IV.
[S.17] Ich nehme an, daß die vorstehenden Ausführungen klar gemacht
haben, in welchem Ausmaß faktisch existierende gesellschaftliche
Normensysteme im Gegensatz zu einem objektiv begründungsfähigen
Normensystem stehen, und inwieweit sie von daher als unrechtfertigbar
gelten müssen. Die Konsequenz liegt auf der Hand: will man eine
Gesellschaft, die auf rechtfertigbaren Grundlagen beruht (und kann man
[S.18] als Wissenschaftler, der doch angeblich in seinem Tun der
Wahrheit verpflichtet ist, etwas anderes wollen?), dann hat man auf
grundlegenden Änderungen zu bestehen. Nicht weniger als die Abschaffung
des Staates muß dann verlangt werden; denn nur solche Handlungen lassen
sich rechtfertigen, die in Übereinstimmung mit dem
Gewaltausschlußprinzip und dem Recht auf ursprüngliche Appropriation
stehen. Die Existenz des Staates jedoch stellt, allein insoweit sie auf
Steuern beruht, eine eklatante Verletzung dieser Prinzipien dar. Die
jetzt staatlicherseits erbrachten Leistungen lassen sich nur dann – und
nur in dem Ausmaß – rechtfertigen, in dem sie auch von freifinanzierten
Unternehmungen angeboten werden können. Objektiv rechtfertigbar ist nur
das System eines mit Anarchie identischen 100 %igen Kapitalismus.
Wenn dies so ist, wie kommt es dann, daß insbesondere die demokratisch
verfaßten Industriegesellschaften des Westens, aber auch die
kommunistischen Gesellschaften des Ostens, ein so hohes Maß an
Stabilität aufweisen? Diese Frage drängt sich um so mehr auf, als der
Umfang des in seiner Existenz unrechtfertigbaren Staatsapparates seit
Jahrhunderten ständig zugenommen hat. Bertrand de Jouvenel hat dies in
seinem Buch über das Wachstum der Staatsgewalt seit dem 11. und 12.
Jahrhundert, der Zeit, in der sich die ersten modernen Staaten zu
formieren beginnen, eindrucksvoll dargestellt.[FN13]
Jahrhundertelang gebieten Staaten nur über höchst bescheidene
Einkünfte; oft müssen die Könige bei den Reichen des Landes regelrecht
betteln; an die Unterhaltung eines stehenden Heeres und einer
Polizeitruppe ist gar nicht zu denken; Kriege sind nach Dauer und
Umfang höchst begrenzt, müssen weitgehend aus Privateinkünften
bestritten werden und führen zu langandauernder Verschuldung bei
Kreditgebern;[FN14] die Durchsetzung einer regelmäßigen Besteuerung und einer Wehrpflicht ist infolge des Widerstands der Bevölkerung illusorisch.[FN15]
Selbst während der hohen Zeit des Absolutismus, bei Ludwig XIV.,
gelingt es nicht, eine allgemeine Wehrpflicht durchzusetzen, und
brechen die ständig wachsenden Bemühungen, ein System regelmäßiger
Besteuerung zu etablieren, immer wieder wenigstens zeitweise zusammen
oder werden weitgehend unterlaufen.[FN16]
Inzwischen hat die Staatsquote (Anteil der Staatseinnahmen
einschließlich [S.19] Sozialversicherung am Bruttosozialprodukt) in der
Bundesrepublik ungefähr 40 % erreicht, in den Niederlanden und Schweden
liegt sie bei ca. 50%, in der Schweiz und den USA bei 30 %, in Japan
bei immerhin 20 %.[FN17]
Die Unterhaltung stehender Heere und Polizeitruppen von bis dahin
unbekannter Größe ist damit möglich und üblich geworden. Nach außen
bedeutet dies bewaffnete Konflikte und Waffenarsenale ungekannten
Ausmaßes; nach innen nahezu beliebige Durchsetzung unrechtfertigbarer
Normen. Die Durchsetzung der inzwischen nahezu universell gewordenen
Wehrpflicht (Ausnahmen sind bezeichnenderweise die traditionellen Horte
des Liberalismus: England, USA) ist hierfür nur ein drastisches
Beispiel. Ein anderes, kaum weniger drastisches, ist die Durchsetzung
von nahezu perfekten Kontrollen des grenzüberschreitenden Verkehrs,
nicht nur, aber vor allem natürlich von Personen, die zu einer bis zu
Beginn des 20. Jahrhunderts völlig unbekannten Behinderung der
Freizügigkeit geführt hat:[FN18]
während es bis dahin, auch und gerade zu Zeiten sogenannter
Kleinstaaterei, mangels staatlicher Kontrollmöglichkeiten
vergleichsweise einfach war, sein Land zu verlassen und sich anderswo
niederzulassen, ist dies heute mit den größten Schwierigkeiten
verbunden: der Osten läßt einen nicht raus, und der Westen – darin
nicht soviel besser, wie er es gern wahr hätte – läßt einen nicht rein,
selbst dann nicht, wenn Inländer bereit sind, einem Unterkunft und
Beschäftigung zu bieten.
Angesichts solcher Entwicklungen stellt sich also die Frage nach den
Gründen der Stabilität heute existierender Staaten. Diese Frage stellt
auch de Jouvenel indirekt mit der folgenden Feststellung: "Die
öffentliche Gewalt hat vom 12. bis zum 18. Jahrhundert beständig an
Umfang zugenommen. Dies Phänomen wurde von allen Zeitgenossen
begriffen. Es rief immer von neuem Protest und erbitterte Reaktionen
hervor. – Seither ist die Staatsgewalt in beschleunigtem Umfang
gewachsen. Sie hat den Krieg in gleichem Maße ausgedehnt wie sich
selbst. Wir aber begreifen es nicht mehr, protestieren nicht mehr und
haben aufgehört zu reagieren."[FN19]
Eine unrechtfertigbare Institution wie der Staat hat grundsätzlich zwei
Möglichkeiten, sich vor gerechtfertigter Kritik zu schützen, und seine
Existenz so zu stabilisieren: einmal durch Propaganda, genauer gesagt
durch Aktivitäten auf ideologischem Gebiet: durch Verbreitung zwar
falscher, aber publikumswirksamer Doktrinen; zum anderen durch Taten,
durch organisationstechnische Maßnahmen nämlich, die geeignet sind, die
Wahrnehmbarkeit seines aggressiven Charakters herabzusetzen. Auf beiden
Gebieten haben sich Staaten einiges einfallen lassen. – Für jede dieser
beiden Strategien können hier jedoch nur jeweils ein paar Beispiele
angesprochen werden.
Auf ideologischem Gebiet wird ein Aggressor naheliegenderweise die
Überzeugung zu verbreiten suchen, daß man selbst ein Ehrenmann ist,
oder jedenfalls nicht schlimmer als andere auch. Bei der Verbreitung
dieser Ideologie hat sich vor allem die politische Soziologie durch
ihre Untersuchungen über Macht und Herr- [S.19] schaft großes
"Verdienst" erworben, indem sie – diese Definition geht im Grunde auf
Max Weber zurück [FN20]
- Macht (und Herrschaft als deren institutionalisierte Form) als Chance
definiert, für bestimmte Verhaltenserwartungen bei anderen Personen
Gehorsam zu finden. Da bei dieser Definition die Methode, mit der der
Gehorsam erreicht wird, außer Acht bleibt, macht man hiermit politische
und wirtschaftliche Macht zunächst vergleichbar. Dies führt dann dazu,
daß man das Augenmerk auf die Größe machtausübender Institutionen
verlagert; hier stellt man fest, daß manche wirtschaftliche
Organisation, insbesondere die multinationalen Konzerne, so groß wie
oder größer als staatliche Apparate sind, und schon hat man das
Ergebnis, auf das es ankommt: daß man sich eher um die Macht solcher
Konzerne zu sorgen habe als um die des Staatsapparats bzw. daß die
Sorge um letztere jedenfalls kein besonderes Problem darstelle.[FN21]
So offenkundig diese Argumentationskette fadenscheinig ist – in weiten
sozialwissenschaftlichen Kreisen wird sie wirksam geglaubt und
propagiert. Darüber hinausgehend ist sie jedoch wohl kaum als
volkstümlich zu bezeichnen: der Normalbürger weiß, daß unternehmerische
Macht nicht wie staatliche auf Gewalt gegründet ist, sondern sich als
Ergebnis freiwilliger (jedenfalls nicht erzwungener) Kaufentscheidungen
ergibt, und er weiß, daß dies einen erheblichen Unterschied darstellt -
nämlich den zwischen rechtfertigbaren und nichtrechtfertigbaren
Handlungen.[FN22]
[S.22] Volkstümlicher, und wenn man so will: gefährlicher, ist eine
andere Ideologie, die in letzter Zeit insbesondere von ökonomischer
bzw. finanzwissenschaftlicher Seite eine pseudowissenschaftliche
Untermauerung erfahren hat: es handelt sich um die Auffassung, daß
bestimmte Güter vom Markt grundsätzlich nicht angeboten werden können,
und daß hier also der Staat einspringen muß. Technisch spricht man von
sogenannten öffentlichen oder kollektiven Gütern, wobei man vor allem
an die klassischen Staatsaufgaben der Herstellung von Law und Order und
bestimmte Infrastrukturaufgaben denkt.[FN23]
Dieser Ideologie muß auf zwei Ebenen begegnet werden: einmal
auf der empirisch-historischer Argumentation, dann auf der
systematischer Überlegungen. Zunächst muß festgehalten werden, daß es
nicht eine einzige staatliche Leistung gibt, die nicht auch von
privaten, sich keiner Aggression schuldig machenden Organisationen
entweder übernommen worden ist oder noch übernommen wird: dies ist so
in bezug auf die Bereitstellung präventiver wie vollstreckender
Sicherheitsleistungen; es gilt für Rechtssprechung, Hilfeleistung für
Bedürftige, Ausbildung und Bildung, für Feuerwehr und Post, für Bahn,
Straßenbau, Militär und Versicherungswesen. Das Argument, bestimmte
Arten von Leistungen könnten von Privaten grundsätzlich nicht angeboten
werden, ist also empirisch falsch.[FN24]
Und in systematischer Hinsicht steht es mit der Validität des Arguments
nicht besser: zunächst gelingt es den Theoretikern öffentlicher Güter
nicht, eine Definition dieser Güter zu geben, aufgrund deren eine
eindeutige Unterscheidung zweier Güterklassen möglich würde – der
öffentlichen, die vom Staat oder mit seiner Hilfe, und der
nicht-öffentlichen, die von Privaten bereitgestellt werden (diese
[S.23] Tatsache überrascht vermutlich aufgrund der gerade getroffenen
empirischen Feststellungen nicht mehr!): öffentliche Güter werden
nämlich definiert als solche Güter, deren Nutznießung nicht eindeutig
auf den Kreis der sie tatsächlich finanzierenden Personen eingegrenzt
werden kann; es sind, kurz gesagt, Güter, von denen auch Personen
profitieren, die sich an ihrer Bezahlung nicht beteiligen. Zweifellos
trifft diese Charakterisierung auf manche staatlicherseits angebotenen
Güter zu: durch die Feuerwehr, die mein brennendes Haus löscht,
profitiert auch mein Nachbar, auf dessen Haus das Feuer dann nicht
übergreift ? auch dann nicht, wenn er keinen Beitrag zur Finanzierung
der Feuerwehr geleistet hätte; ähnlich profitierte er etwa davon, wenn
ich zum Zweck der Prävention von Verbrechen einen Sicherheitsdienst die
Umgebung meines Hauses kontrollieren ließe. Aber diese Definition
trifft auf eine ganze Reihe staatlicherseits erbrachter Leistungen
genauso auch nicht zu: etwa bei Bahn, Post, Telefon, Straßenbau usw.;
sie trifft, wie bei staatlichen Leistungen, so auch für eine beliebige
Anzahl privaterseits angebotene Leistungen zu: von meinem Rosengarten
profitiert u. U. auch die Nachbarschaft, genauso wie von allen
Maßnahmen, die ich an meinem Eigentum vornehme, und die sich
wertsteigernd auch auf angrenzendes Eigentum auswirken; von der
Vorstellung eines Straßenmusikanten profitieren auch die, die dann am
Ende kein Geld in den Hut werfen; von meinem Deodorant profitieren auch
die Straßenbahnmitfahrer, die mich dann besser riechen können. Heißt
das nun, daß Deodorants, Rosengärten und Straßenmusik, weil sie
zweifellos die Kennzeichen öffentlicher Güter aufweisen,
staatlicherseits oder mit staatlicher Hilfe bereitgestellt werden
müssen? Und es kommt noch eine weitere Schwierigkeit hinzu: was wäre
denn der Fall, wenn meine Handlungen, gemessen an den Wertmaßstäben
anderer Personen, nicht positive, sondern negative Auswirkungen hätten,
wenn z. B. derjenige, dessen Haus von meiner Feuerwehr vor einem Brand
bewahrt wird, aus versicherungstechnischen Gründen dringlich gewünscht
hätte, es würde abbrennen?
beruhen ließe, taugt das Öffentliche-Güter-Argument nichts: nachdem man
nämlich die Eigentümlichkeit öffentlicher Güter dargestellt hat, geht
das Argument so weiter: die positiven Auswirkungen solcher Güter auf
einen weiteren Personenkreis belegten ihre Wünschbarkeit; dennoch
würden sie auf dem freien Markt (jedenfalls teilweise) nicht angeboten,
weil nicht alle von ihrem Angebot profitierenden Personen zu einer die
Finanzierung erleichternden oder erst ermöglichenden Gegenleistung
bereit seien; daher müsse hier der Staat einspringen, um diese doch
offenbar an sich wünschbaren Güter, die sonst nicht hergestellt würden,
dennoch bereitzustellen.
Gleich zweimal muß man zu diesem Argument sagen: 'Fehlschluß'. Einmal
wird unter der Hand eine Norm eingeschmuggelt, die sich, formuliert man
sie explizit, unmittelbar als nicht allgemein begründbar herausstellt:
die Norm 'immer wenn man zeigen kann, daß die Herstellung eines Gutes
positive Auswirkungen auf andere Personen hat, jedoch nicht hergestellt
wird, wenn diese anderen sich nicht auch an der Finanzierung
beteiligen, dann darf man sie staatlicherweise zur Finanzierung unter
Gewaltanwendung bzw. -drohung zwingen'. Ich muß auf die Absurdität
dieser Norm nicht näher eingehen. – Zum anderen ist auch der
nutzentheoretische [S.24] Argumentteil unhaltbar: natürlich können die
öffentlichen Güter wünschbar sein; es ist besser sie zu haben, als sie
nicht zu haben. Aber das ist völlig belanglos, denn um diese
Alternative geht es nicht. Um nämlich diese wünschbaren Güter zu
finanzieren, muß bestimmten Personen zwangsweise Geld entzogen werden,
und es ist allein die Frage, ob das, was sie mit diesem Geld gemacht
hätten, nun aber nicht mehr tun können, nützlicher gewesen wäre als der
durch die Bereitstellung der öffentlichen Güter für sie erzielte
Nutzen. Und die Antwort auf diese Frage ist eindeutig: gemessen an den
Wertmaßstäben dieser Personen ist der Nutzen der öffentlichen Güter
natürlich vergleichsweise geringer, denn hätte man ihnen die Wahl
gelassen, so hätten sie ja offensichtlich andere
Verwendungsmöglichkeiten für ihr Geld vorgezogen.[FN25]
Die Ideologie öffentlicher Güter ist demnach in jeder denkbaren
Hinsicht unhaltbar. Aber sie ist wirksam, sie wird geglaubt, und man
geht wohl nicht fehl in der Annahme, ihr einen wichtigen Anteil bei der
Stabilisierung objektiv nicht rechtfertigbarer gesellschaftlicher
Strukturen zuzuschreiben.
Wichtiger als alle Ideologien sind für die Stabilisierung solcher
Strukturen jedoch m. E. organisationstechnische Kniffe. Auch hierzu zum
Schluß ein paar Bemerkungen. Ein Kniff, der zweifellos die
Wahrnehmbarkeit des gewalttätigen Charakters des Staates herabsetzt,
ist z. B. die Tatsache, daß man bei allen abhängig Beschäftigten die
Eintreibung von Steuern bereits durch den Arbeitgeber vornehmen läßt,
und ein unmittelbarer Kontakt mit staatlichen Steuereintreibern für den
Normalbürger so gar nicht erfolgen muß. Aus einem ähnlichen Grund gehen
Staaten in zunehmendem Maße dazu über, anstelle direkter Steuern
indirekte Steuern zu erheben, weil diese als solche nicht mehr sichtbar
sind, sondern vielmehr mit den Warenpreisen zu einer Einheit
verschmelzen. Bedeutsam ist auch die Schaffung und Aufrechterhaltung
einer buchungstechnischen Fiktion: der Fiktion, auch die im
öffentlichen Dienst Beschäftigten zahlten Steuern. Sie läßt die in der
gewerblichen Wirtschaft beschäftigten Personen die Last der Steuern
leichter als 'gerecht' ertragen – aber natürlich ist es nur eine
Fiktion, denn wenn jedermann plötzlich aufhörte, Steuern zu zahlen,
dann würden nicht alle Personen Brutto statt Netto kassieren, sondern
der öffentliche Dienst kassierte vielmehr Null statt Netto. Außerdem
ist es ein bedeutsamer Fortschritt aus der Sicht des Staates, daß man -
in der Regel seit Beginn dieses Jahrhunderts – über ein staatliches
Notengeldmonopol verfügt: früher mußte man mühsam
Münzenverschlechterung betreiben, die vergleichsweise leicht als Betrug
erkannt werden konnte und wurde [FN26];
heute dagegen sind solche [S.25] Fälscheraktionen, sofern sie der Staat
vornimmt, nicht nur legal, sie sind vor allem für den Laien, dem man
über die Gründe der Inflation getrost das Märchen von der OPEC
auftischen kann [FN27],
nicht mehr unmittelbar erkennbar, und auch das Ausmaß, in dem derartige
staatliche Fälscheraktionen zu nicht-deklarierten Steuererhöhungen
verwendet werden können, ist ihm in aller Regel unklar.[FN28]
Damit soll nicht behauptet werden, daß eine Demokratie
notwendigerweise, mehr als andere Staatsformen, zur Ausdehnung
unrechtfertigbarer Eingriffe in das Netz sozialer Beziehungen führen
muß. Eine Demokratie kann genauso wie etwa eine nicht-parlamentarische
Monarchie sowohl die Form eines liberalen Minimalstaats wie die Form
totalitärer Herrschaft annehmen. Was allerdings behauptet wird, ist
dies: bei einem gegebenen, in einer Gesellschaft verbreiteten Sinn für
Gerechtigkeit (in der Bedeutung der von mir zu Beginn explizierten
objektiv rechtfertigbaren Normen), und bei einem gegebenen, aus diesem
Gerechtigkeitssinn resultierenden, in der Bevölkerung verbreiteten
Widerstandswillen gegen den Versuch der Durchsetzung nicht
rechtfertigbarer Normen, auf den alle Staaten zu allen Zeiten um der
eigenen Stabilität willen Rücksicht zu nehmen haben, ist die Demokratie
im Vergleich zu allen anderen Organisationsformen staatlicher
Herrschaft diejenige, die die vergleichsweise größte Ausdehnung
unbegründbarer Aktionsspielräume erlaubt, ohne dadurch um ihre
Stabilität fürchten zu müssen.[FN30]
Anders, konkreter formuliert heißt das: aufgrund gegebener Traditionen
kann man den Deutschen erheblich mehr an unrechtfertigbaren staatlichen
Handlungen zumuten, ohne einen Aufstand heraufzubeschwören, als den
US-Amerikanern, und den Russen wiederum erheblich mehr als den
Deutschen; aber in jedem Fall, in den USA nicht anders als in der
Bundesrepublik, erlaubt die Demokratie mehr an Herrschaft als andere,
alternative staatliche Organisationsformen; und selbst für die UdSSR,
die man natürlich nur in sehr eingeschränktem Sinn als demokratisch
bezeichnen kann, die aber wohl eher als demokratisch einzustufen ist
als das zaristische Rußland, gilt diese Aussage: kein Zar konnte so
unbeschränkt und willkürlich herrschen, wie es heute im Rußland der
kommunistischen Partei alltägliche Praxis geworden ist. Warum dies so
ist? Die Antwort wird von de Jouvenel formuliert: "Früher war (die
Staatsgewalt) sichtbar, manifest in der Person des Königs, der sich als
Herr zu erkennen gab, von dem man wußte, er war Mensch. In ihrer
Anonymität gibt sie heute vor, keine Eigenexistenz zu besitzen und nur
das [S.26] unpersönliche, leidenschaftslose Instrument des Gemeinwesens
zu sein. Das ist offensichtlich eine Fiktion! … Wie eh und je wird
die Staatsgewalt heute von einer Gruppe von Männern ausgeübt, die über
die Maschinerie gebieten. Diese Ganzheit bildet das, was man Macht
nennt, und ihr Verhältnis zu den Menschen ist das des Befehls. -
Geändert hat sich nur, daß man dem Volk geeignete Mittel an die Hand
gibt, die Hauptbeteiligten an der Macht auszutauschen. In gewisser
Weise wird dadurch die Macht geschwächt, da der Wille, der dem sozialen
Leben vorsteht, nach Belieben durch einen anderen, der jetzt Vertrauen
genießt, ersetzt werden kann. Dadurch aber, daß dies (demokratische)
Regime jedem Ehrgeiz Aussicht auf die Macht eröffnet, erleichtert es
ihre Ausweitung erheblich. Denn im Ancien Regime wußten die
Einflußreichen, sie würden niemals an der Macht teilhaben, und sie
waren gerade deshalb stets bereit, den geringsten Übergriff der
Staatsgewalt zu rügen. Heute dagegen sind alle Prätendenten und niemand
hat ein Interesse daran, eine Position zu schwächen, die er eines Tages
selber einzunehmen hofft, eine Maschine lahmzulegen, deren er sich
seinerseits zu bedienen gedenkt. Aus diesem Grunde treffen wir in den
politischen Kreisen der modernen Gesellschaft auf eine ausgedehnte
Kumpanei zugunsten einer Ausweitung der Staatsgewalt."[FN31]
Dies sollte, gerade wer an der Etablierung rechtfertigbarer
Gesellschaftsordnungen Interesse hat, im Auge behalten: es ist
insbesondere der demokratische Staat, der diesem Anliegen insofern im
Wege steht, als es kein anderes System gibt, in dem man das jedermann
jedenfalls manchmal ergreifende Interesse, andere Personen zu
beherrschen, besser ausleben könnte als gerade in der Demokratie.