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Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen (1920)

Einleitung
I. Die Verteilung der Konsumgüter im sozialistischen Gemeinwesen
II. Das Wesen der Wirtschaftsrechnung
III. Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen
IV. Verantwortung und Initiative im gemeinwirtschaftlichen Betrieb

IV. Verantwortung und Initiative im gemeinwirtschaftlichen Betrieb

IV. In engem Zusammenhang mit dem Problem der Wirtschaftsrechnung steht das der Verantwortung und der Initiative im gemeinwirtschaftlichen Betrieb. Daß »die Ausschaltung freier Initiative und individueller Verantwortungsbereitschaft, auf denen die Erfolge privater Geschäftsführung beruhen« die schlimmste Gefahr für die gemeinwirtschaftlichen Organisationen bilden, wird nun allgemein zugegeben.(12)

Die meisten Sozialisten gleiten über dieses Problem mit Stillschweigen hinweg. Andere wieder glauben es mit dem Hinweis auf die Direktoren der Aktiengesellschaften erledigen zu können. Diese seien ja auch nicht Eigentümer der Produktionsmittel, und doch blühten die Unternehmungen unter ihrer Leitung. Wenn an Stelle der Aktionäre die Gesellschaft in das Eigentum der Produktionsmittel trete, werde sich nichts ändern. Die Direktoren würden für die Gesellschaft nicht schlechter arbeiten als für Rechnung der Aktionäre.

Wir müssen zwei Gruppen von Aktiengesellschaften und ähnlichen Unternehmungen unterscheiden. Bei den einen – es sind dies meist nur die kleineren Gesellschaften – sind in. der Rechtsform der Aktiengesellschaft einige wenige Personen – oft sind es die Erben des Gründers der Unternehmung, oft auch frühere Konkurrenten, die sich nun zusammengeschlossen haben, – zu gemeinsamer Unternehmungstätigkeit verbunden. Die eigentliche Leitung und Führung der Geschäfte liegt hier in den Händen der Aktionäre selbst oder zumindest eines Teiles der Aktionäre, die im eigenen Interesse und in dem ihnen verwandtschaftlich nahestehender Aktionäre – Frauen, Minderjähriger usw. – die Geschäfte führen. Sie nehmen als Vorstands- (110) oder Aufsichtsratmitglieder, als Direktoren, mitunter auch in juristisch bescheidener Stellung, selbst den maßgebenden Einfluß auf den Betrieb der Geschäfte. Daran ändert auch nichts der Umstand, daß sich mitunter ein Teil des Aktienkapitales in den Händen eines Finanzkonsortiums oder einer Bank befindet. Hier unterscheidet sich die Aktiengesellschaft von der offenen Handelsgesellschaft in der Tat nur durch die Rechtsform.

Bei den großen Aktiengesellschaften liegt die Sache anders. Hier nimmt nur ein Teil der Aktionäre – Großaktionäre – an der eigentlichen Leitung der Unternehmung teil. Diese haben in der Regel das gleiche Interesse an dem Gedeihen der Unternehmung wie jeder Eigentümer. Doch es kann geschehen, daß sie andere Interessen haben als die große Menge der kleinen Aktionäre, die, auch wenn sie die Mehrheit des Aktienkapitales besitzen, von der Leitung ausgeschlossen sind. Dann kann es zu schweren Kollisionen kommen, wenn etwa die Geschäfte der Unternehmung im Interesse der Leiter in einer Weise geführt werden, die die Aktionäre benachteiligt. Aber wie dem auch sei, klar ist es, daß die wirklichen Machthaber in den Gesellschaften die Geschäfte in ihrem eigenen Interesse führen, mag dies mit dem der Aktionäre zusammenfallen oder nicht Für den soliden Verwalter einer Aktiengesellschaft, der nicht bloß einen vorübergehenden Gewinn machen will, wird es auf die Dauer im allgemeinen vorteilhaft sein, immer nur das Interesse der Aktionäre zu vertreten und Manipulationen, die sie schädigen können, zu unterlassen. Das gilt in erster Linie von den Banken und Finanzgruppen, die beim Publikum den Emissionskredit, den sie genießen, nicht aufs Spiel setzen wollen. Es sind also nicht nur ethische Motive maßgebend, wenn die Aktiengesellschaften blühen.

Das alles wird anders, wenn ein Unternehmen verstaatlicht wird. Mit der Ausschaltung der materiellen. Interessen Privater verschwindet die bewegende Kraft, und wenn staatliche und städtische Unternehmungen wirtschaftlich überhaupt gedeihen, so verdanken sie dies der Herübernahme von Einrichtungen aus privaten Unternehmungen oder dem Umstande, daß sie durch die Unternehmer, bei denen sie Produktionsmittel und Rohstoffe einkaufen, immer wieder zu Reformen und Neuerungen getrieben werden.

(111) Daß von gemeinwirtschaftlichen Unternehmungen kein Antrieb zu Reformen und Verbesserungen der Produktion ausgeht, daß sie sich den wechselnden Verhältnissen des Bedarfes nicht anzupassen vermögen, daß sie mit einem Wort ein totes Glied im Organismus der Volkswirtschaft darstellen, ist nun, da wir auf Jahrzehnte staats- und kommunalsozialistischer Versuche zurückzublicken in der Lage sind, allgemein anerkannt. Alle Versuche, ihnen Leben einzuhauchen, sind bis nun vergebens geblieben. Man hat gemeint, es durch Besoldungsreformen erreichen zu können. Man wollte die Leiter dieser Unternehmungen am Ertrag interessieren und dachte, daß man sie so den Leitern großer Aktiengesellschaften gleichstellen werde. Das ist ein großer Irrtum. Die Leiter der großen Aktiengesellschaften sind mit den Interessen der von ihnen verwalteten Unternehmungen in ganz anderer Weise verknüpft als dies bei .öffentlichen Betrieben je der Fall sein kann. Sie sind entweder schon Besitzer eines nicht unbeträchtlichen Teiles des Aktienkapitals oder hoffen, es im Laufe der Zeit zu werden. Sie sind weiter in der Lage, durch Börsenspiel in den Werten ihres Unternehmens Gewinn zu erzielen. Sie haben die Aussicht, ihre Stelle zu vererben oder doch wenigstens ihren Erben einen Teil ihres eigenen Einflusses zu sichern. Nicht der behäbige, in seiner Denkungsart und seinem Empfinden dem öffentlichen Beamten einigermaßen ähnelnde Generaldirektor ist der Typus, dem die in Aktienform betriebenen Unternehmungen ihre Erfolge danken, vielmehr der durch Aktienbesitz interessierte Leiter und der Promoter und Faiseur, gerade jene also, die auszuschalten das Ziel aller Verstaatlichungs- und Verstadtlichungsaktionen ist.

Es ist überhaupt nicht folgerichtig im sozialistischen Sinn gedacht, wenn man zu solchen Auskunftsmitteln greift, um das Gedeihen einer Wirtschaftsordnung auf sozialistischer Grundlage zu sichern. Aller Sozialismus – auch der Karl Marxens und seiner orthodoxen Anhänger – geht von der Auffassung aus, daß im sozialistischen Gemeinwesen ein Gegensatz zwischen den Interessen der einzelnen und denen der Gesamtheit gar nicht werde entstehen können. jeder werde sich schon im eigenen Interesse bemühen, sein Bestes zu leisten, da er auch am Ertrag der ganzen wirtschaftlichen Tätigkeit beteiligt sei. Der naheliegende Einwand, daß es für den einzelnen nur sehr wenig ins Gewicht fällt, ob er selbst fleißig und eifrig ist, daß es für ihn (112) wichtiger ist, daß alle anderen es sind, wird von ihnen entweder gar nicht oder in unzulänglicher Weise berücksichtigt. Sie glauben, auf dem kategorischen Imperativ allein das sozialistische Gemeinwesen aufbauen zu können. Wie leicht sie es sich dabei zu machen pflegen, zeigt wohl am besten Kautsky, der die Behauptung aufstellt: »Ist der Sozialismus eine gesellschaftliche Notwendigkeit, dann wäre, wenn er in Konflikt mit der Menschennatur käme, diese es, die den Kürzeren ziehen würde, und nicht der Sozialismus«.(13) Das ist reinster Utopismus.

Aber setzen wir selbst den Fall, daß diese utopischen Erwartungen der Sozialisten sich wirklich erfüllen könnten, daß im sozialistischen Gemeinwesen jeder einzelne sich bemühen werde, mit nicht minderem Eifer tätig zu sein als heute dort, wo er unter dem Drucke des freien Wettbewerbes steht, dann bleibt erst das Problem zu lösen, woran man denn im sozialistischen Gemeinwesen, das keine Wirtschaftsrechnung kennen .wird, den Erfolg der wirtschaftlichen Tätigkeit messen wird. Wenn man sich über die Wirtschaftlichkeit nicht klar zu werden vermag, kann man nicht wirtschaftlich handeln.

Ein beliebtes Schlagwort meint, man müßte in den gemeinwirtschaftlichen Betrieben weniger bureaukratisch und mehr kaufmännisch denken, dann würden sie geradeso wirtschaftlich arbeiten wie die privaten Unternehmungen. Die leitenden Stellen müßten mit Kaufleuten besetzt werden, dann werde der Ertrag gleich wachsen. Doch das »Kaufmännische« ist keineswegs etwas äußerliches, das nach Belieben übertragen werden kann. Die Kaufmannsqualität ist keine Eigenschaft einer Person, die auf angeborener Begabung beruht oder durch Studien an einer Handelslehranstalt, durch Mitarbeit in einem Handelshause oder dadurch, daß man selbst eine Zeitlang Unternehmer gewesen ist, erworben wird. Das kaufmännische Denken und Arbeiten des Unternehmers entspringt seiner Stellung im Wirtschaftsprozeß und geht mit ihr verloren. Wenn man einen erfolgreichen Unternehmer zum Leiter eines gemeinwirtschaftlichen Betriebes bestellt, dann mag er gewisse Erfahrungen aus seiner früheren Stellung mitbringen und eine Zeitlang noch routinemäßig verwerten können. Doch mit seinem Eintritt in die gemeinwirtschaftliche Tätigkeit hört er auf, Kaufmann zu sein und wird (113) Bureaukrat wie jeder andere Angestellte des öffentlichen Dienstes. Nicht Kenntnis der Buchhaltung, der Betriebsorganisation und, des kaufmännischen Briefstils, nicht die Absolvierung einer Handelshochschule machen den Kaufmann aus, sondern seine charakteristische Stellung im Produktionsprozeß, die das Interesse des Unternehmens mit seinen eigenen Interessen zusammenfallen läßt. Es ist daher keine Lösung des Problems, wenn Otto Bauer in seiner jüngst veröffentlichten Schrift vorschlägt, die Leiter der nationalen Zentralbank, der die Führung im Wirtschaftsprozeß übertragen werden soll, durch ein Kollegium namhaft machen zu lassen, dem auch Vertreter des Lehrkörpers der Handelshochschulen anzugehören hätten.(14) Die so berufenen Direktoren mögen die Weisesten und Besten sein gleich den Philosophen des Plato, Kaufleute können sie in ihren Stellungen als Leiter eines sozialistischen Gemeinwesens nie sein, auch wenn sie es früher gewesen sein sollten.

Allgemein ist die Klage, daß den Leitungen der gemeinwirtschaftlichen Unternehmungen die Initiative fehlt. Man glaubt, daß man dies durch Aenderungen in der Organisation beheben könnte. Auch dies ist ein schwerer Irrtum. Man kann in einem gemeinwirtschaftlichen Betrieb die Führung nicht ganz in die Hand eines Mannes legen, weil man fürchten muß, daß er Fehler begehen wird, die der Gemeinschaft schweren Schaden zufügen werden. Macht man aber die entscheidenden Entschlüsse von Abstimmungen in Kollegien oder von der Zustimmung vorgesetzter Stellen abhängig, dann werden eben der Initiative der einzelnen Schranken gesetzt. Kollegien sind selten geneigt, kühne Neuerungen einzuführen. Das Fehlen freier Initiative im öffentlichen Betrieb beruht nicht auf Mängeln der Organisation; es ist im Wesen dieses Betriebes begründet. Es geht nicht an, einem Beamten, und sei er noch so hoch gestellt, die freie Verfügung über Produktionsmittel zu übertragen, und zwar um so weniger, je stärker man ihn materiell am guten Ausgang seiner Tätigkeit interessiert. Denn für Verluste kann man den vermögenslosen Leiter praktisch immer nur in moralischer Weise zur Verantwortung ziehen. Der materiellen Gewinstchance stünden also lediglich moralische Verlustchancen gegenüber. Der Eigentümer hingegen trägt selbst Verantwortung, weil er den (114) Schaden, der durch fehlgeschlagene Unternehmungen entsteht, in erster Reihe selbst zu spüren bekommt. Darin gerade liegt ja der charakteristische Unterschied zwischen liberaler und sozialistischer Produktionsweise.

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(12) Vgl. Vorläufiger Bericht der Sozialisierungskommission über die Frage der Sozialisierung des Kohlenbergbaues. Abgeschlossen am 15. Februar 1919. Berlin 1919, S. 13.

(13) Vgl. Kautsky, Vorrede zu Atlanticus (Ballod), Produktion und Konsum. im Sozialstaat. Stuttgart 1898, S. XIV.

(14) Vgl. Bauer, Der Weg zum Sozialismus. Wien 1919, S. 25.