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Interventionismus (1926)

VI. Die Doktrin des Interventionismus
VII. Das historische und das praktische Argument für den Interventionismus
VIII. Neue Schriften über Probleme des Interventionismus

VII. Das historische und das praktische Argument für den Interventionismus

Durch die Kritik der Nationalökonomie in die Enge getrieben, berufen sich die Vertreter der historisch-realistischen Schule schließlich auf die »Tatsachen«. Es könne nicht bestritten werden, daß alle die Eingriffe, die die Theorie als sinnwidrig erklärt, vorgenommen wurden und noch vorgenommen werden. Man könne nicht annehmen, daß ihre angebliche Zweckwidrigkeit von der Praxis nicht bemerkt worden wäre. Daß sich die interventionistischen Normen durch Jahrhunderte hindurch erhalten hätten, daß die Welt seit dem Verschwinden des Liberalismus wieder mit Interventionismus regiert werde, sei Beweis genug, daß das System durchführbar und erfolgreich und keineswegs sinnwidrig sei. Die reiche Literatur, in der die historisch-realistische Schule die Geschichte der Wirtschaftspolitik dargestellt hat, bestätige vollauf die Doktrinen des Interventionismus.(7)

Die Tatsache, daß bestimmte Maßnahmen ergriffen und immer wieder von Neuem ergriffen wurden, beweist nichts dafür, daß sie nicht sinnwidrig wären. Sie beweist nur, daß die, von (640) denen sie ausgingen, ihre Sinnwidrigkeit nicht erkannt haben; das aber soll gar nicht bestritten werden. Es ist nämlich nicht so leicht, die Bedeutung einer wirtschaftspolitischen Maßregel zu erfassen, wie es die »Empiriker« glauben. Ohne Einblick in den Zusammenhang des Ablaufs der ganzen Wirtschaft, d. h. ohne umfassende Theorie geht es überhaupt nicht. Die Verfasser von wirtschaftsgeschichtlichen, wirtschaftsbeschreibenden, wirtschaftspolitischen und wirtschaftsstatistischen Arbeiten gehen gewöhnlich viel zu leichtfertig vor. Ohne die erforderlichen Kenntnisse auf dem Gebiete der Theorie wagen sie sich an Aufgaben, zu deren Behandlung sie ganz ungenügend geschult sind. Was nicht schon den Verfassern ihres Quellenmaterials aufgefallen ist, pflegt in der Regel auch ihrer Aufmerksamkeit zu entgehen. Wenn sie eine wirtschaftspolitische Verfügung besprechen, sind sie selten geneigt, mit der gebotenen Sorgfalt zu prüfen, ob und wie sie ausgeführt wurde, ob die beabsichtigte Wirkung auch erreicht wurde, und ob sie, falls sie eintrat, der besprochenen Maßnahme oder anderen Ursachen zuzuschreiben ist. Die Fähigkeit, die weiter reichenden – vom Standpunkte ihrer Urheber erwünschten oder unerwünschten – Wirkungen zu erkennen, geht ihnen schon vollends ab. Daß aus der großen Menge dieser Arbeiten ein Teil der geldgeschichtlichen sich durch höhere Qualität heraushebt, hat seinen Grund in dem Umstände, daß ihre Verfasser mit einem gewissen Stock geldtheoretischer Kenntnisse (Greshamsches Gesetz, Quantitätstheorie) ausgerüstet und daher ihren Aufgaben besser gewachsen waren als der Durchschnitt.

Das Wichtigste, das ein Bearbeiter wirtschaftlicher »Tatsachen« mitbringen muß, ist vollkommene Beherrschung der nationalökonomischen Theorie. Seine Aufgabe ist es dann, das Material, das sich ihm bietet, an der Hand der Theorie zu deuten. Gelingt ihm dies nicht oder nicht in einer ihn voll befriedigenden Weise, dann hat er den kritischen Punkt genau aufzuzeigen und das der theoretischen Erklärung hier erwachsende Problem zu formulieren. Andere mögen versuchen, die Aufgabe zu lösen, an der er gescheitert ist. Denn das, um was es sich hier handelt, ist ein Versagen des Bearbeiters, nicht ein Versagen der Theorie.

Mit einer Theorie kann man alles erklären. Theorien versagen nicht an einzelnen Problemen, sondern an der Unzulänglichkeit ihres Ganzen. Und wer eine Theorie durch eine andere ersetzen (641) will, muß sie entweder in das gegebene System einfügen oder ein neues System aufstellen, in dem sie Platz findet. Es ist ganz und gar unwissenschaftlich, von einer »Tatsache«, die man gerade vor Augen hat, ausgehend, das Versagen der »Theorie« und des Systems zu verkünden. Das Genie, dem es gegeben ist, die Wissenschaft durch neue Erkenntnis zu fördern, kann aus der Beobachtung des kleinsten und für andere unscheinbarsten Vorganges zur tiefsten Erkenntnis geführt werden; sein Geist entzündet sich an jedem Gegenstand. Aber der Neuerer verdrängt das Alte durch ein Neues, nicht durch bloße Verneinung; er ist immer Theoretiker mit einem auf das Ganze und auf das System gerichteten Blick.

Auf die tiefere erkenntnistheoretische Frage des Widerstreites der Systeme haben wir hier nicht einzugehen. Denn für uns steht ja nicht eine Vielheit sich bekämpfender Systeme zur Erörterung. Wir haben, wenn wir das Problem des Interventionismus untersuchen, in der Nationalökonomie auf der einen Seite das System der modernen Nationalökonomie und mit ihm ausnahmslos auch alle ältere nationalökonomische Theorie, und auf der andern Seite die System- und Theorieleugner, mögen sie nun in der Bestreitung der Möglichkeit theoretischer Erkenntnis mehr oder weniger vorsichtige Ausdrücke verwenden. Ihnen hat man einfach zu antworten: Versuchet ein. System theoretischer Erklärung aufzustellen, das euch mehr befriedigt als unseres. Dann wollen wir erst weiter reden.

Alles, was die Bekämpfer der theoretischen, Nationalökonomie in ihren Arbeiten vorbringen, ist natürlich auch »Theorie«. Ja, sie schreiben heute selbst »Theorien der Volkswirtschaft« und halten Vorlesungen über »Theoretische Nationalökonomie«. Was ihr Beginnen aber als unzulänglich erscheinen läßt, ist der Umstand, daß sie es unterlassen, die einzelnen Sätze ihrer »Theorie« zu einem System, zu einer Gesamttheorie der Katallaktik zusammenzuschließen. Nur durch das System und im System wird ein theoretischer Satz zur Theorie. Es ist sehr leicht, über Lohn, Rente und Zins verschiedenes zu sagen. Von einer Theorie kann man aber nur dort sprechen, wo die einzelnen Aussagen zu einer Gesamterklärung aller Marktvorgänge verbunden werden.

Die Naturwissenschaften können im Experiment alle störenden Einflüsse ausschalten. und die Folgen der Veränderung eines Faktors caeteris paribus beobachten. Läßt sich das Ergebnis des Versuchs nicht befriedigend in das gegebene System der (642) Theorie einordnen, dann mag daraus die Anregung zu einer Ausgestaltung des Systems oder gar zu seinem Ersatz durch ein neues erwachsen. Doch man würde jeden verlachen, der aus dem Ergebnis eines Versuchs folgern wollte, es könne keine theoretische Erkenntnis geben. Den Gesellschaftswissenschaften fehlt das Experiment. Sie können die Wirkung eines Faktors nie caeteris paribus beobachten. Und dennoch wagt man es, ohne weiteres aus irgendeiner »Tatsache« zu folgern, die Theorie oder gar alle Theorie sei widerlegt.

Was soll man gar sagen, wenn man allgemeine Sätze hört, wie die: »Englands industrielle Suprematie im 18. und 19. Jahrhundert war die Folge der merkantilistischen Politik der früheren Jahrhunderte«, oder: »Das Steigen des Reallohnes in den letzten Jahrzehnten des 19. und den ersten des 2o. Jahrhunderts ist den Gewerkschaften zu danken«, oder: »Die Bodenspekulation verteuert die Mieten«. Diejenigen, die diese Sätze verkünden, glauben sie unmittelbar aus der Erfahrung gezogen zu haben. Das wäre, meint man, nicht graue Theorie, sondern Frucht vom grünen Baume des Lebens. Und hartnäckig sträubt man sich dagegen, dem Theoretiker Aufmerksamkeit zu schenken, wenn er die einzelnen Sätze »der praktischen Erfahrung« dadurch zu prüfen sucht, daß er sie bis ans Ende denkt und sie zu einem systematischen Gefüge zusammenzufassen sucht.

Alle Argumente, die die empirisch-realistische Schule vorzubringen gewußt hat, ersetzen nicht den Mangel eines geschlossenen theoretischen Systems.

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(7) Vgl. Zwiedineck-Südenhorst, Macht oder ökonomisches Gesetz (Schmollers Jahrbuch, 49. Jahrgang), S. 278 ff.