der staatlicherseits beherrschten Bevölkerung bekannt sind (genauso wie Wünsche danach bekannt sind, auf Kosten irgendwelcher Personen von Umverteilungsmaßnahmen zu profitieren): zwar hat nicht jede Person solche Wünsche mit gleicher Intensität, gleichhäufig und bei gleichartigen Gelegenheiten; aber fast jeder Person sind sie als gelegentliche Begierden vertraut. Angesichts dessen hat der Staat damit zu rechnen, daß sich Widerstand gegen seine Politik aus zwei, analytisch eindeutig unterscheidbaren Wurzeln speist. Einmal handelt es sich um Widerstand seitens der durch staatliche Politik erzeugten, in ihren Eigentumsrechten eingeschränkten Opfer; zum anderen um Widerstand, der daher rührt, daß der Staat, indem er eine Klasse partikularistischer Normen durchsetzt, zwangsläufig die Durchsetzung anderer partikularistischer Normen verhindert, und entsprechende, alternative, in der Bevölkerung verbreitete Herrschgelüste frustriert. Veränderungen hinsichtlich der staatlichen Umverteilungspolitik können diesbezüglich per definitionem nichts ausrichten; denn egal wie eine gegebene Politik aussieht: sie schließt immer alternative Politiken, d. i. einen auf die Realisierung anderer partikularistischer Werte gerichteten Herrschdrang aus.

Will der Staat etwas zur Reduzierung des aus frustrierten Herrschaftsgelüsten gespeisten Widerstandsniveaus machen, mit dessen Anstieg für ihn naturgemäß die Gefahr des Auftretens von Konkurrenten auf dem Gebiet des politischen Unternehmertums (d. i. anderer Staaten) steigt, so bleibt ihm nur die Möglichkeit, sich eine Unternehmensverfassung zu geben, die die von jeder partikularistischen Politik aus [S.154] gehenden enttäuschten Herrscherhoffnungen in ihrer Intensität minimiert, indem sie ein möglichst publikumswirksam geregeltes Beteiligungsverfahren eröffnet, mittels dessen jedermann die eigenen partikularistischen Herrschaftsgelüste bei zukünftigen Änderungen der Politik zur Geltung zu bringen versuchen kann.

Ersichtlich erfüllt eine demokratische Unternehmensverfassung diese Aufgabe weitgehendst; denn naturgemäß ist sie, weil der Mehrheit verpflichtet, eine publikumswirksame Verfahrens- und Entscheidungsregel; und durch sie wird im übrigen tatsächlich jedermann die Chance eröffnet, seine mehr oder minder intensiven Herrschgelüste auf dafür vorgesehenen demokratischen Bahnen zukünftiger Willensbildung zur Geltung zu bringen, so daß jede gegenwärtig enttäuschte Herrscherhoffnung durch die Aussicht auf eine bessere Zukunft in ihrer Intensität herabgesetzt wird.[FN82]

Die Übernahme einer demokratischen Staatsverfassung bedeutet einerseits wieder Einschränkung, oder besser: Rationalisierung von Herrschaft: So wie der Staat sich selbst beschränkt, wenn er neben Gewaltanwendung zusätzlich Umverteilungspolitik betreibt, so beschränken sich die Inhaber der obersten staatlichen Entscheidungskörperschaft, wenn sie sich in ihrer Entscheidungsfreiheit bestimmten, kontingenten Mehrheiten unterwerfen. Andererseits ist Demokratisierung staatlicher Herrschaft (ungeachtet der zweifellos positiven Funktion, die sie für die gesellschaftliche Bedürfnisbefriedigung dadurch leistet, daß sie frustrierten Herrschern immer wieder neue Hoffnung gibt) nicht aber etwa Befreiung oder Rückgang des Staates von einer bisher privilegierten Rechtsposition auf die Position eines normalen Privatrechtssubjekts, sondern ist Rationalisierung von Herrschaft: Es ist eine unter strategischen Gesichtspunkten durchgeführte, organisationstechnische Maßnahme, um das Einkommen des Unternehmens Staat aus gewalttätigen Aneignungen über das ansonsten erzielbare Niveau hinaus zu steigern. Zwar hat sich die Form der Herrschaft verändert; aber auch Demokratie ist Herrschaft; und auch mehrheitlich legitimierte Eingriffe in bestehende Eigentumsrechte sind Aggressionen. Im Privatrechtsverkehr spielen Mehrheitsentscheidungen keinerlei Rolle (abgesehen davon, daß man natürlich freiwilliges Mitglied von Organisationen mit demokratischer Verfassung sein kann, deren Jurisdiktion man sich freiwillig unterwirft, und der man sich ebenso freiwillig, durch Austritt, entziehen kann). Dort gelten allein die allgemein anerkennungsfähigen Regeln der ursprünglichen Appropriation von Gütern durch objektivierende Eingrenzung und der Eigentumsübertragung per Vertrag. Eigentumsaneignungen per Deklaration oder ohne Zustimmung von Voreigentümern sind dagegen, gleichgültig, ob sie von irgendeinem Autokraten oder irgendwelchen Minderheiten gegen irgendwelche Mehrheiten, oder von irgendwelchen Mehrheiten gegen irgendwelche Minderheiten vorgenommen werden, generell und ausnahmslos strafwürdige Aggressionen. – Auch Demokratie ist also, kurz gesagt, [S.155] keine universalisierbare Regel des Privatrechtsverkehrs; die Mehrheitsregel ist ein Instrument zur Ausübung von Herrschaft.[FN83]

Nicht die Tatsache eine Form des Herrschens zu sein unterscheidet die Demokratie von der Autokratie (oder Monarchie). Der Unterschied zwischen diesen beiden, von der Staatslehre immer wieder als Gegensatz porträtierten Staatsformen besteht vielmehr nur in der Technik, den in der beherrschten Bevölkerung verbreiteten, aus frustrierten Herrscherhoffnungen genährten Widerstand organisatorisch aufzufangen und zu kanalisieren. – Der Autokrat, der keinen geregelten Einfluß der Bevölkerung auf seine Politik anerkennt (wenngleich auch er natürlich, um der Stabilität der eigenen Position Willen, dem Volk aufs Maul schaut, und das Volk auf diese Weise ungeregelt Einfluß nehmen läßt), hat in seinem Unternehmen kein organisationstechnisches Auffangbecken für enttäuschte Herrschgelüste vorgesehen. Die Demokratie dagegen hat hier organisatorisch Vorsorge getragen, weil sie (gleichsam als eingebaute Popularitätsgarantie) nach bestimmten Regeln gebildete Wahl- und Entscheidungsmehrheiten auf zukünftige Politikänderungen Einfluß nehmen läßt. Dementsprechend muß, wenn enttäuschte Herrschlust leichter ertragen wird, sofern es für sie einen geregelten Ausfluß gibt, das Widerstandsniveau gegen einen autokratischen Staat größer sein als gegen einen demokratischen. Eine identische (Umverteilungs-)Politik und eine identische Bevölkerung vorausgesetzt, muß der demokratische Staat über relativ erweiterte Spielräume für den Ausbau des eigenen Einkommens verfügen. Und umgekehrt: die Autokratie muß sich, trotz identischer Umverteilungspolitik, im Vergleich zur Demokratie mit einem verringerten Einkommensniveau begnügen; sie muß, in der Terminologie der Klassiker, weniger, oder besser: weiser herrschen; denn weil in ihrem Rahmen anderen als dem jeweils eigenen, autokratischen Herrschaftswillen kein geregelter Einfluß zugestanden wird, wirkt sie als Herrschaft umso unerträglicher, und kann auf stabiler Grundlage nur aufrechterhalten werden, wenn die Belastung der Bürger durch staatlicherseits vorgenommene Zwangsappropriierungen hinsichtlich des Gesamtvolumens herabgesetzt ist.