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Neue Beiträge zum Problem der sozialistischen Wirtschaftsrechnung (1923)

Einleitung
I. Arthur Wolfgang Cohn: Kann das Geld abgeschafft werden?
II. Karl Polányi: Sozialistische Rechnungslegung
III. Eduard Heimann: Mehrwert und Gemeinwirtschaft
IV. Kautsky: Die proletarische Revolution und ihr Programm/Leichter: Die Wirtschaftsrechnung in der sozialistischen Gesellschaft

II. Karl Polányi: Sozialistische Rechnungslegung

In einer »Sozialistische Rechnungslegung« überschriebenen Abhandlung versucht Karl Polányi (11) »die Frage der Rechnungslegung«, die, wie er meint, »allgemein als das Schlüsselproblem der sozialistischen Wirtschaft anerkannt wird«, in besonderer Weise zu lösen. Polányi gibt zunächst unumwunden zu, daß er die Lösung des Problems »in einer zentralen Verwaltungswirtschaft« für unmöglich erachte.(12) Sein Lösungsversuch ist nur auf die Verhältnisse »einer funktionell organisierten sozialistischen Uebergangswirtschaft« zugeschnitten. Mit diesem Namen bezeichnet er einen Gesellschaftstypus, der ungefähr dem Ideal der englischen Gildensozialisten entspricht; die Vorstellung, die er sich von den entscheidenden Punkten des Wesens und der Wirkungsmöglichkeiten seines Systems macht, sind leider nicht minder nebelhaft und verschwommen als die der Gildensozialisten. Als Eigentümer der Produktionsmittel »gilt« die politische Gemeinschaft; »ein direktes (491) Verfügungsrecht ist jedoch mit diesem Eigentum nicht verbunden«. Dieses steht den Produktionsverbänden zu, die von den Arbeitern der einzelnen Produktionszweige durch Wahl gebildet werden. Die einzelnen Produktionsverbände schließen sich zum Kongreß der Produktionsverbände zusammen, der »die gesamte Produktion vertritt.« Diesem steht als zweiter »funktioneller Hauptverband der Gesellschaft« die »Kommune« nicht nur als politisches Organ, sondern auch »als eigentliche Trägerin der höheren Ziele des Gemeinwesens« gegenüber. jedem der beiden funktionellen Hauptverbände steht »im eigenen Umkreis Legislative und Exekutive zu«. Die höchste Macht in der Gesellschaft verkörpern die Vereinbarungen dieser funktionellen Hauptverbände.(13)

Der Fehler dieser Konstruktion liegt in der Unklarheit, mit der sie der Kernfrage: Sozialismus oder Syndikalismus? auszuweichen sucht. Ganz wie die Gildensozialisten spricht Polányi das Eigentum an den Produktionsmitteln ausdrücklich der Gesellschaft, der Kommune, zu; damit glaubt er wohl genug gesagt zu haben, um seiner Konstruktion den Vorwurf des Syndikalismus zu ersparen. Doch gleich mit dem nächsten Satze nimmt er das Gesagte wieder zurück. Eigentum ist Verfügungsrecht; wenn das Verfügungsrecht nicht der Kommune, sondern den Produktionsverbänden zusteht, so sind eben diese Eigentümer, und wir haben ein syndikalistisches Gemeinwesen vor uns. Hier kann es nur das eine oder das andere geben; zwischen Syndikalismus und Sozialismus gibt es keine Vermittlung und keine Versöhnung. Polányi sieht das nicht. Er meint: »Funktionelle Vertretungen (Verbände) ein und derselben Menschen können nie in einen unlösbaren Widerstreit miteinander geraten, – das ist die Grundidee jeder funktionellen Verfassungsform. Zur fallweisen Schlichtung von Gegensätzen werden entweder gemeinsame Ausschüsse von Kommune und Produktionsverband, oder eine Art oberster Verfassungsgerichtshof vorgesehen (koordinierende Organe), denen jedoch keine Legislative und nur eine beschränkte Exekutive zusteht (Rechtsprechung, Sicherheitsdienst usf.)«.(14) Diese Grundidee der funktionellen Verfassungsform ist jedoch verfehlt. Wenn – und das ist die stillschweigende Voraussetzung der Polányischen und aller verwandter Konstruktionen – das politische Parlament durch die Wahl aller Genossen bei gleichem Stimmrecht jedes einzelnen gebildet werden soll, dann kann sehr wohl zwischen ihm und dem Parlament der Produktionsverbände, das aus einer ganz anders aufgebauten Wahlordnung hervorgeht, ein Widerstreit entstehen. Solche Gegensätze können dann weder durch gemeinsame Ausschüsse, noch durch Gerichtshöfe geschlichtet werden. Die Ausschüsse könnten nur dann den Streit austragen, wenn in ihnen der eine oder der andere Hauptverband das Uebergewicht hätte; sind beide gleich stark vertreten, dann kann es auch im Ausschuß zu (492) keiner Entscheidung kommen. Hat aber der eine der beiden Verbände bei der Bildung oder im Verfahren des Ausschusses das Uebergewicht, dann liegt die letzte Entscheidung eben bei ihm. Ein Gerichtshof kann Fragen der politischen oder ökonomischen Praxis nicht bereinigen. Gerichte können immer nur auf Grund schon feststehender Normen, die sie auf den einzelnen Fall anzuwenden haben, ihre Sprüche fällen. Sollen sie Fragen der Zweckmäßigkeit behandeln, dann sind sie in Wahrheit nicht mehr Gerichte, sondern höchste politische Instanz, und dann gilt von ihnen all das, was über die Ausschüsse gesagt wurde.

Hat weder die Kommune noch der Kongreß der Produktionsverbände die letzte Entscheidung, dann ist das System überhaupt nicht lebensfähig. Ist die letzte Entscheidung bei der Kommune, dann haben wir es mit einer »zentralen Verwaltungswirtschaft« zu tun, für die auch Polányi die Unmöglichkeit der Wirtschaftsrechnung zugesteht. Ist aber die letzte Entscheidung bei den Produktionsverbänden, dann haben wir ein syndikalistisches Gemeinwesen vor uns.

Die Unklarheit, in der sich Polanyi über diesen grundlegenden Punkt befindet, läßt ihn eine Scheinlösung als brauchbare Lösung des Problems hinnehmen. Seine Verbände und Unterverbände stehen in einem wechselseitigen Tauschverkehr, sie empfangen und geben als ob sie Eigentümer wären; so bildet sich ein Markt und Marktpreise. Daß das mit dem Wesen des Sozialismus unvereinbar ist, merkt Polányi nicht, da er sich einmal über den unüberbrückbaren Gegensatz von Sozialismus und Syndikalismus hinweggesetzt hat.

Es wäre noch manches über andere Mängel zu sagen, die Polányis Konstruktion im einzelnen anhaften. Doch sie treten an Bedeutung hinter dem gerügten grundsätzlichen Mangel zurück und können nur geringes Interesse beanspruchen, da sie dem Gedankengang Polányis eigentümlich sind. Jener prinzipielle Fehler aber ist keine Besonderheit Polányis; er wird von allen gildensozialistischen Konstruktionen geteilt. Polányi hat das unzweifelhafte Verdienst, diese Konstruktion schärfer herausgearbeitet zu haben als die Mehrzahl der übrigen Schriftsteller; er hat damit ihre Schwächen klar dargelegt. Auch daß er die Unmöglichkeit der Wirtschaftsrechnung in der verkehrslosen zentralistischen Verwaltungswirtschaft einsieht, muß ihm unter den gegenwärtigen Verhältnissen hoch angerechnet werden.

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(11) In diesem Archiv, 49. Bd., S. 377-420.

(12) S. 378 und S. 419.

(13) S. 404 f.

(14) S. 404, Anm. 20.