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Kapitel 4: Die Grundlagen der Eigentumstheorie

VI.
VII.
VIII.
Fußnoten zu Kapitel 4

VI.

[S.79] Nach dieser Erläuterung des Objektivitätskriteriums in seiner Anwendung auf nur indirekt kontrollierte Güter hat nun die entsprechende Klärung des Vorrangkrite- [S.80] riums zu erfolgen: wie anhand von Körpern dargelegt, erfordert eine rechtmäßige Aneignung von Gütern ja objektive Inbesitznahme und den Nachweis der Vorrangigkeit. Was bedeutet vorrangige objektive Inbesitznahme im Fall von allein indirekt zu kontrollierenden Gütern?

Naturgemäß kann der Vorrang hier nicht logisch-temporaler Natur sein, wie bei Gütern, die direkt und indirekt kontrollierbar sind. Vorrang ist hier schlicht temporaler Vorrang: eine Inbesitznahme von Gütern begründet in rechtfertigbarer Weise Eigentum, wenn sie objektiv ist, und wenn es keine zeitlich vorangehende Inbesitznahme derselben Güter durch eine andere Person gegeben hat. Man muß, kurz gesagt, der erste sein, der ein Gut bearbeitet, um es dadurch zu seinem Eigentum zu machen. Ist es bereits bearbeitet worden, so kann es nur noch mit Zustimmung des ursprünglichen Eigentümers, durch eine freiwillige Übertragung des Eigentumstitels von diesem auf eine andere Person, rechtmäßig erworben werden. Unrechtfertigbar dagegen wäre es, wie auch intuitiv leicht erkennbar, wenn man auf die Zustimmung des ursprünglichen Eigentümers verzichtete: im Klartext hieße dies nämlich, daß niemand mehr die Früchte seiner Arbeit ungestört genießen könnte, weil jede Person, die, aus welchen Gründen auch immer, später kommt, und die die fraglichen Dinge nachweislich jedenfalls nicht bearbeitet hat, diese gleichwohl berechtigtermaßen als ‚ihre’ beanspruchen könnte – und einer solchen Regel könnte natürlich niemand als gerecht zustimmen, da sie nicht einmal die physische Integrität der eigenen Person sicherstellt.

Das erscheint einfach genug. Dennoch gibt es auch im Zusammenhang mit dem Vorrang-Kriterium zumindest zwei Schwierigkeiten, die der Erörterung bedürfen. Einmal ist da das Problem, daß eine mit Vorrang ausgestattete Aneignung auf bereits bestehende Rechte stoßen kann, die sich zwar nicht auf dasselbe knappe Gut richten, die es aber doch immerhin in eigentümlicher Weise berühren und insofern eine Einschränkung der Verfügungsgewalt bezüglich des angeeigneten Gutes verlangen. Das Problem wird sogleich einmal mehr am Fall der Landnahme erläutert werden. – Zum anderen resultieren aus der Tatsache einige Komplikationen, daß, im Unterschied zu Körpern, die grundsätzlich nur im Eigentum der sie direkt kontrollierenden Personen sein können, und im Hinblick auf die es von daher generell keine dauerhafte Übertragung des Eigentumstitels auf andere Personen geben kann [FN17], alle übrigen Güter, die nur eine indirekte Kontrolle zulassen, aucb eine dauerhafte und ohne Einschränkung erfolgende Übertragung von Eigentumstiteln erlauben und damit die Möglichkeit beliebig langer, auch zeitlich zurückreichender, vom ursprünglichen Eigentumsbegründer ausgehender Ketten von Eigentumsübertragungen auf spätere Eigentümer eröffnen.

Doch zunächst zur erstgenannten Schwierigkeit, die in ihrer historisch bekann- [S.81] testen Gestalt als ‚Indianerfrage’ auftaucht: gegeben sei ein Indianerstamm, dessen Mitglieder Sammler und/oder Jäger sind, nicht jedoch Acker- oder Viehbauern mit in objektivierten Grenzen angeeignetem Land. Man streift auf Nahrungssuche durch die Gegend, und behandelt, indem man sie sammelt oder erjagt, einzelne, konkret bestimmte pflanzliche Produkte oder Tiere als knappe Güter; indem man dabei jedoch nicht in den Prozeß der Produktion dieser Güter eingreift (etwa dadurch, daß man gezielt, in kultivierender Absicht, in den natürlichen Wachstumsprozeß pflanzlicher Produkte oder in den natürlichen Prozeß der tierischen Reproduktion eingreift), sondern ihn als natürlichen Produktionsprozeß bestehen läßt, behandelt man die zur Herstellung der Produkte erforderlichen Produktionsfaktoren nicht als knappe Güter (höherer Ordnung) und eignet sie sich durch seine Tätigkeiten darum auch nicht an: sie bleiben freie Güter, natürliche Gegebenheiten. – Nun kommen die Europäer und beginnen, so sei angenommen, da, wo die Indianer bisher ungestört herumstreiften, Landwirtschaft und/oder Viehwirtschaft zu betreiben. Wie ist dieser Fall angesichts des Vorrang-Kriteriums zu beurteilen?

Zunächst: es kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Inbesitznahme des Landes durch die Europäer rechtmäßig ist (vorausgesetzt natürlich, die gemachten Annahmen sind tatsächlich erfüllt!); denn wie gezeigt eignet man sich Dinge an, indem man sie in objektivierten Grenzen bearbeitet – das geschieht im betrachteten Fall durch Ackerbau oder Einzäunung – und indem man sie vor anderen Personen bearbeitet – und auch das ist hier der Fall, da erst die Europäer Land als knappen Produktionsfaktor behandeln, während es zuvor, für die Indianer, nur eine natürliche Umweltbedingung darstellte. Andererseits jedoch kompliziert sich die Situation dadurch, daß auf dem von Europäern angeeigneten Land zuvor nicht einfach nichts an menschlichen Handlungen stattgefunden hat, sondern immerhin Indianer darauf herumgestreift sind. Sicherlich können die Indianer aus dieser Tatsache nicht nur keinen Eigentumsanspruch auf das Land an sich ableiten, noch können sie einen entsprechenden Anspruch auf die mit Hilfe des – erst durch die Europäer als knappes Gut sichtbar gemachten – Produktionsfaktors ‚Land’ produzierten Güter erheben: sie können in ihrer Eigenschaft als Sammler und Jäger nur Eigentum an den tatsächlich gesammelten und erjagten Objekten erworben haben, und das macht ihnen annahmegemäß auch niemand streitig. Demgegenüber haben die Europäer, oder, besser: hat jeder einzelne Europäer im Hinblick auf ‚sein’ konkretes Stück Land mit der Landnahme gleichzeitig auch Eigentum an allen mit Hilfe dieses Produktionsfaktors (in den durch die Aneignung desselben sichtbar gemachten Grenzen) produzierten Güter niedrigerer Ordnung erworben. Ob der Produktionsprozeß, dessen Ergebnis die Güter niedrigerer Ordnung sind, vom Akt der Landaneignung einmal abgesehen, naturwüchsig abläuft, oder ob es zu weiteren gezielten Eingriffen in den Produktionsprozeß kommt, sei es durch den Eigentümer selbst, oder sei es durch von diesem ausdrücklich zu diesem Zweck freiwillig verpflichtete Andere, spielt keine Rolle; Güter niedrigerer Ordnung sind rechtmäßiges Eigentum des Eigentümers der zu ihrer Herstellung erforderlichen Produktionsfaktoren (es sei denn, es ist in zweiseitig freiwilligen Verträgen etwas anderes vereinbart), genauso etwa, wie ich aufgrund meines Eigentums an meinem Körper ja auch einen be- [S.82] rechtigten Eigentumsanspruch auf jedes mir zukünftig aus meinem Kopf wachsende Geweih erheben könnte (sollte mir denn tatsächlich eines wachsen), und jedenfalls solange erheben könnte, solange ich nicht damit den Luftraum anderer verletzte. Dies ergibt sich aus dem oben (S. 78 f.) erläuterten Prinzip, daß eine rechtmäßige Aneignung einer Sache nicht ‚Aneignung aller Bestandteile’, sondern nur ,Aneignung durch Grenzziehung’ erfordert. Damit ist es dem Indianer nicht mehr erlaubt, auf dem in sichtbaren Grenzen angeeigneten Land sich weiterhin als Sammler oder Jäger zu betätigen (es sei denn, der rechtmäßige Eigentümer stimmt dem ausdrücklich zu); alle Früchte des Landes gehören dem europäischen Landeigentümer.

Dennoch: mit ganz leeren Händen stünde der Indianer nicht da. Gewiß wäre es ihm nicht erlaubt (sollte es einen Markt hierfür geben) das Land oder irgendein in dessen Grenzen produziertes Gut zu verkaufen; aber er hat aufgrund seines früheren Umherstreifens auf dem später angeeigneten Land doch objektive Spuren hinterlassen und hat damit ein Zugangs- und Durchgangsrecht bezüglich des Landes erworben. Dies kann der Europäer ihm nicht streitig machen, denn es ist bereits vor dessen Landaneignung begründet worden. Der Indianer kann darum auch nach der europäischen Landnahme das Land ohne Zustimmung des betreffenden Landeigentümers gerechtfertigterweise betreten und durchqueren (freilich, ohne dabei Schaden anzurichten); und er kann (wieder: sollte es hierfür einen Markt geben) dies auf seine Person bezogene Recht an eine andere Person (einschließlich den Landeigentümer) abtreten oder veräußern (womit freilich sein Durchgangsrecht erlöschen würde). Umgekehrt, vom Standpunkt des Europäers betrachtet, heißt dies, daß seine Eigentumsbegründung an Land von Anfang an mit einer wichtigen Einschränkung versehen ist: er hat nur ein exklusives Verfügungsrecht über das Land erworben minus das Recht, dem Indianer den Zutritt auf das Land zu verwehren. Letzteres könnte er nur, wäre das von ihm angeeignete Land tatsächlich im buchstäblichen Sinn jungfräulich gewesen – was annahmegemäß freilich nicht der Fall ist.[FN18] Unter den gegebenen Voraussetzungen ware ein solches Verhalten unrecht- [S.83] mäßig; ein völlig uneingeschränktes Verfügungsrecht könnte sich der Europäer allenfalls durch Rückkauf des Durchgangsrechts vom Indianer beschaffen, und auch nur dann könnte er eine Übertragung des entsprechenden Eigentumstitels als eines uneingeschränkten Verfügungsrechts auf andere Personen vornehmen; andernfalls wäre eine Eigentumsübertragung immer nur unter Fortbestehen der sich aus älteren Rechten ergebenden Zugangsklausel möglich. – In dieser Manier wird durch das Vorrang-Kriterium also nicht nur über die Rechtmäßigkeit einer Aneignung, sondern auch über die Rechtmäßigkeit von einschränkenden Bedingungen bezüglich der Verfügungsgewalt über Güter entschieden, wie sie sich aus vorher begründeten Teilrechten ergeben (können).

Es bleibt die Erläuterung der Anwendung des Vorrang-Kriteriums angesichts der Möglichkeit beliebig langer Ketten von Eigentumsübertragungen. In grundsätzlicher Hinsicht gibt es keinerlei Schwierigkeiten: nur derjenige ist rechtmäßiger Eigentümer als (vorläufiger) Endpunkt in einer Kette von Eigentumsübertragungen, dessen Titel in letzter Konsequenz tatsächlich auf den ursprünglichen Eigentumsbegründer zurückgeht, und dessen Titel bis dahin ausnahmslos in rechtmäßiger Weise, d. i. durch zweiseitige freiwillige Vereinbarung, von Person zu Person übertragen worden ist. Geht die Kette umgekehrt auf eine Person zurück, die nicht in der beschriebenen Weise als ursprünglicher Begründer des Eigentumstitels in Frage kommt, oder ist es im Verlauf der Titelübertragungen zu gewaltsamen Titelaneignungen gekommen, so kann auch das letzte Glied in einer Kette nicht als rechtmäßiger Eigentümer angesprochen werden.

Wie steht es nun mit der Anwendung dieses Kriteriums, wenn sich in der Praxis die Spur der Kette von Eigentumsübertragungen nicht selten im Dunkel der Vergangenheit verliert? Ist man dann nicht am Ende seiner Weisheit angelangt, und muß man dann nicht einräumen, daß, bei aller Klarheit der Theorie, der Versuch ihrer Anwendung in der Praxis scheitern muß und konkurrierende Ansprüche jedenfalls praktisch nicht mehr übereinstimmend als recht- oder unrechtmäßig ent- [S.83] schieden werden können? Sicher, so könnte der Einwand fortgeführt werden, im Prinzip sei natürlich auch dies Problem lösbar: hätten Personen von Anbeginn der Menschheit nach den in dieser Arbeit als allgemein rechtfertigbar dargestellten Regeln gehandelt, so hätten sie vielleicht, angesichts der Möglichkeit beliebig langer Ketten von Eigentumsübertragungen und angesichts der damit verbundenen Verkomplizierung des Nachweises der Rechtmäßigkeit gegenwärtig gehaltener Eigentumstitel, das Institut einer objektiven Dokumentierung der Genealogie von Eigentumstiteln entwickelt, aufgrund dessen sich jeder gegenwärtig beanspruchte Titel ohne größere Schwierigkeiten als legitim oder illegitim nachweisen läßt; faktisch existiert etwas derartiges aber nicht, oder, besser: faktisch gibt es allenfalls etwa in Form von Grundbüchern – ein sehr lückenhaftes Dokumentationssystem der Genealogie von Eigentumstiteln; weder sind alle gegenwärtigen Titel darin erfaßt, noch ist der zeitlich zurückgehende Prozeß von Titelübertragungen lückenlos bis zum ursprünglichen Appropriateur darin dokumentiert; bedeutet das dann aber nicht, daß jedenfalls in der Welt, so wie sie nun einmal ist, eine eindeutige Entscheidung im Hinblick auf konkurrierende Ansprüche nicht gefällt werden kann, und daß folglich auch, da doch dann jeder, um es überspitzt zu sagen, Anspruch auf alles erheben könnte, mit Sicherheit kein übereinstimmend als solcher rechtfertigbarer Anfangs- bzw. Startpunkt für ein dann einsetzendes Spiel nach allgemein begründbaren Spielregeln gefunden werden kann, und erledigt nicht das die Theorie als unpraktizierbar?

Die Antwort hierauf ist ein eindeutiges Nein. Die in der Fragestellung angedeuteten Konsequenzen ergeben sich nur dann, wenn man (jedenfalls stillschweigend) von der Geltung der Norm ausgeht, daß immer dann, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines gehaltenen Eigentumstitels im Prinzip möglich sind, auch Angriffe (die vom Angreifer natürlich, ‚gerechtfertigt’ durch seine ‚Zweifel’, als defensive Reaktion auf vorangegangenes Unrecht dargestellt werden!) auf den Körper oder das (umstrittene) Eigentum einer anderen Person gerechtfertigt sind. Die Gültigkeit dieser Norm kann aber nicht unterstellt werden.[FN19] Im Gegenteil: sie ist eindeutig nicht allgemein rechtfertigbar, da mit dem Eigentumsrecht jeder Person am eigenen Körper inkompatibel. Aufgrund dieses Rechts werden Personen vor dem Übergriff auf ihren Körper solange geschützt, solange sie sich selbst solcher Obergriffe auf andere enthalten; und nur dann gilt der Schutz nicht mehr, wenn eine Person sich nachweisbar eines vorangehenden Übergriffs auf andere schuldig gemacht hat (dann hat die angegriffene Person das Recht – wovon sie Gebrauch machen kann oder nicht – auf Selbstverteidigung), aber nicht schon etwa dann, wenn man bloß ‚Zweifel’ an der Unschuld der fraglichen Person hat, denn Zweifel kann man bekanntlich immer haben, und von daher könnte jeder jederzeit Angriffe auf den Körper anderer Personen für berechtigt halten. – Im Rahmen einer einheitlichen normativen Theorie des Eigentums muß dasselbe Prinzip auch im Hinblick auf alle übrigen Güter gelten: nur dann also ist ein Eingriff in die physische Inte- [S.84] grität der im Besitz anderer Personen befindlichen Güter erlaubt, wenn man erstens in überprüfbarer Weise nachweisen kann (und nicht nur Vermutungen darüber hat), daß der fragliche Besitzer nicht rechtmäßiger Eigentümer ist, und wenn man zweitens in überprüfbarer Weise zeigen kann, daß man selbst der legitime Titelinhaber (oder jedenfalls nachweislich dessen Rechtsnachfolger) ist (wäre der zweite Nachweis nicht erbracht, so hätte möglicherweise eine andere Person das Recht auf Eingriff, aber nicht man selbst).

Im Hinblick auf die Summe der jeweils gegenwärtig gehaltenen Eigentumstitel bedeutet dies, daß zunächst einmal grundsätzlich der sich im objektiven Tatbestand von Besitzverhältnissen ausdrückende Status quo auch der rechtliche Status quo ist; diejenigen Personen, die faktisch durch Eingrenzung ein exklusives Verfügungsrecht über eine Sache ausüben und/oder die einen anerkannten Titel, aus dem der rechtmäßige Erwerb der Sache hervorgeht, vorweisen können, müssen zunächst aufgrund dieser prima facie Evidenz als legitime Eigentümer gelten – genauso, wie jedermann, den man bei einem Übergriff auf eine andere Person nicht unmittelbar ertappt hätte, sondern der sich prima facie friedlich verhielte, aufgrund dieser Evidenz zunächst als unschuldig gelten würde; und erst nachdem der Beweis des Gegenteils erbracht ist, gilt etwas anderes, und kann es gerechtfertigt sein, wenn dem prima facie Eigentümer die Kontrolle über ein nachweislich unkorrekt angeeignetes Gut von dem – entgegen zunächst hingenommener Evidenz – tatsächlich rechtmäßigen Eigentümer entzogen wird (u. U. auch mit Gewalt).

Vorrang bezüglich im Zeitverlauf übertragenen Eigentums heißt also: temporaler Vorrang, dokumentiert durch frühere Inbesitznahme eines Gutes, ist solange Indikator für Rechtmäßigkeit, solange nicht durch einen anderen, zunächst nur angeblichen Eigentümer in nachprüfbarer Weise gezeigt worden ist, daß ein Übertragungsfehler (d. i. ein nicht-freiwilliger Austausch) in der Kette von Eigentumsübertragungen aufgetreten ist, und er, ausgehend von diesem Übertragungsfehler, als tatsächlich rechtmäßiger Eigentümer etabliert werden kann.