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Politischer Liberalismus (1959)

1. Die liberale Tradition der Whigs
2. Der rationalistische Liberalismus der französischen Revolution
3. Der politische Liberalismus in Deutschland
4. Verfall und Neubelebung
Literatur zum Artikel "Politischer Liberalismus"

2. Der rationalistische Liberalismus der französischen Revolution

[S.592] Der ursprünglich englische Liberalismus war an sich weder demokratisch noch auch egalitär, noch war ihm der aggressiv rationalistische und antireligiöse Charakter eigen, den später der kontinental-europäische Liberalismus zeigte. Diese Verwandlung hängt eng mit dem Einfluß der französischen Schriftsteller zusammen, die im 18. Jh. zunächst (in der Generation Voltaires und M o n t e s q u i e u s) die englischen Ideen für den Kontinent interpretierten und später (in der Generation Jean-Jacques Rousseaus und der Physiokraten) jene Ergebnisse langer politischer Erfahrung konstruktiv nach "Vernunftprinzipien" umgestalteten. In vieler Beziehung bedeutete das nicht viel weniger als eine Umkehrung der ursprünglichen Ideen. An Stelle des Vertrauens an die schöpferische Kraft freier gesellschaftlicher Entwicklung trat das Vertrauen auf die Macht eines von der Vernunft ausgedachten Plans. An Stelle der Sorge um die Beschränkung der Gewalt trat die Sorge, daß sie von der richtigen Stelle ausgeübt würde, wodurch jede Beschränkung [S.593] dieser Gewalt überflüssig erschien – gleichgültig, ob die Quelle der Vernunft, die alle beherrschen sollte, in einer intellektuellen Elite oder in der unfehlbaren Weisheit der Mehrheit gesucht wurde. Und an Stelle der Einsicht, daß unter gleichen formellen Bedingungen ungleich begabte Menschen (oder Familien) sehr verschiedene Erfolge aufweisen und dementsprechend verschiedene Stellungen in der Gesellschaft einnehmen würden, trat schließlich die Forderung, daß der Staat die verschiedenen Menschen ungleich behandeln müsse, um die sonst unvermeidliche Ungleichheit zu korrigieren.

Es waren die Ideen dieser zweiten Art des Liberalismus, der in erster Linie etwa durch die Namen von Anne Robert Turgot, Antoine de Condorcet und Emanuel J. Sieyès repräsentiert wird, die durch die französische Revolution nicht nur auf dem europäischen Kontinent vorherrschend wurden, sondern auch in den angelsächsischen Ländern großen Einfluß ausübten. William Godwin, Joseph Priestley und Percy B. Shelley in England und Thomas Paine und Thomas Jefferson in Amerika gehören dieser Tradition und nicht der der Whigs an; und selbst die Utilitarier, wie Jeremy Bentham und James und John Stuart Mill, sowie die späteren englischen Radikalen sind so stark von französischen Ideen beeinflußt [—>Utilitarismus], daß sie eher eine Zwischenstellung zwischen den beiden Überlieferungen einnehmen. In Deutschland bestand zunächst ein gewisser Unterschied zwischen dem süddeutschen Liberalismus, der vor allem von französischen Autoren, insbesondere Henry-Benjamin Constant, beeinflußt war, und dem norddeutschen, der stärker von England inspiriert wurde. Aber wie anderswo vermischten sich auch hier im Laufe des 19. Jh. die beiden Überlieferungen, wobei im ganzen die französische immer größeren Einfluß nahm. Als Repräsentanten des älteren Typus mögen für das 19. Jh. noch Thomas B. Macaulay, Nassau William Senior und vor allem John E. Acton und Alexis de Tocqueville genannt werden.
Für die Entwicklung des kontinentalen Liberalismus im 19. Jh. wurde seine sukzessive Verbindung mit der demokratischen, der nationalen und schließlich der sozialistischen Bewegung entscheidend und verhängnisvoll. Die erste brachte ein fremdes, aber nicht unvereinbares, die zweite und besonders die dritte aber ein seinen Grundideen widersprechendes Gedankengut. Bis in die 1870er Jahre schien es, als ob im ganzen die liberalen Ideen sich durchsetzen würden. Aber mit dem deutsch-französischen Krieg, der nationalen Einigung Deutschlands und Italiens, der Krise von 1873 und schließlich der Umkehr der deutschen Wirtschaftspolitik unter Bismarck 1878 kam das Ende.

Zum Teil ist diese Entwicklung wohl dem Umstand zuzuschreiben, daß in der ersten Hälfte des 19. Jh. die liberale Bewegung auf dem Kontinent weniger ein bestimmtes politisches Programm als ganz allgemein "den Fortschritt" gegenüber "der Tradition" vertrat und deshalb viele an sich unvereinbare Elemente in sich vereinigte; zum Teil ist sie auf das Fehlen einer ausgedehnten und politisch erfahrenen Bourgeoisie zurückzuführen, die die Führung hätte übernehmen können. Entscheidend war aber doch wohl, daß hier vom Anfang an die Idee der "Volkssouveränität" eine so zentrale Rolle spielte, daß der Übergang sowohl zum Nationalismus wie zum Sozialismus sich leicht vollziehen konnte. Die Zeit, in der organisierte liberale Parteien die Regierung führten, war in allen großen Ländern des Kontinents kurz; und im ganzen hat hier wohl der Liberalismus seine größte Wirkung nicht als Parteibewegung, sondern durch die langsame Durchdringung der öffentlichen Meinung ausgeübt. Nichtsdestoweniger mußte schon 1861 sogar Heinrich v. Treitschke zugeben, daß alles Neue, was das 19. Jh. geschaffen hatte, ein Werk des Liberalismus war.

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