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Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen (1920)

Einleitung
I. Die Verteilung der Konsumgüter im sozialistischen Gemeinwesen
II. Das Wesen der Wirtschaftsrechnung
III. Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen
IV. Verantwortung und Initiative im gemeinwirtschaftlichen Betrieb

III. Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen

III. Haben wir es wirklich mit notwendigen Folgen des Gemeineigentums an den Produktionsmitteln zu tun? Gibt es keinen Weg, auf dem man mit der Gemeinwirtschaft eine Art der Wirtschaftsrechnung verbinden könnte?

In jedem größeren Unternehmen sind die einzelnen Betriebe oder Betriebsabteilungen in der Verrechnung bis zu einem gewissen Grade selbständig. Sie verrechnen gegenseitig Materialien und Arbeit, und es ist jederzeit möglich, für jede einzelne Gruppe eine besondere Bilanz aufzustellen und die wirtschaftlichen Ergebnisse ihrer Tätigkeit rechnerisch zu erfassen. Man vermag auf diese Weise festzustellen, mit welchem Erfolg jede einzelne Abteilung gearbeitet hat und darnach Entschlüsse über die Umgestaltung, Einschränkung, Auflassung oder Erweiterung bestehender Gruppen und über die Einrichtung neuer zu fassen. Gewisse Fehler sind bei solchen Berechnungen freilich unvermeidlich. Sie rühren zum Teil von den Schwierigkeiten her, die ich bei der Aufteilung der Generalunkosten ergeben. Andere Fehler wieder entstehen aus der Notwendigkeit, in mancher Hinsicht mit nicht genau ermittelbaren Daten zu rechnen, z. B. wenn man bei Ermittlung der Rentabilität eines Verfahrens die Amortisation der verwendeten Maschinen unter Annahme einer bestimmten Dauer ihrer Verwendungsfähigkeit berechnet. Doch alle derartigen Fehler können innerhalb gewisser enger Grenzen gehalten werden, so daß sie das Gesamtergebnis der Rechnung nicht stören. Was an Ungewißheit übrig bleibt, kommt auf Rechnung der Ungewißheit zukünftiger Verhältnisse, die im dynamischen Zustande der Volkswirtschaft notwendig gegeben ist.

Es scheint nun nahezuliegen, in analoger Weise es auch im sozialistischen Gemeinwesen mit selbständiger Verrechnung der einzelnen Produktionsgruppen zu versuchen. Doch das ist ganz und gar unmöglich. Denn jene selbständige Verrechnung (105) der einzelnen Zweige eines und desselben Unternehmens beruht ausschließlich darauf, daß eben im Marktverkehr für alle Arten von verwendeten Gütern und Arbeiten Marktpreise gebildet werden, die zur Grundlage der Rechnung genommen werden können. Wo der freie Marktverkehr fehlt, gibt es keine Preisbildung; ohne Preisbildung gibt es keine Wirtschaftsrechnung.

Man könnte etwa daran denken, zwischen den einzelnen Betriebsgruppen den Austausch zuzulassen, um auf diesem Wege zur Bildung von Austauschverhältnissen (Preisen) zu gelangen und so eine Grundlage für die Wirtschaftsrechnung auch im sozialistischen Gemeinwesen zu schaffen. Man konstituiert im Rahmen der einheitlichen Wirtschaft, die kein Sondereigentum an den Produktionsmitteln kennt, die einzelnen Arbeitsgruppen als selbständig Verfügungsberechtigte, die sich zwar nach den Weisungen der obersten Wirtschaftsleitung zu benehmen haben, sich jedoch gegenseitig Sachgüter und Arbeitsleistungen nur gegen Entgelt, das in einem allgemeinen Tauschmittel zu leisten wäre, überweisen. So ungefähr stellt man sich wohl die Einrichtung des sozialistischen Betriebes der Produktion vor, wenn man heute von Vollsozialisierung u. dgl. spricht. Aber wieder kommt man dabei um den entscheidenden Punkt nicht herum. Austauschverhältnisse der Produktivgüter können sich nur auf dem Boden des Sondereigentums an den Produktionsmitteln bilden. Wenn die »Kohlengemeinschaft« an die »Eisengemeinschaft« Kohle liefert, kann sich kein Preis bilden, es wäre denn, die beiden Gemeinschaften seien Eigentümer der Produktionsmittel ihrer Betriebe. Das wäre aber keine Sozialisierung, sondern Arbeiterkapitalismus und Syndikalismus.

Für den auf dem Boden der Arbeitswerttheorie stehenden sozialistischen Theoretiker steht die Sache freilich recht einfach. »Sobald die Gesellschaft sich in den Besitz der Produktionsmittel setzt und sie in unmittelbarer Vergesellschaftung zur Produktion verwendet, wird die Arbeit eines jeden, wie verschieden auch ihr spezifisch nützlicher Charakter sei, von vornherein und direkt gesellschaftliche Arbeit. Die in einem Produkt steckende Menge gesellschaftlicher Arbeit braucht dann nicht erst auf einem Umweg festgestellt zu werden; die tägliche Erfahrung zeigt direkt an, wieviel davon im Durchschnitt nötig ist. Die Gesellschaft kann einfach berechnen, wieviel Arbeitsstunden in einer Dampfmaschine, einem Hektoliter Weizen (106) der letzten Ernte, in hundert Quadratmeter Tuch von bestimmter Qualität stecken. … Allerdings wird auch dann die Gesellschaft wissen müssen, wieviel Arbeit jeder Gebrauchsgegenstand zu seiner Herstellung bedarf. Sie wird den -Produktionsplan einzurichten haben nach den Produktionsmitteln, wozu besonders auch die Arbeitskräfte gehören. Die Nutzeffekte der verschiedenen Gebrauchsgegenstände, abgewogen untereinander und gegenüber den zu ihrer Herstellung nötigen Arbeitsmengen, werden den Plan schließlich bestimmen. Die Leute machen alles sehr einfach ab ohne Dazwischenkunft des vielberühmten ‚Werts‘.«(7)

Es ist hier nicht unsere Aufgabe, die kritischen Einwände gegen die Arbeitswerttheorie noch einmal vorzubringen. Sie können uns in diesem Zusammenhange nur insoweit interessieren, als sie für die Beurteilung der Verwendbarkeit der Arbeit für die Wertrechnung eines sozialistischen Gemeinwesens von Belang sind.

Die Arbeitsrechnung berücksichtigt dem ersten Anschein nach auch die natürlichen, außerhalb des Menschen gelegenen Bedingungen der Produktion. Im Begriff der gesellschaftlich notwendigen durchschnittlichen Arbeitszeit wird schon das Gesetz vom abnehmenden Ertrag soweit berücksichtigt, als es wegen der Verschiedenheit der natürlichen Produktionsbedingungen wirksam wird. Steigt die Nachfrage nach einer Ware und müssen daher schlechtere natürliche Produktionsbedingungen zur Ausbeutung herangezogen werden, dann steigt auch die zur Erzeugung einer Einheit durchschnittlich benötigte gesellschaftliche Arbeitszeit. Gelingt es, günstigere natürliche Produktionsbedingungen ausfindig zu machen, dann sinkt das gesellschaftlich benötigte Arbeitsquantum.(8) Diese Berücksichtigung der natürlichen Bedingungen der Produktion reicht aber nur genau so weit, als sie sich in Veränderungen der gesellschaftlich notwendigen Arbeitsmenge äußert. Darüber hinaus versagt die Arbeitsrechnung. Sie läßt den Verbrauch an sachlichen Produktionsfaktoren ganz außer acht. Die zur Erzeugung der beiden Waren P und Q erforderliche gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit betrage je 10 Stunden. Zur Erzeugung (107) sowohl einer Einheit von P als auch einer Einheit von Q sei außer der Arbeit auch das Material a, von dem eine Einheit in einer Stunde gesellschaftlich notwendiger Arbeit erzeugt wird, zu verwenden, und zwar benötigt man zur Erzeugung von P zwei Einheiten von a und überdies 9 Arbeitsstunden, für die Erzeugung von Q eine Einheit von a und überdies 9 Arbeitsstunden. In der Arbeitsrechnung erscheinen P und Q als Aequivalente, in der Wertrechnung müßte P höher bewertet werden als Q. Jene ist falsch, diese allein entspricht dem Wesen und dem Zwecke der Rechnung. Es ist wahr, daß dieses Mehr, um das die Wertrechnung P höher stellt als Q, dieses materielle Substrat »ohne Zutun des Menschen von Natur aus vorhanden ist«.(9) Doch wenn es nur in einer solchen Menge vorhanden ist, daß es ein Gegenstand der Bewirtschaftung wird, muß es auch in irgendeiner Form in die Wertrechnung eingehen.

Der zweite Mangel der Arbeitsrechnung ist die Nichtberücksichtigung der verschiedenen Qualität der Arbeit. Für Marx ist alle menschliche Arbeit ökonomisch von gleicher Art, weil sie immer »produktive Verausgabung von menschlichem Hirn, Muskel, Nerv, Hand usw.« ist. »Komplizierte Arbeit gilt nur als potenzierte oder vielmehr multiplizierte einfache Arbeit, so daß ein kleineres Quantum komplizierter Arbeit gleich einem größeren Quantum einfacher Arbeit ist. Daß diese Reduktion beständig vor sich geht, zeigt die Erfahrung. Eine Ware mag das Produkt der kompliziertesten Arbeit sein, ihr Wert setzt sie dem Produkt einfacher Arbeit gleich und stellt daher selbst nur ein bestimmtes Quantum einfacher Arbeit dar«.(10) Böhm-Bawerk hat nicht unrecht, wenn er diese Argumentation »ein theoretisches Kunststück von verblüffender Naivität« nennt.(11) Man kann es für die Beurteilung von Marxens Behauptung füglich dahin gestellt sein lassen, ob es, möglich ist, ein einheitliches physiologisches Maß aller menschlichen Arbeit – der physischen sowohl als auch der sogenannten geistigen – zu finden. Denn fest steht, daß unter den Menschen selbst Verschiedenheiten der Fähigkeiten und Geschicklichkeiten bestehen, die es mit sich bringen, daß die Arbeitsprodukte (108) und Arbeitsleistungen verschiedene Qualität haben. Das, was für die Entscheidung der Frage, ob die Arbeitsrechnung als Wirtschaftsrechnung verwendbar ist, den Ausschlag geben muß, ist, ob es möglich ist, verschiedenartige Arbeit ohne das Zwischenglied der Bewertung ihrer Produkte durch die wirtschaftenden Subjekte auf einen einheitlichen Nenner zu bringen. Der Beweis, den Marx dafür zu erbringen sucht, ist mißlungen. Die Erfahrung zeigt wohl, daß die Waren ohne Rücksicht darauf, ob sie Produkte einfacher oder komplizierter Arbeit sind, in Austauschverhältnisse gesetzt werden. Doch dies wäre nur dann ein Beweis dafür, daß bestimmte Mengen einfacher Arbeit unmittelbar bestimmten Mengen komplizierter Arbeit gleichgesetzt werden, wenn es ausgemacht wäre, daß die Arbeit die Quelle des Tauschwertes ist. Das ist aber nicht nur nicht ausgemacht, sondern gerade das, was Marx mit jenen Ausführungen erst beweisen will.

Daß im Tauschverkehr sich im Lohnsatz ein Substitutionsverhältnis zwischen einfacher und komplizierter Arbeit herausgebildet – worauf Marx in jener Stelle nicht anspielt – ist ebensowenig ein Beweis für diese Gleichartigkeit. Diese Gleichsetzung ist ja ein Ergebnis des Marktverkehres, nicht seine Voraussetzung. Die Arbeitsrechnung müßte für die Substitution der komplizierten Arbeit durch einfache Arbeit ein willkürliches Verhältnis festsetzen, was ihre Verwendbarkeit für die Wirtschaftsführung ausschließt.

Man hat lange gemeint, die Arbeitswerttheorie sei für den Sozialismus notwendig, um die Forderung nach der Vergesellschaftung der Produktionsmittel ethisch zu begründen. Wir wissen heute, daß dies ein Irrtum ist. Wenn auch die Mehrzahl ihrer sozialistischen Anhänger sie in dieser Weise verwendet hat, und wenn selbst auch Marx sich, wiewohl er grundsätzlich einen anderen Standpunkt einnahm, von diesem Mißgriff nicht ganz frei zu halten vermochte, so ist doch klar, daß einerseits das politische Verlangen nach Einführung der sozialistischen Produktionsweise weder einer Unterstützung durch die Arbeitswerttheorie bedarf, noch auch eine Unterstützung von dieser Lehre erhalten kann, und daß andererseits auch diejenigen, die eine andere Anschauung über das Wesen und den Ursprung des wirtschaftlichen Wertes vertreten, der Gesinnung nach Sozialisten sein können. Doch in einem anderen Sinn, als man (109) es gewöhnlich meint, ist die Arbeitswerttheorie eine innere Notwendigkeit für die, die die sozialistische Produktionsweise befürworten. Sozialistische Produktion im großen könnte rationell nur durchführbar erscheinen, wenn es eine objektiv erkennbare Wertgröße geben würde, die die Wirtschaftsrechnung auch in der verkehr- und geldlosen Wirtschaft ermöglichen würde. Als solche könnte aber denkbarerweise nur die Arbeit in Betracht kommen.

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(7) Vgl. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. 7. Aufl. Stuttgart 1916, S. 335 f.

(8) Vgl. Marx, Das Kapital. I. Bd. 7. Auf 1. Hamburg 1914, S. 5 ff

(9) Ebendort S. 9.

(10) Ebendort S. 10 f.

(11) Vgl. Böhm-Bawerk, Kapital und Kapitalzins. 3. Aufl. 1. Abt. Innsbruck 1914, S. 531.