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Der Platz der Manchester-Schule in der Geschichte der Freiheit (2001)

Der Platz der Manchester-Schule in der Geschichte der Freiheit (2001)

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Quelle: Eigentümlich Frei Nr. 16, Juli/August 2001, S. 12.

Die Manchester-Schule um Richard Cobden und John Bright ist ein wichtiger Kristallisationspunkt des modernen Liberalismus. Geliebt und bewundert von den Freunden der Freiheit, ist und bleibt „Manchester“ ein rotes Tuch für Sozialdemokraten, Faschisten, Marxisten und andere Verehrer staatlicher Gewalt. Wir geben hier eine skizzenhafte Einordnung der Manchester-Schule in die Geschichte der Freiheit.

Brutstätte von individueller Freiheit, Kapitalismus und politischer Anarchie ist das christliche Europa des Mittelalters. Der Glaube an den Gott, der von seiner Regierung und von seinen Mitmenschen getötet wurde, schuf hier einen eigenartigen kulturellen Raum. Der Zusammenhang dieses Raumes entsprang nicht irgendeiner Zentralgewalt, die ihren Untertanen eine einheitliche Ordnung aufzwang. Die Rahmenbedingungen für eine den ganzen Kontinent erfassende Arbeitsteilung – Respekt des Eigentums, Einhalten von Versprechen, friedliche Schlichtung von Streitfragen – wurden hier nicht durch die Speere, Schwerter und Bajonette eines einzigen Herrschers sichergestellt, sondern durch eine kulturelle Einheit, die im rein Geistigen verankert war: in der Autorität des dreifaltigen Gottes und seines Stellvertreters auf Erden. Der Glaube an diese Autorität schuf eine europäische Ordnung ohne gesamteuropäischen Herrscher, eine Ordnung, die unliebsamen Neuerern nicht nur mit einer gewissen Toleranz begegnete, sondern ihnen auch immer wieder die Möglichkeit bot, den Verfolgungen ihrer Landesherrn zu entgehen und ihre Tätigkeit anderswo fortzusetzen.

Das schöpferische Potential dieser Gottesgesellschaft zeigte sich zum ersten Mal nach dem Zusammenbruch des Karolingerreiches zu Anfang des 10. Jahrhunderts. Im vielgeschmähten Feudalismus entstand ein System weitläufiger Arbeitsteilung und konkurrierender Regierungen, in dem Städte, Handel, Architektur und Handwerk zu nie gekannter Blüte gelangten. Gerade das machte den Feudalismus in den Augen der herrschenden Klassen unerträglich: die durch die Existenz anderer Feudalherren gegebene Bedrohung und die zunehmende Unabhängigkeit ihrer Untertanen.

Es fehlte nicht an Versuchen, großflächige politische Einheiten gewaltsam zu bilden, und die meisten mittelalterlichen Kämpfe um die Freiheit kennzeichnen sich daher durch den Widerstand des lokalen Adels und der Städte gegen die Anmaßungen aggressiver Feudalherren. Dieser Widerstand erfolgte nicht nur praktisch-militärisch, sondern auch auf geistig-ideologischer Ebene und brachte dabei die ersten großen Zeugnisse des mittelalterlichen politischen Denkens hervor. Magna carta und habeas corpus zählen zu den wichtigsten Rechtfertigungen des Widerstands gegen Übergriffe anmaßender Herren. Sie verbürgten die unantastbaren Rechte der (adeligen) Individuen, und in jedem Fall begrenzten sie die Zuständigkeit der Fürsten. Auch das juristischen Denken trennte streng zwischen Recht und Rechtsdurchsetzung und entwickelte, ganz in der philosophischen Tradition der Stoik und des Christentums, Gesetzessammlungen wie den Saxenspiegel, die die juristische Praxis leiteten, ohne den Monopolstatus des heutigen positiven Rechts zu genießen.

Dennoch gehen die Könige aus dem jahrhundertelangem Ringen mit den Städten, der Kirche und dem feudalen Adel schließlich siegreich hervor. Ab dem 17. Jahrhundert kommt es zur Bildung von Staaten unter der Führung „souveräner“ Könige, deren frühere Konkurrenten häufig auf den Status bloßer Vassallen sinken. Doch der Sieg der Könige wurde erst durch die Unterstützung breiterer Bevölkerungskreise möglich, die sich mit Hilfe des Königs aus dem Joch der lokalen Feudalherrschaft zu befreien suchten, und diese Unterstützung forderte nun ihren Preis. Immer unverblümter sucht die Elite der städtischen Bevölkerung die Ausweitung der königlichen Macht einzudämmen bzw. sie zu beschneiden. Es kommt (in England) zum ersten erfolgreichen militärischen Aufstand bürgerlicher Kreise gegen die herrschende Adelskaste.

Im Zuge der Rechtfertigung dieser „glorreichen Revolution“ werden auf beiden Seiten verschiedenartige Argumente vorgebracht, die das abendländische politische Denken bereichern und für die nächsten Jahrhunderte prägen sollten. Das liberale Denken findet einen großartigen Ausdruck in Lockes zweiter Abhandlung über die Regierung, in welcher er erklärt, wie Eigentum auch ohne zentrale Zuweisung oder Durchsetzung von Rechten entstehen kann, nämlich durch individuelle Arbeit. Aber in seiner Staatslehre sucht er die Begrenzung der traditionell adeligen Herrschaft durch demokratische Kontrolle zu verwirklichen. Er verficht den neuen Grundsatz der Gewaltenteilung und aus der Naturrechtslehre 16. Jahrhundert übernimmt er, wie auch sein Zeitgenosse Hobbes, die Idee des den Staat begründenden Gesellschaftsvertrages.

Diese geistige Ausgangslage sollte für die liberalen Kämpfe des folgendes Jahrhunderts entscheidend sein: die Betonung von im Privateigentum wurzelnden Individualrechten und das Ideal eines auf egalitär-republikanischem Gesellschaftsvertrag beruhenden Staates. Unter diesem Banner wurde die amerikanische und die französische Revolution in blutigen Kriegen zum Sieg geführt. Leider sollte sich in beiden Fällen zeigen, daß der neugegründete republikanische Staat weitaus schlechter im Zaume zu halten war als sein adeliger Vorgänger.

Die Begründung individueller Rechte mit naturrechtlichen Argumenten à la Locke wurde im Verlaufe des 18. Jahrhunderts durch eine utilitaristische Argumentation ergänzt und teilweise verdrängt. Innerhalb weniger Jahrzehnte wurde diese Argumentationsweise systematisch verfeinert und von französischen und britischen Philosophen wie Cantillon, Hume, Turgot, Condillac, Smith, Say und Ricardo zur neuen Wissenschaft der politischen Ökonomie ausgebaut. Die Entstehung dieser neuen Lehren veränderte das Koordinatensystem des liberalen Kampfes. Von nun war es klar, daß es nicht nur um die Beseitigung adeliger Vorrechte ging, sondern um die Beseitigung von Monopolen und anderen rechtlichen Sonderstellungen überhaupt. Alle – oder fast alle – Eingriffe des Staates schadetem dem Volkskörper, indem sie seine Produktivität herabdrückten. In den Augen konsequenter Vertreter der politischen Ökonomie wie Charles Comte und Charles Dunoyer waren Staatsinterventionen daher überhaupt nicht vor dem Hintergrund ihrer Nützlichkeit zu erklären; vielmehr dienten sie allein den Interessen einer parasitären Klasse von politischen Herrschern, die die industrielle Klasse der Arbeiter und Kapitalisten systematisch auszubeuten trachtete.

Diese liberale Klassentheorie des frühen 19. Jahrhunderts prägte auch die Manchester-Schule oder Manchesterbewegung. Die sieben Männer, die sich im Oktober 1838 in der nordenglischen Stadt zusammenfanden, um der Ausbeutung ihrer Landsleute durch das politische Establishment den Kampf anzusagen, waren inspiriert von den Schriften Smiths, Ricardos und Says. Sie verabscheuten die Blutorgien der französischen Revolution und wollten mit rein friedlichen Mitteln, durch die Macht der öffentlichen Meinung allen Monopolen den Garaus machen. Ihr erstes Ziel war die Abschaffung der Getreidezölle, der wirtschaftlichen Grundlage der Herrschaft des englischen Adles, und so nannten sie ihre Vereinigung die Anti-Corn Law League.

Bei nüchterner Betrachtung schien die Lage eigentlich hoffnungslos. Das politische Establishment kontrollierte nicht nur Polizei und Armee, sondern auch die Gesetzgebung und jene zahlreichen Unternehmen, die ihre Marktstellung durch Monopole und andere staatliche Wettbewerbsbeschränkungen erlangt hatten. Am schlimmsten stand es im Bereich der öffentlichen Meinung. Die staatliche anglikanische Kirche benutzte die Altare, um den Thron und seine Vassallen zu sichern, und die Presse befand sich ebenfalls in den Händen des Establishments.

Doch die Führer der Manchester-Männer waren durch das Geschäftsleben gestählte Unternehmer, die es gewohnt waren, durch Einfallsreichtum und Zähigkeit alle Arten von Widerständen zu überwinden. Sie suchten und erhielten die Zusammenarbeit anderer Gruppen: Philanthropen, Geschäftsleute, Philosophen, Freikirchen und Pazifisten. In Zusammenarbeit mit diesen Partnern ersannen sie eine großangelegte und systematische Public-Relations Kampagne. Eine der ersten Aktionen brachte 700 freikirchliche Priester zu einer Konferenz in Manchester, wo sie sich von der Berechtigung des freihändlerischen Anliegens überzeugten und dann auszogen, um mit großem Enthusiasmus die Vereinbarkeit des Freihandels mit der göttlichen Vorsehung zu verkünden. Aus der Industrie flossen bald große Mittel für weitere Projekte: Es wurden zwölf Professorenstühle für politische Ökonomie geschaffen und strategisch im ganzen Land verteilt; freihändlerische Broschüren, Pamphlete und Zeitschriften wurden massenweise gedruckt und verteilt; und man finanzierte die Teilnahme von Manchesterleuten an öffentlichen Wahlen.

Am wichtigsten aber erwies sich die Mitarbeit jener Männer, die ihr politisch-ökonomisches Wissen und ihre Rednergabe in den Dienst der Sache stellten und die freihändlerische Botschaft nicht nur verkündeten, sondern in allen möglichen Debatten schlagkräftig vertraten. Während in der heterogenen Koalition der Manchesterbewegung durchaus verschiedene Zielsetzungen verfolgt wurden, wurde das öffentliche Erscheinungsbild der Bewegung durch diese gebildeten Männer bestimmt, unter denen zwei besonders hervorragten: Richard Cobden und John Bright. Ihre kohärente, radikale und kompromißlose Argumentation war es, die die Bewegung in den Augen der Gegner als „Manchester-Schule“ erscheinen ließ. Cobdens Reden vor der gegen ihn aufgehetzten Landbevölkerung, die die Getreidezölle als Schutzwall gegen die Invasion ausländischen Getreides empfand, verschafften ihm selbst unter diesen Hörern Anerkennung und Gefolgschaft.

Cobden und Bright sahen sich ganz bewußt als Teilnehmer am Klassenkampf der industriellen Klasse gegen die parasitäre politische Klasse, deren Herrschaft auf Monopolen, Zöllen und der Ausbeutung 45 überseeischer Kolonien mit Steuergeldern beruhte. Die Ausbeutung im Inland und der überseeischer Imperialismus bedingten somit einander und mußten beide bekämpft werden, um zu verhindern, daß es über kurz oder lang zum Krieg mit anderen Nationen käme. Der Liberalismus der Manchester-Schule verfolgte daher mit aller Entschiedenheit die Abschaffung aller Monopole im Innern und Freihandel und Abschaffung des Kolonialwesens im Verkehr mit dem Ausland.

Auf den wachsenden Erfolg der Manchesterbewegung reagierte der Adel mit einer Rückzugsstrategie, die Nachgiebigkeit in einigen Fragen mit Korrumpierung des Gegners verband, um die Haupteinnahmequelle des Establishments – der steuerfinanzierte Betrieb der Kolonien – zu sichern. Zur Linderung der Armut wurde die Auswanderung erleichtert, es wurden Mittel bereit gestellt, um arme Familien mit jeweils einem Garten und einer Kuh zu versehen, die Arbeitszeit wurde gesetzlich begrenzt, es wurden öffentliche Bäder, Erholungsstätten und Schulen geschaffen und das aktive und passive Wahlrecht wurde immer weiter ausgedehnt. Schließlich wurde sogar dem Hauptanliegen der Anti-Corn Law League entsprochen und die Getreidezölle zuerst gesenkt und dann ganz abgeschafft, zusammen mit den Zöllen auf hunderte von anderen Gütern.

Das war das Fanal für eine ganze Serie einseitiger Handelsliberalisierungen in vielen anderen europäischen Ländern. Überall setzte sich unter dem Einfluß der Liberalen die Einsicht durch, daß jedes Land sich durch eine einseitige Abschaffung seiner Zölle besser stellen kann, auch wenn diese Politik in anderen Ländern nicht erwidert wird. Zwanzig Jahre später war Europa nicht nur wirtschaftlich geeint, sondern Teil eines wachsenden Weltmarktes – ein schöner Kontrast zum heutigen Trauerspiel der durch E.U und W.H.O. zentralverwalteten Handelsbarrieren.

Die sich aus den Zollsenkungen ergebenden Einnahmeverluste stellten nun die englische Kolonialpolitik in Frage. Die Regierung von Robert Peel schuf den nötigen Ausgleich daher mit einer neuen Steuer auf hohe Einkommen sowie durch die Errichtung einer Zentralbank, die in den kommenden Jahrzehnten allen anderen Ländern zum Modell dienen sollte.

Diese reaktionäre Strategie erwies sich erfolgreich und inspirierte sicher auch Bismarck, der einige Jahrzehnte später in seiner Auseinandersetzung mit den deutschen Liberalen ganz ähnliche Methoden anwandte. Die Manchesterbewegung verlor an Schwung und verlief sich in verschiedenen Kampagnen zur Ausweitung des Wahlrechts (Bright) und pazifistischen Bestrebungen zur Abschaffung der Kolonialpolitik (Cobden).

Welche Stellung hat diese Bewegung also in der Geschichte der Freiheit? Einige Historiker gestehen ihr nur eine praktische Bedeutung zu. Infolge ihrer ideologischen Heterogenität, so das Argument, sei sie im wesentlichen „eine bemerkenswert erfolgreiche Bestrebung zur Beseitigung eines großen Hindernisses für die Entwicklung der Marktwirtschaft“ (W.D. Grampp). Aber diese Betrachtungsweise ist kurzsichtig, da sie lediglich auf die erfolgreiche Kampagne zur Abschaffung der Getreidezölle und zur Liberalisierung des Außenhandels abstellt. Der hohe politische Preis, der hierfür zu erbringen war, wird dabei übergangen, insbesondere daß die Manchesterbewegung ganz wesentlich zur demokratischen Legitimisierung des Staates beigetragen und damit einer großen Intensivierung des staatlichen Interventionismus Vorschub geleistet hat. Durch ihre Zusammenarbeit mit der Regierung Peel haben die Manchester-Männer zumindest indirekt dem neuen Zentralbanksystem und damit der Monopolisierung des Geldwesens Ansehen verschafft. War dieser Preis nicht zu hoch für die erreichten Liberalisierungen? Ohne die von England inspirierten Zentralbanken wären die Kriege des 20. Jahrhunderts kürzer und weniger brutal gewesen, hätte es in Deutschland keine Hyperinflation gegeben und damit keine Hitlerregierung, und ohne Zweifel hätten alle Regierungen ein unvergleichlich geringeres Wachstum auf Kosten ihrer Bevölkerungen genossen.

Der eigentliche Beitrag der Manchester-Schule zur Geschichte der Freiheit liegt letztlich im geistigen Bereich. Es wird ihr unsterbliches Verdienst bleiben, daß sie die Argumente der klassischen Ökonomie unter großen Teilen der Bevölkerung bekannt und beliebt gemacht hat und dadurch ein langfristiges politisches Umdenken in Gang setzte, das die politische Praxis nachhaltig geprägt hat – weltweit. Auch den Liberalen der Gegenwart bieten sich an diesem Beispiel viele Anknüpfungspunkte.

Literaturempfehlungen

  • Bastiat, F. 1883. Cobden et la ligue. 4. Aufl. Paris: Guillaumin.
  • Creveld, Martin van. 1999. The Rise and Decline of the State. Cambridge: Cambridge University Press.
  • Grampp, William D. 1960. The Manchester School of Economics. Stanford: Stanford University Press.
  • Hirst, F.W. (Hg.) 1903. Free Trade and Other Fundamental Doctrines of the Manchester School. New York: Harper & Bros.
  • McCord, N. 1958. The Anti-Corn Law League, 1838-1846. London: Allen & Unwin.
  • Mises, Ludwig von. 1978. Im Namen des Staates. Stuttgart.
  • Morley, J. 1881. The Life of Richard Cobden. London: Chapman & Hall.
    Prentice, A. 1853. History of the Anti-Corn Law League. London: Cash.
  • Rothbard, Murray N. An Austrian Perspective on the History of Economic Thought. 2 Bde. London: Edward Elgar.
  • Trevelyan, G.M. 1913. The Life of John Bright. London: Constable.