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Begreifen und Verstehen (1930)

1. Erkenntnis von außen und Erkenntnis von innen
2. Begreifen und Verstehen
3. Das Irrationale als Gegenstand der Erkenntnis
4. Sombarts Kritik der Nationalökonomie
5. Logik und Sozialwissenschaft

5. Logik und Sozialwissenschaft

Zwei Aufgaben waren der besonderen Logik der Sozialwissenschaften in den letzten Menschenaltern gestellt: Auf der einen Seite hatte sie die Eigenart, die Möglichkeit und die Notwendigkeit der Geschichte aufzuweisen, auf der anderen Seite hatte sie zu zeigen, daß und wie es eine nach allgemeingültiger Erkenntnis hinstrebende Wissenschaft vom menschlichen Verhalten gibt. Es ist nicht zu bestreiten, daß sie zur Lösung dieser beiden Aufgaben ganz außerordentlich viel geleistet hat. Daß diese Lösungen nicht „endgültig“ und nicht „abschließend“ sind, ist klar; „Endgültiges“ und „Abschließendes“ gibt es nicht, solange der menschliche Geist nicht aufgehört hat, zu denken, zu streben und zu forschen.
Wenn vom Boden bestimmter politischer Ideen, die man mit den Mitteln der allgemeinen Logik nicht zu vertreten vermag, immer wieder die Forderung erhoben wird, das sozialwissenschaftliche Denken von den allem Denken notwendigen Regeln zu befreien, so ist das eine Sache, mit der sich das wissenschaftliche Denken, das sich an diese logischen Regeln gebunden erachtet, nicht zu befassen vermag.

Als vor mehr als einem Jahrhundert Sismondi gegen Ricardo auftrat, verkündete er, die politische Ökonomie sei keine „science de calcul“, sondern eine „science morale“, für die er den Satz aufstellte, „toute abstraction est toujours une déception“.(1) Das Geheimnis, wie man ohne abstrakte Begriffe Wissenschaft betreiben könnte, haben uns weder Sismondi noch die vielen, die das Schlagwort von ihm übernommen haben, verraten. Heute wird uns als jüngstes Erzeugnis der sozialwissenschaftlichen Logik der „lebendige Begriff“ empfohlen, der die Kraft hat, „neue Inhalte aufzunehmen“. Da lesen wir in den programmatischen Erklärungen, die eine von einem Kreise deutscher Hochschullehrer herausgegebene neue „Zeitschrift für geistige und politische Gestaltung einleiten: „Begriffe sind lebendig, solange sie die Kraft haben, neue Inhalte aufzunehmen. Neue Inhalte aufnehmen heißt nicht, die alten abstoßen, heißt nicht, sich von den Ursprüngen losreißen, aus denen der Begriff einmal geboren ist. Neue Inhalte aufnehmen heißt vielmehr: Die Macht eines Begriffes und durch ihn hindurch die Macht seines Ursprunges daran zu erweisen, daß er jede ihm drohende Erstarrung zu durchbrechen vermag“.(2) Daß man mit Begriffen von veränderlichem Inhalt trefflich streiten und ein System bereiten kann, ist wohl zuzugeben. Wir „verstehen“ das Bedürfnis bestimmter politischer Parteien nach solchen Gebilden sehr gut. Wir haben jedoch nur das eine festzustellen, daß hier nicht ein Bedürfnis des sozialwissenschaftlichen Denkens vorliegt, sondern das Bedürfnis politischer Parteien, die ihre Programme logisch nicht zu rechtfertigen vermögen.

Nur der Umstand, daß diese Parteien heute mit guter Aussicht auf Erfolg nach der Weltherrschaft streben, daß die Massen ihnen nachfolgen, daß der Staat ihnen alle Lehranstalten übergeben hat, daß die Literaten sie in den Himmel heben, läßt es zweckmäßig erscheinen, den Gemeinplatz zu wiederholen, daß es nur eine Logik gibt und daß alle Begriffe durch die Eindeutigkeit und Unwandelbarkeit ihres Inhaltes gekennzeichnet sind.

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(1) Vgl. Sismondi, Nouveaux principes d’économie politique, Paris 1819. I. Bd. S. 288

(2) Vgl. Tillich, Sozialismus (Neue Blätter für den Sozialismus, I. Jahrgang, 1930, S. 1)