Über die Produktion von Sicherheit (1849)

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Quelle: „De la production de la sécurité,“ in: Journal des Économistes, 8. Jg., Bd. 22 (Dez. 1848 - März 1849), Guillaumin et Cie., Paris 1849, S. 277-90. Übersetzt von J. G. Hülsmann und R. Stiebler für www.mises.de

Gliederung:

I.
II.-IV.
V.-VII.
VIII.-X.

Dies kann als der erste anarchokapitalistische Text gelten. Er erregte durch seine konsequenten Schlußfolgerungen selbst unter den damaligen Ökonomen (Bastiat, Dunoyer et al.) Befremden.

I.
II.-IV.
V.-VII.
VIII.-X.

I.

[Vorbemerkung des Chefredakteurs des Journal des Économistes: Obgleich
es scheinen könnte, als ob dieser Artikel in seinen Schlußfolgerungen
von Utopien geprägt ist, glauben wir ihn dennoch publizieren zu müssen,
um die Aufmerksamkeit der Ökonomen und Publizisten auf ein Problem zu
lenken, das bisher nur in beiläufiger Art behandelt worden ist und das
doch in der Epoche, in der wir uns befinden, mit größerer Präzision
angegangen werden muß. So viele Leute übertreiben die Natur und die
Kompetenzen der Regierung, daß es nützlich geworden ist, streng die
Grenzen zu bezeichnen, außerhalb derer der Eingriff der Autorität
aufhört, schützend und gewinnbringend zu sein, und anarchisch und
tyrannisch wird.]

Es gibt zwei Arten, die Gesellschaft zu betrachten. Den einen zufolge hat kein von der Vorsehung bestimmtes, unabänderliches Gesetz bei der Bildung der verschiedenen menschlichen Gemeinschaften den Ausschlag gegeben; da sie von primitiven Gesetzgebern in rein künstlicher Weise organisiert wurden, können sie folglich, je nach dem Fortschritt der Gesellschaftswissenschaft, auch von anderen Gesetzgebern verändert oder umgestaltet werden. In diesem System spielt die Regierung eine bedeutende Rolle, denn der Regierung obliegt als Treuhänderin des Autoritätsprinzips die Aufgabe, die Gesellschaft täglich zu verändern und neu zu gestalten.

Anderen zufolge ist die Gesellschaft dagegen eine rein natürliche Tatsache; wie die Erde, die sie trägt, bewegt sie sich aufgrund allgemeiner, bereits existierender Gesetze. In diesem System gibt es strenggenommen keine Gesellschaftswissenschaft; es gibt nur eine Wirtschaftswissenschaft, die den natürlichen Organismus der Gesellschaft studiert, und die darlegt, wie dieser Organismus funktioniert.

Worin besteht in diesem letzteren System aber die Funktion der Regierung und ihre natürliche Organisation? Das wollen wir nun untersuchen.

I.

Um die Funktion der Regierung gut definieren und abgrenzen zu können, müssen wir zunächst untersuchen, was die Gesellschaft überhaupt ist und was sie zum Gegenstand hat.

Welchem natürlichen Trieb gehorchen die Menschen, wenn sie sich in der Gesellschaft zusammenfinden? Sie gehorchendem Trieb bzw. genauer gesagt dem Instinkt der Geselligkeit. Das Menschengeschlecht ist seinem Wesen nach gesellig. Wie die Biber und die höheren Tiergattungen im allgemeinen, werden die Menschen instinktiv zum Leben in Gesellschaft getrieben.

Worin findet dieser Instinkt seine Berechtigung?

Der Mensch spürt eine Vielzahl von Bedürfnissen, deren Befriedigung ihm Freuden und deren Nichtbefriedigung ihm Leiden bereitet. Allein, isoliert kann er nun die ihn unaufhörlich bedrängenden Bedürfnissen nur auf unvollständige, ungenügende Art befriedigen. Der Geselligkeitsinstinkt bringt ihn seinesgleichen näher, treibt ihn, sich mit ihnen in Verbindung zu setzen. So bürgert sich unter dem Trieb des Interesses der so angenäherten Einzelnen eine gewisse Arbeitsteilung ein, welcher notwendigerweise der Tausch folgt; kurz, man sieht die Gründung einer Organisation, mittels derer der Mensch seine Bedürfnisse viel umfassender befriedigen kann, als er es könnte, wenn er isoliert bliebe.
Diese natürliche Organisation heißt Gesellschaft.

Die Gesellschaft hat daher die vollständigere Befriedigung der Bedürfnisse des Menschen zum Gegenstand; das Mittel ist die Arbeitsteilung und der Tausch.
Unter der Zahl der menschlichen Bedürfnisse gibt es ein besonderes, das eine immense Rolle in der Geschichte der Menschheit spielt: Das Bedürfnis nach Sicherheit.

Was ist das für ein Bedürfnis?

Gleich, ob sie isoliert oder in Gesellschaft leben, sind die Menschen vor allem daran interessiert, ihre Existenz und die Früchte ihrer Arbeit zu bewahren. Wäre das Gerechtigkeitsgefühl auf der Erde allgemein verbreitet, beschränkte sich infolgedessen jeder Mensch darauf, zu arbeiten und die Früchte seiner Arbeit auszutauschen, ohne anderen Menschen nach dem Leben zu trachten oder durch Gewalt oder List die Früchte ihrer Arbeit an sich zu reißen ­ mit einem Wort: Hätte jeder eine instinktive Abneigung gegen jede, anderen schädliche Handlung, so wäre es gewiß, daß natürliche Sicherheit auf der Erde herrschte und daß keine künstliche Einrichtung notwendig wäre, sie zu begründen. Unglücklicherweise verhält es sich nicht so. Das Gerechtigkeitsgefühl scheint nur das Erbteil gewisser höherer, außergewöhnlicher Naturen zu sein. Unter den niederen Völkern existiert es nur in rudimentärem Zustand. Von daher die unzähligen Vergehen, die seit dem Ursprung der Welt, seit Kain und Abel an Leben und Eigentum von Personen ausgeübt wurden.

Von daher auch die Gründung von Einrichtungen, die dem Zweck dienen, jedermann den friedlichen Besitz seiner Person und seiner Güter zu garantieren.
Diese Einrichtungen haben den Namen Regierungen erhalten.

Überall, selbst unter den unaufgeklärtesten Völkerschaften trifft man auf eine Regierung, so allgemein und dringend ist das Sicherheitsbedürfnis, dem eine Regierung Rechnung trägt.

Überall finden sich die Menschen eher mit den schwersten Opfern ab, als auf eine Regierung ­ und folglich auf Sicherheit ­ zu verzichten, und man könnte nicht einmal sagen, daß sie schlecht rechnen, indem sie so handeln.

Angenommen etwa, daß ein Mensch sich unablässig an seiner Person und seinen Existenzmitteln bedroht findet, wäre dann nicht seine erste und beständigste Sorge, sich vor den Gefahren, die ihn umgeben, zu schützen? Diese Sorge, diese Bemühungen, diese Arbeit nähmen notwendigerweise den größten Teil seiner Zeit, ebenso wie die energischsten und aktivsten Fähigkeiten seiner Intelligenz ein. Daher könnte er der Befriedigung seiner übrigen Bedürfnisse nur ungenügende, unstete Arbeit und eine erschöpfte Aufmerksamkeit widmen.

Selbst wenn dieser Mensch gezwungen wäre, einen sehr beträchtlichen Teil seiner Zeit, seiner Arbeit demjenigen zu opfern, der sich verpflichtete, ihm den friedlichen Besitz seiner Person und seiner Güter zu garantieren, gewönne er nicht immer noch bei diesem Handel?

Wie dem auch sei, jedenfalls bestünde sein offensichtliches Interesse darin, sich die Sicherheit zum niedrigsten Preis zu verschaffen.