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Kapitel 1: Über die Begründbarkeit normativer Gesellschaftstheorien. Die Theorie des individualistischen Anarchismus

I.
II.
III.
IV.
Fußnoten zu Kapitel 1

II.

[S.11] Ich beginne mit der Frage 'Was ist unter einer
wissenschaftlichen Begründung zu verstehen?', um dann die
Begründungsfähigkeit auch von Normen zu demonstrieren.

[S.12] Eine Aussage – etwa der empirischen Wissenschaften -
gilt als begründet, wenn man sie als objektiv gültig nachweisen kann,
im Unterschied zu Aussagen, die lediglich auf subjektiver Einbildung
oder Geschmack beruhen. Diese Feststellung verschiebt aber das Problem
nur: wenn 'begründen' heißt 'als objektiv (und nicht bloß subjektiv)
begründen', was macht dann eine Aussage zu einer objektiven Aussage?
Hier hört man gelegentlich: 'die Tatsache, daß Aussage und Realität
übereinstimmen'. Aber diese Antwort ist natürlich falsch: denn auch die
Feststellung 'Aussage und Realität stimmen überein' ist ja zunächst
einmal wieder nur eine weitere subjektive Aussage. Auch Personen, die
fliegende Untertassen wahrnehmen, behaupten selbstverständlich, daß
diese Aussage mit der Realität übereinstimmt, aber dennoch würde man
diese Wahrnehmung nicht als objektiv begründet auffassen wollen. So
kommt man also nicht weiter. Stattdessen wird – hier herrscht
weitgehend Einigkeit in der Wissenschaftslehre – Objektivität durch
Intersubjektivität definiert:[FN3]
objektive Aussagen sind intersubjektiv überprüfbare Aussagen. Aber was
heißt das? Bedeutet das, daß Aussagen, um als objektiv gelten zu
können, faktisch von jedermann bestätigt sein müssen? Natürlich nicht!
Wenn man so weit ginge, gäbe es in den gesamten Wissenschaften nicht
eine einzige objektiv begründete Aussage. Und eine so weitgehende
Forderung wäre auch unsinnig: Man weiß nämlich, daß es Personen gibt,
die, weil Zeit knapp ist, etwas Besseres zu tun haben als an dem Prozeß
der Überprüfung von Aussagen teilzunehmen; wir wissen, daß es Personen
gibt, die intellektuell unfähig sind, bestimmte Aussagen zu überprüfen;
wir wissen, daß es Personen gibt, die, trotz Zeit und intellektuellem
Vermögen, kein Interesse an der Verbreitung wahrer, sondern falscher
Informationen haben; und schließlich wissen wir, daß Personen, trotz
Teilnahme am Überprüfungsprozeß, weil sie unter Gewaltandrohung stehen,
überhaupt nicht als autonome Subjekte mit einer eigenen Meinung
gewertet werden können, und somit als objektivierende Instanz von
vornherein ausfallen.

All dies würde den Versuch, für eine bestimmte Aussage eine
faktisch universelle Zustimmung zu erlangen, von Anfang an illusorisch
erscheinen lassen. Dennoch läßt sich der (empirische) Wissenschaftler
in seinem Anspruch auf Objektivität bekanntlich nicht beirren.
Angesichts der Existenz von Schwachköpfen, Lügnern usw. verlangt er
jedoch von Aussagen, um als objektiv gelten zu können, nur, daß sie im
Prinzip intersubjektiv überprüfbar sein müssen: objektiv begründete
Aussagen sind demnach solche Aussagen, denen jedermann qua autonomes
(d. i. nicht unter Gewaltandrohung stehendes) Subjekt zustimmen kann,
vorausgesetzt, man ist als solches ausschließlich an der Wahrheit
interessiert, man ist hierzu intellektuell befähigt, und man hat im
übrigen nichts Besseres zu tun, als Aussagen zu überprüfen.[FN4]

 

Auf diese Weise lassen sich auch Normen begründen, das ist meine
Behauptung. Aber welche Normen, und ist es nicht eine offene empirische
Frage, welche Normen sich so, wenn überhaupt, begründen lassen? Um mit
dem zweiten Frageteil zu [S.13] beginnen: Im Unterschied zu empirischen
Aussagen lassen sich Normen ohne Rückgriff auf Erfahrung begründen.
Hierin den analytischen Disziplinen ähnlicher, läßt sich vielmehr ein
quasi-aprioristischer Beweis bezüglich der Begründung bestimmter Normen
führen: wann immer nämlich ein Wissenschaftler behauptet, bestimmte
Aussagen könnten als begründet gelten, muß er bereits eine bestimmte
Norm als begründet unterstellen – und zwar die Norm 'du darfst, wenn du

irgend etwas, ganz gleich was, als begründet nachweisen willst, keine
physische Gewalt gegen irgendjemanden ausüben oder androhen'. Diese
Norm ergibt sich aus der gerade getroffenen Feststellung hinsichtlich
der Bedeutung von 'Begründung': denn eine Aussage kann nur dann als
begründet gelten, wenn ihr jedes Subjekt qua autonomes Subjekt im
Prinzip zustimmen kann; greift man jedoch in die Autonomie anderer
Subjekte ein, indem man sie durch Gewaltanwendung oder -drohung für die
eigenen Zwecke instrumentalisiert (sei es, indem man jemanden gegen
seinen Willen zur Teilnahme am Überprüfungsprozeß zwingt, oder sei es
auch, indem man ihn gegen seinen Willen zur Aufgabe seines Interesses
an der Aufrechterhaltung oder Verbreitung von Lügen zwingt und auf
Wahrheit verpflichtet), dann begibt man sich gerade der Möglichkeit,
irgendetwas noch 'als in der Sache begründet' nachweisen zu können. Die
Norm 'keine Person hat das Recht, anderen Personen gegenüber physische
Gewalt anzuwenden oder anzudrohen' ist also (kantisch gesprochen) die
Bedingung der Möglichkeit von wissenschaftlichen Begründungen und muß
insofern ihrerseits als begründet gelten: 'Begründen' heißt 'gewaltfrei
begründen', und Gewaltfreiheit muß darum von jedem Wissenschaftler
immer schon, ob ihm dies bewußt ist oder nicht, als allgemein
anerkennungsfähig unterstellt werden.

Dies wird vielleicht noch deutlicher, wenn man das Gegenstück zu der
gerade angegebenen Norm formuliert, d. i. die Norm 'bestimmte Personen
haben das Recht gegenüber anderen Personen (ohne deren Zustimmung)
physische Gewalt anzuwenden bzw. Anzudrohen', und dann unmittelbar
erkennt, daß diese Norm (wie alle Normen, die sich hinsichtlich ihrer
inhaltlichen Bestimmungen auf sie logisch zurückführen lassen) nicht
als begründungsfähig angesehen werden kann, weil ihr jedenfalls die
Personen nicht qua autonome Subjekte zustimmen könnten, denen gegenüber
die Norm Gewalttätigkeit zuließe.

Ich nenne diese erste in quasi-aprioristischer Weise als begründet
nachgewiesene Norm das Gewaltausschlußprinzip. Neben diesem Prinzip,
das ein uneingeschränktes Verfügungsrecht jeder Person über ihren
eigenen Körper festlegt, und das umgekehrt jeden unaufgeforderten
Eingriff in die physische Integrität des Körpers einer anderen Person
als nicht begründbare bzw. nicht rechtfertigbare Aggression einstuft,
läßt sich noch ein zweites Prinzip objektiv begründen. Dies zweite
Prinzip, das naturgemäß, um seinerseits als begründet gelten zu können,
mit dem ersten logisch kompatibel sein muß, heißt 'das Recht auf
ursprüngliche Appropriation'.[FN5]
Es besagt: Jede Person kann – in Analogie zur Verfügungsgewalt über
ihren eigenen Körper – die Verfügungsgewalt über alle anderen Dinge
erlangen, die noch von keiner [S.14] anderen Person bearbeitet worden
sind, sondern sich im Naturzustand befinden, indem sie diese Sachen
ihrerseits als erste bearbeitet und damit für jedermann erkennbar als
ihr Eigentum sichtbar macht. Sind Dinge erst einmal auf diese Weise
angeeignet worden, dann kann Eigentum an ihnen nur noch aufgrund
freiwilliger vertraglicher Übertragung von Eigentumstiteln von einer
Person auf eine andere begründet werden. Jeder Versuch, sich Eigentum
auf andere Weise anzueignen, und jeder Versuch, das Eigentum anderer
Personen unaufgefordert in seiner physischen Integrität zu verändern,
ist – in Analogie zu Angriffen auf den Körper anderer Personen – eine
nicht begründbare bzw. rechtfertigbare Aggression.

Die Kompatibilität dieser Norm mit dem Gewaltausschlußprinzip soll auf
dem Weg eines argumentum a contrario nachgewiesen werden: hätte ich
nicht das Recht, Eigentum an unbearbeiteten Gegenständen durch eigene
Arbeit zu erwerben, und hätten andere Personen umgekehrt das Recht, mir
den Eigentumserwerb an Dingen, die sie selbst nicht bearbeitet haben,
sondern die entweder von niemandem oder nur von mir bearbeitet worden
sind, streitig zu machen,[FN6]
so wäre dies nur denkbar, wenn man Eigentumstitel nicht aufgrund von
Arbeit, sondern aufgrund bloßer verbaler Deklaration begründen könnte.
Eigentumsbegründung durch Deklaration ist aber mit dem
Gewaltausschlußprinzip inkompatibel; denn könnte man Eigentum per
Deklaration begründen, so könnte ich auch den Körper anderer Personen
als meinen Körper deklarieren und dann mit ihm tun und lassen, was ich
will. Das entspricht aber offensichtlich nicht der durch das
Gewaltausschlußprinzip getroffenen Aussage, bei der eine eindeutige
Unterscheidung zwischen meinem Körper und den Körpern anderer Personen
getroffen wird, die nur deshalb so eindeutig möglich ist, weil – bei
Körpern nicht anders als bei allen anderen Dingen – die Unterscheidung
zwischen 'mein' und 'dein' nicht aufgrund von Worten, sondern aufgrund
von Taten erfolgt: aufgrund der Feststellung nämlich, daß etwas
faktisch – für jedermann an sichtbaren Zeichen ablesbar – Ausdruck bzw.
Vergegenständlichung meines Willens ist, oder Ausdruck bzw.
Vergegenständlichung eines anderen Willens.

Damit ist die Kompatibilität des Rechts auf ursprüngliche Appropriation
mit dem Gewaltausschlußprinzip nachgewiesen, und das Recht auf
ursprüngliche Appropriation als zweite allgemein begründbare Norm
etabliert. Umgekehrt muß das Gegenstück hierzu, wie auch intuitiv
leicht erkennbar, als nicht allgemein begründbar gelten: eine derartige
Norm würde nämlich im Klartext besagen, daß andere Personen das Recht
haben, mir ohne meine Zustimmung das wegzunehmen oder streitig zu
machen oder in seiner physischen Integrität zu verändern, was [S.14]
ausschließlich Frucht meiner (und jedenfalls nicht ihrer) Arbeit ist -
und fraglos wäre eine solche Norm (wie alle normativen Bestimmungen,
die sich auf sie logisch reduzieren lassen) für mich qua autonomes
Subjekt unannehmbar.[FN7]