Begreifen und Verstehen (1930)

Quelle: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft (Schmollers Jahrbuch). 54:2(1930) S. 331-433

Dieser Aufsatz wurde auch in den Sammelband 'Grundprobleme der Nationalökonomie' aufgenommen.

Gliederung:

1. Erkenntnis von außen und Erkenntnis von innen
2. Begreifen und Verstehen
3. Das Irrationale als Gegenstand der Erkenntnis
4. Sombarts Kritik der Nationalökonomie
5. Logik und Sozialwissenschaft

1. Erkenntnis von außen und Erkenntnis von innen

Wir erklären ein Geschehen, indem wir es auf allgemeine Regeln zurückführen. Solches Erklären – und anderes bleibt uns versagt – bedeutet nun keineswegs etwa Aufweisung der letzten Ursache, des Realgrundes, des Seins und Werdens; früher oder später muß es stets an einen Punkt gelangen, über den hinaus wir nicht weiter vorzudringen vermögen.

Der Umstand, daß es uns bisher nicht gelingen konnte, das Verhältnis, das zwischen dem Psychischen und dem Physischen besteht, irgendwie zu erfassen, daß wir darüber nichts auszusagen vermögen, was man als allgemeine Regeln ansehen könnte, macht, daß wir ungeachtet der Einheit der logischen Struktur unseres Denkens es mit zwei gesonderten Gebieten der wissenschaftlichen Erkenntnis zu tun haben: mit der Wissenschaft von der Natur und mit der Wissenschaft von dem menschlichen Verhalten.

An den Gegenstand der Naturwissenschaft treten wir von außen heran. Das Ergebnis unserer Beobachtung ist die Feststellung funktionaler Abhängigkeitsverhältnisse. Die Aussagen über diese Beziehungen sind die allgemeinen Regeln, durch die wir das Geschehen erklären. Mit der Bildung des Systems dieser Regel ist alles, was wir zu tun vermögen, erschöpft. In der Wissenschaft vom menschlichen Verhalten erfassen wir das Geschehen von innen. Als Menschen sind wir in der Lage, den Sinn menschlichen Handelns zu erfassen, den Sinn, den der Handelnde mit dem Handeln verbunden hat. Dieses Sinnerfassen läßt uns die allgemeinen Regeln bilden, mit deren Hilfe wir das Geschehen erklären.

Was dieses sinnerfassende Betrachten des menschlichen Verhaltens leistet, erkennt man wohl am besten, wenn man ihm den Versuch des Behaviorismus entgegenhält, das Benehmen der Menschen nach dem Vorgang der Tierpsychologie von außen zu betrachten. Die Behavioristen wollen darauf verzichten, das Verhalten des Menschen aus dem Sinn heraus zu erfassen; sie wollen in ihm nichts anderes sehen als Reaktionen zu bestimmten Situationen. Würden sie ihr Programm streng durchführen, so könnten sie zu nichts anderem gelangen als zur Registrierung von Geschehnissen, die sich einmal zugetragen haben, ohne daß es zulässig wäre, aus dem, was sich einmal ereignet hat, auf das zu schließen, was sich in anderen Fällen der Vergangenheit ereignet hat oder was sich in der Zukunft abspielen wird. Schon die Situation, auf die der Mensch bewußt reagiert, kann in der Regel nur sinnhaft bestimmt werden. Will man sie bestimmen, ohne dabei auf den Sinn, den der handelnde Mensch in ihr sieht, einzugehen, dann wird es nicht gelingen, das herauszuheben, was an ihr wesentlich ist und über die Art der Reaktion entscheidet. Das Verhalten eines Menschen, den ein anderer mit einem Messer schneiden will, wird ganz verschieden sein, je nachdem er in der beabsichtigten Operation eine Verstümmelung oder einen chirurgischen Eingriff erblicken will. Keiner Künstelei kann es gelingen, eine Situation wie etwa die durch Erstellung eines Kaufangebotes entstandene zu bestimmen, ohne auf den Sinn einzugehen. Die Reaktion bewußten Verhaltens ist ausnahmelos sinnerfüllt und nur durch Eingehen auf ihren Sinn zu erfassen; sie ist immer Ausfluß sowohl einer Theorie, also einer Lehre, die Ursache und Wirkung verknüpft, als auch des Willens, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Nur durch Erschleichung könnte der Behaviorismus dazu gelangen, über sie etwas auszusagen. Würde der Behaviorismus, seinem Vorsatz getreu, vollkommen darauf verzichten, auf den „Sinn“ einzugehen, so könnte es ihm nicht einmal gelingen, aus all dem, was man an Verhaltungsweisen von Menschen und Tieren mit den Sinnen wahrzunehmen vermag, das auszusondern, was er zum Gegenstand seiner Forschung macht.(1) Es würde ihm nicht gelingen, seine Aufgabe von der der Physiologie abzurenzen. Die Physiologie, meint Watson, befaßt sich besonders mit dem Verhalten der Teile des Lebewesens, der Behaviorismus besonders mit dem Verhalten des ganzen Lebewesens.(2) Doch die Reaktion des Körpers auf eine Infektion oder die Erscheinungen des Wachstums und des Alterns sind gewiß nicht unter den Begriff „Verhalten von Teilen“ zu bringen. Will man anderseits eine Handbewegung als Verhalten des „ganzen Lebewesens“ ansetzen, so kann das wohl unter keinem andern Gesichtspunkt geschehen als dem, daß in dieser Handbewegung etwas wirksam wird, was keinem Teil des Lebewesens zugeschrieben werden kann; dieses Etwas kann aber wohl nichts anderes sein als der „Sinn“ oder das den „Sinn“ Setzende. Wenn die Behavioristen es als Ziel ihrer Arbeit hinstellen, menschliches Verhalten voraussagen und damit auch beeinflussen zu können, so muß man wohl fragen, wie man ohne auf den Sinn einzugehen etwa das Verhalten eines Menschen, der von einem zweiten angeredet wurde, voraussagen könnte.

Die Erfolge, die der Behaviorismus in der Beobachtung des Verhaltens von Tieren und Kindern erzielt hat, verdankt er der freilich nur versteckten und verleugneten Einführung der Teleologie. Ohne sie wäre alles, was er hätte leisten können, nichts anderes geblieben als eine ungeheure Sammlung von Fällen, die sich dort und damals zugetragen haben.

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(1) Vgl. Bühler, Die Krise der Psychologie. Jena 1927, S. 46

(2) Vgl. Watson, Behaviorism. New York 1924, S. 1