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Wirtschaftlicher Liberalismus (1959)

6. Bestrebungen zur Erneuerung des Liberalismus
Literatur zum Artikel "Wirtschaftlicher Liberalismus"

6. Bestrebungen zur Erneuerung des Liberalismus

In den beiden letzten Jahrzehnten des 19. Jh. zählte der liberale
Gedanke kaum noch in der Wirtschaftspolitik der Staaten. Sozialistische
und interventionistische Maßnahmen begegneten nur schwachem
ideologischem Widerstand. Daß die liberale Wirtschaftsordnung nicht
schnell und radikal beseitigt wurde, war nicht etwa Bemühungen ihrer
Befürworter zu danken. Die offenkundig unbefriedigenden Ergebnisse der
antiliberalen Politik verlangsamten das Tempo ihres Fortschritts.

Von der Verstaatlichung und Verstadtlichung von Betrieben hatte man
fiskalische Vorteile erwartet. Doch das Ergebnis war nahezu in jedem
Fall – die preußischen Staatsbahnen bildeten hier lange eine Ausnahme –
ein Defizit, das den öffentlichen Haushalt arg belastete. Man mußte
auch lernen, daß die hohe Besteuerung des Ertrages großer
Unternehmungen und des Einkommens und Vermögens der Reichen die
Erwartungen enttäuschte. Ernüchterung konnte nicht ausbleiben. Am
deutlichsten war, was sich im New Deal des Präsidenten Franklin D.
Roosevelt abspielte. Zu einer Zeit, da die europäischen (602)
Antiliberalen schon durch Schaden vorsichtig geworden waren, wurde die
"Tennessee-Valley-Idea" als Eröffnung eines neuen Zeitalters und als
endgültige Absage an privates Unternehmertum überschwenglich begrüßt.
Es vergingen Jahre, ehe die Erkenntnis, daß das Unternehmen im Grunde
verfehlt war und den Bundesfinanzen überdies eine schwere Bürde
auferlegte, allgemein wurde und die Forderung, alle Ströme in gleicher
Weise zu sozialisieren, ihre Volkstümlichkeit einbüßte.

Die Enttäuschung über die hochgespannten antiliberalen Erwartungen fand
in der Literatur frühzeitig Ausdruck. Man entdeckte, daß im
Kapitalismus doch nicht alles schlecht war. Man begann von einer
Wiederbelebung des Liberalismus zu reden. In allen Ländern Westeuropas
hat es seit den 1890er Jahren wiederholt Versuche liberaler Erneuerung
gegeben. Und alle verliefen im Sande.

Es ist nicht schwer, die Ursache ihres Scheiterns zu erklären.
Dieser angebliche Neuliberalismus war tatsächlich nicht liberal. Seine
Verfechter erstrebten nicht die freie Marktwirtschaft, sondern nur eine
"Milderung" gewisser interventionistischer Maßnahmen. Sie waren eifrig
darauf bedacht, zu versichern, daß sie keineswegs
laissez-faire-Kapitalismus, sondern nur einen vom Staat "vernünftig"
geregelten Kapitalismus anstreben. Mit einem Wort: Sie waren
Interventionisten; wie sie glaubten, gemäßigte Interventionisten. Sie
kritisierten keineswegs das, was man die Doktrin des Interventionismus
nennen mag. Sie empfahlen nur mehr Milde, d. h. weniger
Folgerichtigkeit, in der Durchführung seines Programms. Die Progression
in der Besteuerung der Einkommen und Verlassenschaften soll gemildert,
doch keineswegs beseitigt werden. Manche – aber nicht alle –
Gewaltmaßnahmen der Gewerkschaften sollen unterdrückt werden. Manche –
aber nicht alle Privilegien, die den minder leistungsfähigen
Unternehmer gegen den leistungsfähigeren schützen, sollen fallen.
Schutzzölle und andere protektionistische Verfügungen sollen auf das
"unbedingt notwendige" Maß zurückgeführt werden. 

Wenn einmal der Grundgedanke des Sozialismus und Interventionismus, daß
nämlich die Marktwirtschaft die Mehrheit des Volkes zugunsten einer
Minderheit von Profitmachern benachteilige, als richtig unterstellt
wird, dann ist der liberale Standpunkt preisgegeben. Es ist dann
belanglos, ob man in der interventionistischen Politik mehr oder
weniger Mäßigung empfiehlt. Wenn man z.B. kein Verständnis hat für die
Rolle, die die Ungleichheit des Einkommens und Vermögens in der
Marktwirtschaft spielt, kann man kein haltbares Argument gegen eine
noch so radikale Wegsteuerung höherer Einkommen vorbringen. Der
Pseudoliberale, der den Steuersatz von x% für Einkommen über y Mark
gerechtfertigt erachtet, nicht aber den Satz von 2x%, erscheint dann in
den Augen kritischer Beurteiler lediglich als Vorkämpfer der
selbstsüchtigen Sonderinteressen derer, die hohe Einkommen beziehen.
Man kann sich schwer eine Partei vorstellen, die auf alles, was der
Gegner fordert, nur eine Antwort weiß: ja, aber mit etwas mehr Mäßigung.

Eine wirklich neuliberale Bewegung hat sich erst seit dem Ende des
ersten Weltkriegs langsam zu entwickeln begonnen. Sie ist von der
Erneuerung der Nationalökonomie ausgegangen. Ihre geistigen Führer sind
Nationalökonomen und Philosophen, die der Nationalökonomie nahestehen:
Edwin Cannan (1861-1935), Luigi Einaudi, Louis Baudin, Louis Rougier,
Henry Hazlitt und Ludwig v. Mises. An sie schließen sich einige jüngere
Autoren an, so Friedrich August v. Hayek, Wilhelm Röpke und John Jewkes.

Das Schicksal dieser Bewegung wird davon abhängen, ob es ihr gelingen
wird, den Opportunismus eines "gemäßigten" Interventionismus zu meiden.
Sie darf sich nicht mit jenen verbünden, die verschiedene
interventionistische Maßnahmen nur darum ablehnen, weil sie andere
derartige Maßnahmen anstreben. Sie muß als Gegner nicht nur die
ansehen, die Sozialismus als das beste Mittel zur Bekämpfung des
Kommunismus preisen, sondern auch die, die Ablehnung von
Staatseingriffen als Negativismus und Duldung aller Übel ansehen und
dem Liberalismus ein angeblich positives Programm geben, d.h. ihn in
Interventionismus umwandeln wollen.

Man pflegt oft zu behaupten, daß die Gedankengänge der theoretischen
Nationalökonomie das Fassungsvermögen des Durchschnittsmenschen
überstiegen und daß es daher ein aussichtsloses Beginnen sei, bei den
Wählermassen Verständnis für die Marktwirtschaft zu erwecken. Die
politischen Entscheidungen werden jedoch nicht von den Massen
getroffen, sondern von den Intellektuellen.

Das Verhängnis des 19. Jh. war es, daß den im demokratischen
Staatswesen zur Führung berufenen Schichten der Gebildeten die
Nationalökonomie fremd wurde. Es ist hier nicht der Ort, die Gründe
dieser Erscheinung aufzuweisen. Es genügt festzustellen, daß etwa seit
den 1870er Jahren nur wenige es der Mühe wert erachteten, sich
ernstlich mit den Problemen zu beschäftigen, die man gemeinhin als
nationalökonomische Theorie zu bezeichnen pflegt.

Der Hinweis darauf, daß eine Erneuerung des Liberalismus nur von einer
Belebung des Interesses der Gebildeten an nationalökonomischen Fragen
zu erwarten ist, zielt nicht auf Änderun- (603) gen im Gebiete des
Schul- und Unterrichtswesens ab. Er hat nichts mit aus Steuergeldern
erhaltenen Lehranstalten, mit Staatsprüfungen und Berechtigungen zu
tun. Das, um was es sich handelt, ist, bei den Gebildeten das Gefühl
politischer Verantwortung zu erwecken. Der Arzt, der Anwalt, der
Unternehmer, der Ingenieur, sie alle müssen lernen, ihre politischen
Entscheidungen mit derselben Gewissenhaftigkeit vorzubereiten, mit der
sie in ihrem Berufe vorgehen. Sie müssen nach politischer Bildung und
Fortbildung mit dem gleichen Eifer streben, mit dem sie ihr fachliches
Wissen erwerben und mehren. Politische Bildung aber bedeutet vor allem
Nationalökonomie. Im Hinblick auf die Probleme, um die es in den großen
Ideenkämpfen der Gegenwart geht, ist man versucht zu sagen: Politische
Bildung ist Nationalökonomie.

Es ist heute üblich, verschiedene Wirtschaftssysteme zu unterscheiden,
zwischen denen die Menschen und Völker zu wählen haben. Lediglich
zufällige Ereignisse der Vergangenheit hätten, meint man, dem
kapitalistischen System die Stellung zugewiesen, die es im Rahmen der
westlichen Kultur einnimmt. Doch es hätte auch anders kommen können.
Das, was an der modernen Kultur wertvoll ist, sei keineswegs ein
Erzeugnis des kapitalistischen Systems. Es hätte sich auch dann
entwickelt, wenn ein anderes Wirtschaftssystem angenommen worden wäre,
und es werde weiterblühen, wenn in Zukunft ein anderes System den
Kapitalismus verdrängen sollte.

Spekulationen darüber, wie es hätte kommen können, wenn gewisse Dinge
anders gewesen wären, sind müßig. Wenn man jedoch Änderungen plant, muß
man wissen, was man anstrebt und ob die in Aussicht genommenen Mittel
geeignet sind, den gewünschten Erfolg herbeizuführen. Das kann aber auf
dem Gebiete, das man als Wirtschafts- und Sozialpolitik bezeichnet, nur
Nationalökonomie leisten. Alles, was in diesen Dingen geplant oder
unternommen wird, ist an Sätzen der ökonomischen Theorie orientiert.
Auseinandersetzungen über wirtschaftspolitische Probleme können nur auf
dem Boden der reinen Theorie ausgetragen werden. Wäre die
interventionistische Schule folgerichtig in der Verwerfung jeglicher
allgemeingültigen Theorie, dann müßte sie darauf verzichten, mehr zur
Empfehlung ihrer Vorschläge zu sagen, als daß sie in der Linie des –
intuitiv, d.h. unüberprüfbar – erschauten Zuges künftiger notwendiger
Entwicklung liegen. In der Tat ist die Grundlage aller antiliberalen
Doktrin und Politik die antirationalistische mystische Lehre von der
Unentrinnbarkeit des Sozialismus.

Es ist nicht die Aufgabe der Nationalökonomie oder irgend einer andern
Wissenschaft, Aussagen über den Verlauf der künftigen Dinge zu machen.
In der Vergangenheit hat es tiefgreifende Veränderungen gegeben.
Wiederholt wurde das, was Zeitgenossen als ewigen, keiner weiteren
Änderung unterliegenden "Zug der Entwicklung" angesehen haben, durch
einen durchaus anders gerichteten "Zug der Entwicklung" abgelöst. Unser
Zeitalter ist durch eine kollektivistische Tendenz gekennzeichnet. Das
Gebiet, in dem sich der einzelne betätigen kann, wird, unter dem
Beifall der ungeheuren Mehrheit, immer mehr zugunsten der
Staatsallmacht eingeschränkt. Die Enkel der Freiheitskämpfer nähern
sich immer mehr dem totalen Staat des Sozialismus. Doch das bedeutet
nicht, daß Sozialismus das letzte Wort menschlicher Ideologie ist und
die endgültige Lösung aller Probleme darstellt. Nichts berechtigt uns
anzunehmen, daß wir am Ende aller Veränderungen angelangt sind und daß
es in Hinkunft keine Geschichte mehr geben wird.

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