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Die Irrthümer des Historismus in der deutschen Nationalökonomie.

Vorwort
Inhalt.
Erster Brief.
Zweiter Brief.
Dritter Brief.

Dritter Brief.

12 Sowohl der Geschichtsschreiber und Statistiker, als auch der Socialtheoretiker beschäftigen sich mit Gesellschaftserscheinungen; wodurch unterscheidet sich ihre wissenschaftliche Thätigkeit? Wodurch unterscheiden sich die historischen von den theoretischen Socialwissenschaften? Diese für die Wissenschaftslehre an sich bedeutungsvolle Frage hatte für mich eine besondere Wichtigkeit gewonnen. In der neuern national-ökonomischen Literatur Deutschlands waren, neben manchen andern Irrthümern, von welchen ich weiter unten zu handeln gedenke, Ansichten zu Tage getreten, welche auf dem Gebiete der Volkswirthschaft jede strengere Trennung von Geschichtsschreibung und Statistik einerseits und der Theorie andererseits vermissen liessen. Es war eine Schule von Volkswirthen entstanden, welche sich um die Geschichte und die Statistik der Volkswirthschaft von Niemand bereitwilliger, als von mir, anerkannte Verdienste erworben hatte, welche die obigen Wissenschaften und die theoretische Nationalökonomie indess vielfach mit einander verwechselte, ja, in Folge der Auffassung der letzteren als eine historische Wissenschaft, die selbstständige Bedeutung derselben geradezu in Frage stellte.(1)

13 Dieser für die Entwicklung der Theorie der Volkswirthschaft verderblich gewordenen Einseitigkeit entgegenzutreten, hatte ich mir zur Aufgabe gestellt. Nicht als ob ich den Nutzen und die Bedeutung historischer und statistischer Forschungen auf dem Gebiete der Volkswirthschaft an sich, oder als Hilfswissenschaften der theoretischen Volkswirthschaftslehre jemals verkannt oder auch nur unterschätzt hätte; im Gegentheile, ich habe die Wichtigkeit dieser Richtungen des Erkenntnisstrebens auf national-ökonomischem Gebiete mit nicht misszuverstehender Rückhaltlosigkeit anerkannt. Was ich an den Bestrebungen jener grossen Gruppe deutscher Fachgenossen, welche unter dem Collectivnamen der historischen Schule deutscher Nationalökonomen eine so hervorragende Stellung in der neueren volkswirthschaftlichen Literatur Deutschlands einnehmen, zu bemängeln fand, war die Einseitigkeit, mit welcher dieselben ihre geistige Kraft zum Theile nur historischen und statistischen Studien, also der Bearbeitung von Hilfswissenschaften der politischen Oekonomie, zuwenden, die einer Reform dringend bedürftige Theorie unserer Wissenschaft jedoch auf das Bedauerlichste vernachlässigen, zum Theile sogar der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft mit missverständlicher Geringschätzung entgegentreten, als wäre die historische Forschung allein berechtigt auf dem Gebiete der Volkswirthschaft.

Die historische Schule deutscher Volkswirthe gab auch in einer anderen verwandten Rücksicht zu mancherlei Bedenken Anlass. Hervorragende Vertreter derselben liessen jede strengere Trennung der theoretischen und praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft vermissen; nicht nur in den meisten neueren Lehrgebäuden unserer Wissenschaft, also in der Praxis 14 der Darstellung, auch in den grundlegenden methodischen Erörterungen wurden nur zu oft die Grenzen der beiden obigen fundamental verschiedenen Richtungen der Forschung verkannt, ja diese Verirrung als ein epochemachender Fortschritt unserer Wissenschaft gekennzeichnet.

Noch in einer dritten Beziehung glaubte ich in den methodischen Grundsätzen der historischen Schule einen Irrthum zu erkennen. Selbst diejenigen Anhänger dieser Schule, welche die selbstständige Bedeutung der theoretischen Volkswirthschaftslehre nicht schlechtweg leugnen, also neben historisch-statistischen Studien und socialpolitischen Forschungen die Berechtigung einer Wissenschaft von den “Gesetzen” der Volkswirthschaft zugestehen, selbst diese Anhänger der historischen Schule deutscher Volkswirthe schienen mir von grober Einseitigkeit in ihrer Auffassung der theoretischen Volkswirthschaftslehre nicht völlig frei zu sein, indem sie nicht allen dem Gebiete der Volkswirthschaft adäquaten, sondern nur gewissen mit historisch-statistischen Studien in engerer Beziehung stehenden Richtungen der theoretischen Forschung (der Philosophie der Wirthschaftsgeschichte u. s. f.) die Berechtigung zuerkannten(2), allen übrigen aber, darunter solchen von der fundamentalsten Bedeutung, mit unbegründeter Geringschätzung entgegentraten.(3)

15 Die historische Schule deutscher Volkswirthe schien mir solcher Art den Begriff der politischen Oekonomie und ihrer Theile, das Verständniss des Verhältnisses dieser letzteren zu einander und zu ihren Hilfswissenschaften, vor Allem aber die Uebersicht über die verschiedenen berechtigten Richtungen der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft – kurz den Einblick in das System der Aufgaben verloren zu haben, deren Lösung der wissenschaftlichen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft obliegt. Ein Theil ihrer Vertreter beschäftigte sich ausschliesslich mit der Geschichte und der Statistik der Volkswirthschaft, also mit Hilfswissenschaften der politischen Oekonomie, während er doch, sei es nun mittelbar oder unmittelbar, an dem Ausbaue der letzteren zu arbeiten wähnte, ein anderer mit der Lösung praktischer, zumal socialpolitischer Probleme, in der Meinung, die Theorie der Volkswirthschaft umzugestalten, noch ein anderer endlich erschöpfte seine geistige Kraft in der Verfolgung gewisser mit historisch-statistischen Studien in engster Beziehung stehenden besonderen Richtungen der theoretischen Forschung, jede andere Richtung des theoretischen Erkenntnissstrebens auf dem Gebiete der Volkswirthschaft als Missverständniss der wahren Ziele national-ökonomischer Forschung zurückweisend.

Diese Verirrungen eines namhaften Theiles der deutschen Volkswirthe zu bekämpfen, erschien mir aber um so wichtiger, als die denselben zu Grunde liegende Verkennung wichtiger Aufgaben der politischen Oeko- 16 nomie in hohem Masse verderblich auf die Entwicklung unserer ganz vorzugsweise in ihrem theoretischen Theile reformbedürftigen Wissenschaft einwirken musste. Ich glaubte wahrzunehmen, dass in Deutschland die theoretische Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft in Folge der obigen Irrthümer, d. i. seit der Begründung der historischen Schule, überhaupt unterschätzt werde, in manchen Zweigen geradezu ausser Uebung gekommen sei, zum grossen Nachtheile unserer Wissenschaft.

Der Weg den ich zur Bekämpfung der obigen Einseitigkeiten und Irrthümer der historischen Schule einzuschlagen hatte, konnte für mich kein zweifelhafter sein. Der Irrthum der in Rede stehenden Gruppe deutscher Volkswirthe liegt in ihren Anschauungen über die Natur der politischen Oekonomie und ihrer Theile, über das Verhältniss dieser letzteren zu einander und zu gewissen Hilfswissenschaften der politischen Oekonomie, endlich in ihren einseitigen Lehrmeinungen über die Natur des theoretischen Erkenntnissstrebens auf dem Gebiete der Volkswirthschaft. So schwierig und umfassend auch die Untersuchung sich gestalten mochte: es musste die Natur der obigen Disciplinen und ihre Stellung im Kreise der Wissenschaften überhaupt klargestellt werden, ehe ich die für die Entwicklung der politischen 0ekonomie verderblichen Irrthümer der historischen Schule zu widerlegen vermochte.

Es hiesse nun einen namhaften Theil meiner Erörterungen über diesen Gegenstand in einer über den Rahmen dieser Schrift hinausreichenden Weise wiederholen, wollte ich die obigen für die Forschung auf dem Gebiete der Socialwissenschaften überhaupt und der politischen Oekonomie insbesondere, grundlegenden Fragen, an dieser Stelle neuerdings eingehend 17 behandeln. Was ich hier beabsichtige, ist, den Angriffen zu begegnen, welche meine “Untersuchungen” Seitens einiger namhafter Vertreter der historischen Schule deutscher Volkswirthe gefunden haben. Nur die letzten Ergebnisse meiner Forschung, und selbst diese nur insoweit, als sie Gegenstand der wissenschaftlichen Discussion geworden sind, mögen hier, in wenige Worte zusammengefasst, ihre Stelle finden.

Es sind die Thaten, Schicksale, Institutionen bestimmter Staaten und Völker, welche der Geschichtsschreiber und Statistiker, der erstere unter dem Gesichtspunkte der Entwickelung, der letztere unter jenem der Zuständlichkeit zu erforschen und darzustellen haben; der Theoretiker auf dem Gebiete der Staats- und Socialerscheinungen hat dagegen die Aufgabe, uns – nicht die concreten Erscheinungen und die concreten Entwickelungen, sondern – die “Erscheinungsformen” und die “Gesetze” der bezüglichen Menschheitsphänomene zum Bewusstsein zu bringen; der Forscher auf dem Gebiete der praktischen Staats- und Socialwissenschaften aber soll uns die “Grundsätze” zum zweckmässigen Eingreifen in die staatlichen und gesellschaftlichen Zustände lehren, die Grundsätze, nach welchen gewisse Absichten, z.B. die Pflege der Volkswirthschaft, die Verwaltung des Staatshaushaltes u. s. f. am zweckmässigsten verwirklicht werden können.

In diesem Sinne sagte ich, dass der Geschichtsschreiber und Statistiker die concreten Erscheinungen des Menschenlebens und ihre concreten Beziehungen in Raum und Zeit (der erstere unter dem Gesichtspunkte der Entwickelung, der letztere unter jenem der Zuständlichkeit!), der  Theoretiker die Erscheinungsformen des Menschenlebens und die Gesetze der Erscheinungen des letzteren (die Typen und 18 die typischen Relationen der Menschheitserscheinungen), der Bearbeiter der praktischen Staats- und Socialwissenschaften aber die Grundsätze zum zweckmässigen Handeln auf dem Gebiete der Staats und der Gesellschaftserscheinungen zu erforschen und darzustellen habe.

Ich blieb bei dieser Classification und ihrer Anwendung auf die Wirthschaftswissenschaften nicht stehen. Die hauptsächlichen Irrthümer der historischen Schule der deutschen Volkswirthe betreffen ihre Auffassung vom Wesen der theoretischen Nationalökonomie, ihre einseitige Hinneigung zu einzelnen mit historischen Studien eng verbundenen Richtungen der theoretischen Forschung. Hatte ich mir die Aufgabe gestellt, in seinen Grundzügen zunächst das ganze System der Probleme darzulegen, welche der menschliche Geist auf dem Gebiete der Socialforschung überhaupt und der politischen Oekonomie insbesondere zu lösen hat, so trat an mich nunmehr die engere Aufgabe heran, das System der berechtigten Richtungen der theoretischen Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft festzustellen. In diesem Sinne habe ich ansgeführt, dass es zwei Hauptrichtungen der theoretischen Forschung gebe. Beide haben den Zweck, die Erscheinungsformen und die Gesetze der volkswirthschaftlichen Phänomene festzustellen. Die erstere (die empirische) soll die Erscheinungsformen der realen Phänomene der Volkswirthschaft “in ihrer vollen empirischen Wirklichkeit” und die zu beobachtenden Regelmässigkeiten in der Aufeinanderfolge und der Coexistenz, (die “empirischen Gesetze”) der volkswirthschaftlichen Erscheinungen feststellen, während der anderen (der exacten Richtung der theoretischen Forschung), in einer den exacten Naturwissenschaften analogen, wenn 19 auch keineswegs identischen Weise, die Aufgabe zufällt, die realen Erscheinungen der Volkswirthschaft auf ihre einfachsten streng typischen Elemente zurückzuführen und uns, auf der Grundlage des Isolirungsverfahrens, die (exacten) Gesetze darzulegen, nach welchen sich complicirtere Erscheinungen der Volkswirthschaft aus den obigen Elementen entwickeln, um uns auf diesem Wege, zwar nicht das Verständniss der socialen Erscheinungen in “ihrer vollen empirischen Wirklichkeit”, wohl aber jenes der wirthschaftlichen Seite derselben zu verschaffen.

Dem Nachweise der von der historischen Schule deutscher Nationalökonomen eifrig bestrittenen Berechtigung dieser letzteren Richtung des theoretischen Erkenntnissstrebens auf dem Gebiete der Volkswirthschaft habe ich aber meine besondere Sorgfalt zugewandt.

Nun weiss ich sehr wohl, dass durch die Zusammenfassung der Ergebnisse eines Theiles meiner Untersuchungen in so wenige Worte ich meinen Lesern nur ein höchst unvollkommenes Bild derselben zu bieten vermag. Liegt doch der hauptsächliche Werth wissenschaftlicher Ergebnisse in der genetischen Entwicklung und der methodischen Begründung derselben. Indess selbst die schematische Form, in welcher ich dieselben hier wiedergebe, wird, wie ich glaube, genügen, um meine Leser über den Werth der Angriffe zu orientiren, welche meine “Untersuchungen über die Methode der Forschung” seitens eines Theiles der national-ökonomischen Kritik Deutschlands erfahren haben.


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(1) Vgl. hiezu H. Dietzel: Ueber das Verhältniss der Volkswirthschaftslehre zur Socialwirthschaftslehre. Berlin 1882. S. 4ff, 7ff.

(2) Vgl. hiezu die sachgemässen Ausführungen von H.  Dietzel   a. a. O. S. 31 ff.

(3) "Beide Richtungen (die historisch und die organische), besonders aber die historische, gewannen in Deutschland rasch Boden und heutzutage dominieren sie die deutsche Wissenschaft fast ganz. Die Art, in der sie ihre Herrschaft ausüben, ist, was man nicht läugnen kann, wenig duldsam. Jede von der herrschenden einigermassen abweichende Richtung der For- 15 schung wird als “abstract”, “unhistorisch” oder “atomistisch” verurtheilt oder ignorirt." E. v. Böhm-Bawerk  in der “Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart”. Wien 1883, XL. B., S. 209.