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Kapitel 1: Über die Begründbarkeit normativer Gesellschaftstheorien. Die Theorie des individualistischen Anarchismus

I.
II.
III.
IV.
Fußnoten zu Kapitel 1

III.

[S.14] Soweit zur Darstellung der Theorie in abstracto und zum Nachweis
ihrer objektiven Begründbarkeit. Ich komme nun zu der Frage der
Anwendung der Theorie, der Frage, in welchem Ausmaß faktisch geltende
gesellschaftliche Normensysteme in Übereinstimmung mit diesem
rechtfertigbaren Normensystem stehen oder nicht. Allgemein formuliert
gilt: alle Handlungen bzw. Maßnahmen sind rechtfertigbar, die in
Übereinstimmung mit den gerade formulierten Prinzipien stehen; alle
Handlungen bzw. Maßnahmen dagegen, die mit den Bestimmungen dieser
Regeln nicht im Einklang stehen, oder die mit diesen Regeln
unvereinbare Regeln durchzusetzen versuchen, müssen als nicht
begründbar gelten.

Nicht zuletzt im Hinblick auf die folgenden Ausführungen soll kein
Zweifel hinsichtlich der Bedeutung dieser Feststellung aufkommen. Mit
dieser Feststellung wird natürlich keineswegs ausgeschlossen, daß
Personen dessen ungeachtet andere Regeln durchzusetzen trachten. Die
Situation in Bezug auf Normen ist nicht anders als in Bezug auf
Aussagen der empirischen Wissenschaften: Auch die Tatsache, daß
bestimmte empirische Aussagen begründet sind und andere nicht,
impliziert mitnichten, daß Personen nur begründete Aussagen vertreten,
und in ihren Handlungen nur von begründeten Aussagen ausgehen. Personen
können nicht nur tatsächlich von falschen empirischen Annahmen
ausgehen, sie können sogar ein ausgesprochenes Interesse an der
Verbreitung oder Aufrechterhaltung falscher empirischer Informationen
haben. Gleichwohl behält die Unterscheidung von begründeten und
unbegründeten empirischen Aussagen ihren Sinn: man schließt nicht aus
der Tatsache, daß bestimmte Personen falsche Überzeugungen teilen oder
verbreiten, daß es zwischen wahren und falschen Aussagen keinen
Unterschied gibt, [S.15] sondern diejenigen Personen, die dies tun,
werden entweder als uninformiert bezeichnet, oder als bewußte Lügner.
Entsprechendes gilt im Hinblick auf Normen: natürlich gibt es Personen
- sogar in riesiger Anzahl – die nicht entsprechend den gerade als
begründet nachgewiesenen Normen handeln oder andere Normen propagieren.
Aber die Unterscheidung von begründbaren und nicht begründbaren Normen
bricht damit sowenig zusammen wie die von "wahr" und "falsch" aufgrund
der Existenz uninformierter oder lügender Personen zusammenbricht;
sondern Personen, die andere Normen vertreten, müssen – wieder -
entweder als uninformiert oder als unehrenhaft gelten, sofern man ihnen
nämlich einsichtig gemacht hat, daß die von ihnen propagierten Normen
zwar angesichts bestimmter Interessen verständlich sein mögen, aber
doch keiner allgemeinen Begründung fähig sind.

Untersucht man nun die Übereinstimmung von gesellschaftlicher Realität
und dem begründungsfähigen Normensystem, so ergibt sich zunächst diese
wenig überraschende erste Feststellung: Mord, Totschlag,
Körperverletzung, Raub, Betrug, Vertragsbruch sind offensichtlich
Taten, die nicht in Übereinstimmung mit dem dargestellten Regelsystem
stehen und also als unrechtfertigbar zu gelten haben. Dann aber kommt
eine überraschende zweite Feststellung, die im übrigen erklärt, warum
die normative Gesellschaftstheorie, die hier dargelegt wird, Theorie
des individualistischen Anarchismus oder auch 'private property
anarchism' genannt wird.[FN8]
Sie lautet: es gibt in der Realität nur eine Gruppe von Personen, die
regelmäßig gegen das dargestellte, objektiv begründbare Regelsystem
verstoßen, und dennoch regelmäßig ungestraft davonkommen kann (Mörder,
Betrüger, Vertragsbrecher u.ä. gehen in keiner Gesellschaft regelmäßig
straffrei aus!) – die Gruppe der den Staat und seine Organe
verkörpernden Personen. Staaten, um es abgekürzt zu sagen, begehen
permanent nicht zu rechtfertigende und insofern als Aggression zu
bewertende Handlungen gegenüber Personen, die sich ihrerseits keinerlei
Aggression gegen Körper oder Eigentum anderer Personen haben zuschulden
kommen lassen.

Um gleich die bedeutendste Form staatlicher Aggression anzusprechen:


Staaten erzwingen permanent einen nicht-freiwilligen Leistungsaustausch
zwischen sich und Bürgern. Während man sich normalerweise – in
Übereinstimmung mit dem rechtfertigbaren Regelsystem – (wenn man es aus
eigener Kraft nicht kann) sein Einkommen dadurch sichert, daß man
Personen findet, die im Austausch gegen bestimmte Leistungen (Arbeit)
freiwillig bestimmte Gegenleistungen (Geld) anbieten, finanziert sich
der Staat aus Steuern, und Steuern sind Zwangsabgaben. Steuern werden
nicht freiwillig im Austausch gegen bestimmte vom Staat angebotene
Leistungen gezahlt, sondern man wird hierzu – bei Gewaltandrohung für
den Fall der Zuwiderhandlung – gezwungen. Ohne daß der Bürger
seinerseits einen aggressiven Akt gegen Körper oder Eigentum einer
anderen Person begangen hätte, wird er zum Opfer staatlicher Aggression
gemacht. Nun sage man nicht: "Aber man [S.16] bekommt doch eine
Gegenleistung für sein Geld." In der Tat. Aber wie der Filmfreund weiß:
auch der Räuber, der sein Handwerk nicht nur einmal, sondern dauerhaft
betreiben will, bietet dem Opfer seiner erpresserischen Aktionen
Sicherheit und Schutz fürs Geld, um sich den Schein der Ehrenhaftigkeit
zu geben und seine auf Gewalt gegründete Herrschaft damit stabilisieren
zu helfen. Die staatliche Methode, Geld zu verdienen, unterscheidet
sich in nichts von der Vorgehensweise derartiger Räuber-Schutzpatrone.

Zum gleichen Typus staatlicher Aggression gehört die Durchsetzung einer
Wehrpflicht (Ersatzdienst). Auch hier erzwingt der Staat die Erbringung
bestimmter Leistungen durch Personen, die sich keines Verstoßes gegen
begründungsfähige Normen schuldig gemacht haben. Wehrpflicht ist von
daher nichts anderes als Sklaverei (im Unterschied zu freier
Lohnarbeit) auf Zeit – und wie diese keiner objektiven Rechtfertigung
fähig.

Daneben gibt es einen kaum weniger wichtigen zweiten und dritten Typus
staatlicher Aggression gegenüber ihrerseits strikt nach
rechtfertigbaren Normen handelnden Personen. Einmal greift der Staat
dauernd in die Rechte isolierter (d. i. nicht austauschender) Personen
ein, zum anderen in die Rechte (Vertragsfreiheit) von
Austauschpartnern, indem er (beidemal) die Durchführung oder die
Unterlassung von Handlungen erzwingt, deren Durchführung oder
Unterlassung in keiner Weise als Angriff auf Körper oder Eigentum
fremder Personen gewertet werden könnte und natürlich handelt, wer
rechtfertigungsfähige Handlungen verbietet, selbst in nicht
begründungsfähiger Weise.[FN9]

Die Beispiele, die man hier anführen kann, sind so zahlreich, daß man
Stunden zubringen könnte, sie aufzuführen. Ich will nur einige wenige
aufzählen: einige, die den Linken gefallen werden, und einige, an denen
Rechte ihre Freude haben werden – alle Aussagen ergeben sich jedoch
aufgrund identischer Prinzipien, und man kann nur um den Preis von
Inkonsistenzen die eine begrüßen und die andere nicht.[FN10]

Es ist eine Aggression gegen nicht-aggressive Personen, wenn der Staat
isolierten Individuen verbietet, den Bundespräsidenten, die
Bundesrepublik, deren Symbole oder Verfassungsorgane, oder auch den
lieben Gott zu verunglimpfen; denn wessen Körper oder Eigentum wird
durch solche Handlungen in seiner physischen Integrität beeinträchtigt?
Ebenso ist es eine Aggression diesmal und in den folgenden Beispielen
nicht gegenüber einem Einzelnen, sondern gegenüber einem Paar
austauschender Personen, wenn der Staat einen freien Drogenhandel
unterbindet; denn wen (außer vielleicht mich selbst) schädige ich, wenn
ich einen Joint rauche oder Koks schnupfe! Es ist eine Aggression, wenn
man Eigentümer an Produktionsmitteln zwingt, anderen Personen hierüber
Mitbestimmungsrechte einzuräumen denn hier wird jemandem, der weder
gegen Körper noch Eigentum anderer Personen eine Aggression begangen
hat, verboten, sein Eigentum betreffende Verträge [S.17] nur zu den von
ihm selbst für angemessen gehaltenen Bedingungen abzuschließen. Es ist
eine Aggression, wenn man diejenigen, die das Eigentum anderer durch
ihre Handlungen in der physischen Integrität beeinträchtigen, indem sie
es beschmutzen und verunreinigen (ohne daß hierfür eine Zustimmung
vorliegen würde), und die damit zum Aggressor gegen fremdes Eigentum
werden, vor den gerechtfertigten Schadensersatzforderungen der Opfer
weitgehend schützt und sich so zum Komplizen der Aggression macht.[FN11]
Es ist eine Aggression, wenn man das Betreiben privater Rundfunk- und
Fernsehstationen untersagt; denn wenn ein Unternehmer dafür sein Geld
aufs Spiel setzt, und wenn ich ihm als Konsument solcher Stationen bei
der Finanzierung freiwillig helfe, gegen wen oder wessen Eigentum sind
er oder ich dann in unrechtfertigbarer Weise vorgegangen? Und
schließlich: auch dadurch, daß der Staat verbietet, daß Personen gemäß
ihrem Recht auf ursprüngliche Appropriation Eigentum an Dingen wie
Bodenschätzen, Flüssen, Meeren, Luftraum usw. erwerben, macht er sich
zum Aggressor gegen friedliche Personen; denn dies dürfte der Staat
nur, wenn er selbst der Eigentümer dieser Dinge wäre. Tatsächlich ist
dies aber nicht der Fall, weil diese Dinge entweder nach wie vor in
einem unbearbeiteten Zustand sind (Meere, Bodenschätze), und daher
niemandem gehören, oder weil (wenn dies nicht so sein sollte) die
staatliche Aneignung aufgrund der Finanzierung der Appropriierungsakte
durch vorangegangene Besteuerung als ungültig zu werten ist.[FN12]