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Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen (1920)

Einleitung
I. Die Verteilung der Konsumgüter im sozialistischen Gemeinwesen
II. Das Wesen der Wirtschaftsrechnung
III. Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen
IV. Verantwortung und Initiative im gemeinwirtschaftlichen Betrieb

I. Die Verteilung der Konsumgüter im sozialistischen Gemeinwesen

I. In der sozialistischen Gemeinschaft sind alle Produktionsmittel Eigentum des Gemeinwesens. Das Gemeinwesen allein kann über sie verfügen und ihre Verwendung in der Produktion bestimmen. Selbstredend wird das Gemeinwesen seine Befugnisse nur durch ein besonderes Organ auszuüben imstande sein, da es auf andere Weise nicht handelnd auftreten kann. Wie dieses Organ gebildet wird und wie in ihm und durch es der Gesamtwillen zum Ausdruck gelangt, ist für uns von untergeordneter Bedeutung. Man mag etwa an die Wahl des Organs und falls (88) es aus mehr als einer Einzelperson bestehen sollte, an Mehrheitsbeschlüsse der Körperschaftsmitglieder denken.

Der Eigentümer von Produktivgütern, der produziert hat und damit Eigentümer von Genußgütern geworden ist, hat nun die Wahl, entweder selbst zu konsumieren oder andere konsumieren zu lassen. Dem Gemeinwesen als Eigentümer von Genußgütern, die es durch die Produktion gewonnen hat, steht solche Wahl nicht zu. Es kann nicht selbst genießen, es muß Menschen genießen lassen. Wer soll genießen und was soll jeder genießen, das ist das sozialistische Verteilungsproblem.

Für den Sozialismus ist charakteristisch, daß die Verteilung der Genußgüter von der Produktion und ihren ökonomischen Bedingungen unabhängig sein muß. Es ist mit dem Wesen des Gemeineigentums an den Produktivgütern unvereinbar, auch nur ein Stück der Verteilung auf die ökonomische Zurechnung des Ertrages an die einzelnen Produktionsfaktoren zu stützen. Es wäre undenkbar, etwa vorweg dem Arbeiter den vollen Ertrage seiner Arbeit zukommen zu lassen und dann die Anteile der sachlichen Produktionsfaktoren einer besonderen Verteilung zu unterziehen. Denn es liegt, wie noch zu zeigen sein wird, im Wesen der. sozialistischen Produktionsweise, daß in ihr die Anteile der einzelnen Produktionsfaktoren am Ertrage der Produktion überhaupt nicht ermittelt werden können, daß sie jeder rechnerischen Ueberprüfung des Verhältnisses zwischen Produktionsaufwand und Produktionsertrag unzugänglich ist.

Welcher Grundsatz für die Zuweisung der Genußgüter an die einzelnen Genossen gewählt wird, ist für die Betrachtung der Probleme, die uns beschäftigen, ziemlich nebensächlich. Ob man dem Einzelnen nach seinen Bedürfnissen zumessen will, so daß der, der größere Bedürfnisse hat, mehr erhält als der, der kleinere hat, oder ob man die Würdigkeit des Einzelnen berücksichtigt, so daß der Bessere mehr bekommt als der Schlechtere, oder ob man in der tunlichst gleichmäßigen Verteilung das Ideal erblickt, so daß jeder möglichst die gleiche Menge erhält, oder ob man die dem Gemeinwesen geleisteten Dienste zum Maßstab der Verteilung nehmen will, so daß dem Fleißigeren mehr zukommt als dem Trägeren, immer wird die Sache so sein, daß jeder vom Gemeinwesen eine Zuweisung empfängt.

Nehmen wir der Einfachheit wegen an, daß die Zuweisung nach dem Grundsatze gleicher Behandlung aller Glieder der (89) Gesellschaft erfolgt; es ist nicht schwer, sich dann einzelne Korrekturen hinzuzudenken, die den Empfang je nach Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, besonderen Berufsnotwendigkeiten u. dgl. abstufen. Der Genosse erhält etwa ein Bündel von Anweisungen, die innerhalb einer bestimmten Zeit gegen eine bestimmte Menge verschiedener bestimmter Güter eingelöst werden. So kann er dann täglich mehrmals speisen, ständig Unterkunft finden, dann und wann Vergnügungen nachgehen, von Zeit zu Zeit ein neues Kleidungsstück empfangen. Ob die auf diese Weise vermittelte Versorgung der Bedürfnisse mehr oder weniger reich ausfällt, wird von der Ergiebigkeit der gesellschaftlichen Arbeit abhängen.

Es ist nicht notwendig, daß jeder seinen ganzen Anteil auch selbst verzehrt. Er kann einiges davon ungenossen verderben lassen, verschenken oder, sofern dies mit der Beschaffenheit des Gutes vereinbar ist, für späteren Bedarf aufheben. Er kann aber auch einiges vertauschen. Der Biertrinker wird auf die ihm zukommenden alkoholfreien Getränke gerne verzichten, wenn er mehr Bier erhalten kann; der Abstinent wird bereit sein, auf seinen Teil an geistigen Getränken zu verzichten, wenn er dafür andere Genüsse zu erwerben vermag. Der Kunstfreund wird auf den Besuch der Lichtspieltheater verzichten wollen, um öfter gute Musik hören zu können; der Banause wird den Wunsch haben, die Karten, die ihn zum Eintritt in die Stätten guter Kunst berechtigen, gegen Genüsse, für die er mehr Verständnis hat, hinzugeben. Sie alle werden zum Tauschen bereit sein. Gegenstand des Tauschverkehrs werden aber immer nur Genußgüter sein können. Die Produktivgüter stehen in der sozialistischen Gesellschaft ausschließlich im Eigentum der Gesamtheit; sie sind unveräußerliches Gemeineigentum und daher res extra commercium.

Der Tauschverkehr kann sich auch im engen Rahmen, den ihm die sozialistische Gesellschaftsordnung zuweist, vermittelt abspielen. Es ist nicht notwendig, daß er sich immer in den Formen des direkten Tausches abwickelt. Die gleichen Gründe, die auch sonst zur Herausbildung des indirekten Tausches geführt haben, werden ihn auch in der sozialistischen Gesellschaft im Interesse der Tauschenden als vorteilhaft erscheinen lassen. Daraus folgt, daß die sozialistische Gesellschaft auch Raum bietet für die Verwendung eines allgemein gebräuchlichen Tausch- (90) mittels, des Geldes. Seine Rolle wird in der sozialistischen Wirtschaft grundsätzlich dieselbe sein wie in der freien Wirtschaft, in beiden ist es der allgemein gebräuchliche Tauschvermittler. Doch die Bedeutung dieser Rolle ist in der auf dem Gemeineigentum an den Produktionsmitteln beruhenden Gesellschaftsordnung eine andere als in der auf dem Sondereigentum an den Produktionsmitteln beruhenden. Sie ist hier unvergleichlich geringer, weil der Tausch in dieser Gesellschaft eine viel geringere Bedeutung hat, weil er hier überhaupt nur Konsumgüter erfaßt. Da kein Produktivgut im Tauschverkehre umgesetzt wird, wird es unmöglich, Geldpreise der Produktivgüter zu erkennen. Die Rolle, die das Geld in der freien Wirtschaft auf dem Gebiete der Produktionsrechnung spielt, kann es in der sozialistischen Gemeinschaft nicht behalten. Die Wertrechnung in Geld wird hier unmöglich.

Die Austauschverhältnisse, die sich im Verkehre zwischen den Genossen herausbilden, können von der Leitung der Produktion und Verteilung nicht unbeachtet gelassen werden. Sie muß diese Austauschverhältnisse zugrunde legen, wenn sie bei der Zuweisung der Kopfanteile verschiedene Güter wechselseitig vertretbar machen will. Wenn sich im Tauschverkehr das Verhältnis 1 Zigarre gleich 5 Zigaretten ausgebildet hat, so könnte die Leitung nicht ohne weiteres erklären, 1 Zigarre sei gleich 3 Zigaretten, um nach diesem Verhältnis den einen nur Zigarren, den anderen nur Zigaretten zuzuweisen. Wenn die Tabakanweisung nicht gleichmäßig für jedermann zu einem Teil in Zigarren und zum andern in Zigaretten eingelöst werden soll, wenn, entweder weil sie es so wünschen oder weil die Einlösungsstelle augenblicklich nicht anders kann, die einen nur Zigarren, die andern nur Zigaretten erhalten sollen, dann müßten dabei die Austauschverhältnisse des Marktes berücksichtigt werden. Sonst würden dabei alle, die Zigaretten empfangen haben, denen gegenüber, die Zigarren empfangen haben, benachteiligt werden. Denn der, der eine Zigarre empfangen hat, kann dafür fünf Zigaretten eintauschen, während ihm die Zigarre nur mit drei Zigaretten berechnet wird.

Veränderungen der Austauschverhältnisse im Verkehre zwischen den Genossen werden mithin die Wirtschaftsleitung zu entsprechenden Aenderungen in den Ansätzen für die Vertretbarkeit der verschiedenen Genußgüter veranlassen müssen.

(91) Jede solche Veränderung zeigt an, daß das Verhältnis zwischen den einzelnen Bedürfnissen der Genossen und ihrer Befriedigung sich verschoben hat, daß die einen Güter nun stärker begehrt werden als die andern. Die Wirtschaftsleitung wird wohl voraussichtlich bestrebt sein, dies auch in der Produktion zu beachten. Sie wird danach streben, die Erzeugung der stärker begehrten Artikel zu erweitern, die der schwächer begehrten einzuschränken. Aber eines wird sie nicht tun können: sie wird es nicht dem einzelnen Genossen überlassen dürfen, seine Tabakkarte nach Belieben entweder in Zigarren oder in Zigaretten einzulösen. Würde sie dem Genossen das Recht geben, zu wählen, ob er Zigarren oder Zigaretten beziehen will, dann könnte es geschehen, daß mehr Zigarren oder mehr Zigaretten verlangt werden als erzeugt wurden, daß anderseits aber Zigaretten oder Zigarren in den Abgabestellen liegen bleiben, weil sie niemand abverlangt hat.

Stellt man sich auf den Standpunkt der Arbeitswerttheorie, dann gibt es für dieses Problem freilich eine einfache Lösung. Der Genosse empfängt für die geleistete Arbeitsstunde eine Marke, die ihn zur Empfangnahme des Produktes einer Arbeitsstunde, gemindert um den Abzug für die Bestreitung der der gesamten Gesellschaft obliegenden Lasten wie Unterhalt der Erwerbsunfähigen, Kulturausgaben u. dgl., berechtigt. Nimmt man den Abzug für die Deckung des von der Gemeinschaft zu tragenden Aufwandes mit der Hälfte des Arbeitsproduktes an, dann hätte jeder Arbeiter, der eine Stunde gearbeitet hat, das Recht, Produkte, zu deren Erzeugung eine halbe Stunde Arbeit aufgewendet wurde, zu empfangen. Die gebrauchs- oder verbrauchsreifen Güter und Nutzleistungen können vom Markt von jedermann, der imstande ist, für sie das Doppelte der für ihre Erzeugung aufgewendeten Arbeitszeit zu vergüten, herausgenommen und dem eigenen Verbrauch oder Gebrauch zugeführt werden. Für die Klarstellung unserer Probleme wird es besser sein, wenn wir annehmen, daß die Gemeinschaft dem Arbeiter vorweg keinen Abzug für die Bestreitung des ihr obliegenden Aufwandes macht, vielmehr die Mittel, die sie benötigt, durch eine Einkommensbesteuerung ihrer arbeitenden Glieder beschafft. Es würde also jeder geleisteten Arbeitsstunde das Recht gegeben werden, Güter, zu deren Erzeugung eine Stunde Arbeit aufgewendet werden mußte, an sich zu ziehen.

(92) Eine derartige Regelung der Verteilung wäre jedoch undurchführbar, da die Arbeit keine einheitliche und. gleichartige, Größe darstellt. Zwischen den verschiedenen Arbeitsleistungen besteht qualitativ ein Unterschied, der mit Rücksicht auf die Verschiedenheit der Gestaltung von Nachfrage und Angebot nach ihren Erzeugnissen zu verschiedener Bewertung führt. Man kann das Angebot an Bildern ceteris paribus nicht vermehren, ohne daß die Qualität des Erzeugnisses leidet. Man kann dem Arbeiter, der eine Stunde einfachster Arbeit geleistet, hat, nicht das Recht geben, das Produkt einer Stunde höher qualifizierter Arbeit zu verzehren. Es ist im sozialistischen Gemeinwesen überhaupt unmöglich zwischen der Bedeutung einer Arbeitsleistung für die Gesellschaft und ihrer Beteiligung am Ertrag des gesellschaftlichen Produktionsprozesses eine Verbindung herzustellen. Die Entlohnung der Arbeit kann hier nur willkürlich sein; auf der wirtschaftlichen Zurechnung Ertrages wie in der auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln beruhenden freien Verkehrswirtschaft kann man sie nicht aufbauen, da, wie wir sehen werden, die Zurechnung im sozialistischen Gemeinwesen nicht möglich ist. Die ökonomischen Tatsachen ziehen der Macht der Gesellschaft, die Entlohnung des Arbeiters nach Belieben festzusetzen, eine feste Grenze: auf keinen Fall wird die Lohnsumme auf die Dauer das gesellschaftliche Einkommen übersteigen können. Innerhalb dieser Grenze aber kann sie frei schalten. Sie kann ohne weiteres festsetzen, daß alle Arbeiten als gleichwertig erachtet werden, daß für jede Arbeitsstunde, ohne Unterschied ihrer Qualität, dieselbe Vergütung geleistet wird; sie kann ebensogut eine Unterscheidung zwischen den einzelnen Arbeitsstunden je nach der Qualität der geleisteten Arbeit machen. Doch in beiden Fällen müßte sie es sich vorbehalten, über die Verteilung der Arbeitsprodukte besonders zu verfügen. Daß der, der eine Arbeitsstunde geleistet hat, auch berechtigt sein sollte, das Produkt einer Arbeitsstunde zu konsumieren, könnte sie – auch wenn man von der Verschiedenheit der Qualität der Arbeit und ihrer Erzeugnisse absehen und überdies annehmen wollte, daß es möglich sei, festzustellen, wieviel Arbeit in jedem Arbeitsprodukt steckt – nie verfügen. Denn in den einzelnen wirtschaftlichen Gütern sind außer der Arbeit auch Sachkosten enthalten. Ein Erzeugnis, für welches mehr Rohstoff verwendet wurde, (93) kann nicht einem anderen gleichgesetzt werden, für das weniger Rohstoff gebraucht wurde.