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Meinung

Gewissensfreiheit oder Schulpflicht? (Nov. 2003)

Gewissensfreiheit
und Toleranz bestehen in Deutschland nur auf dem Papier. In der Praxis wird die
Stimme des persönlichen Gewissens nur dann toleriert, wenn sie dem Staat nicht
in die Quere kommt. Wer daran noch zweifelte, ist vor kurzem wieder eines Besseren
belehrt worden. Die Eltern der zehnköpfigen Familie Bauer aus Hessen sind strafrechtlich
belangt worden, weil sie ihre fünf schulpflichtigen Kinder nicht auf staatliche
Schulen schicken, sondern zu Hause erziehen. Die Eltern meinten, damit im
besten Interesse ihrer Kinder zuhandeln. Den Staat kümmert das nicht. Seine
Beamten wissen sicherlich am besten, was wirklich im Interesse der Bürger und
ihrer Kinder liegt. Sie wissen das sicherlich besser als die Bürger
selbst.

Es ist
leider symptomatisch für unser Land geworden, daß dieser neuerliche Fall
unsäglicher bürokratischer Anmassung keinesfalls als Skandal empfunden wird. Daß
er überhaupt Aufmerksamkeit erregte, verdankt er in erster Linie seinen
symbolträchtigen Protagonisten: hier der Staat und die vermeintliche Errungenschaft
der Schulpflicht; dort die christliche Großfamilie, wie aus einer anderen Zeit,
in der die Kinder zu Gehorsam, Keuschheit, Schamhaftigkeit und Bibeltreue
erzogen werden. In gewisser Hinsicht war die politische Auseinandersetzung der Familie
Bauer mit ihrem Staat damit bereits von vorneherein entschieden, denn die
öffentliche Meinung ließ sich für ihre Sache nicht mobilisieren. „Keuschheit“
und „Gehorsam“ – beim Klang dieser Worte rollen sich in deutschen
Redaktionsstuben die Fingernägel auf. Daraus wollte scheinbar keiner eine
Grundsatzfrage machen.

Man halte
es sich vor Augen: Eine staatlich besoldete Richterin befindet darüber, wen ihr
Arbeitgeber zum Besuch seiner Schulen zwingen darf. Es kam, wie es kommen
mußte: Die Dame konnte keine „unerlaubte“ Indoktrinierung der Kinder erkennen. Schließlich
sei Unterricht über Evolutionstheorie und sexuelle Selbstbestimmung durch
weitgehenden Konsens verbürgt. Außerdem bekämen die Kinder in der Schule nur
das geboten, was ohnehin schon gesellschaftliche Wirklichkeit sei. Ein erstaunliches
Urteil. Aber unsere staatstreuen Medien sehen hier keinen Grund zu Besorgnis.
Es sind ja nur ein paar christliche Fundis zur Räson gebracht worden.

Das richterliche
Urteil und die Reaktion in den Medien legen den Schluß nahe, daß bei uns viele
den Grundsatz der Gewissensfreiheit nicht mehr verstehen. Was heißt es denn,
daß wir jemanden frei nur seinem eigenen Gewissen folgen lassen? Es heißt, daß
wir ihn gewähren lassen, auch wenn wir seine Gründe nicht teilen können – oder vielmehr:
gerade, wenn wir seine Gründe nicht teilen können. In genau diesem Sinne wird
auf unseren Sonntagsreden immer wieder gebetsmühlenhaft ein Ausspruch Rosa
Luxemburgs zitiert. Aber das Urteil über die Bauers erging ja an einem
Mittwoch.

Die Eltern
Bauer scheinen den Grundsatz der Gewissensfreiheit jedenfalls besser verstanden
zu haben als ihre Richterin vom Landgericht Gießen. Sie haben sich nicht darauf
berufen, daß ihre Erziehungsauffassung die richtige sei und daß sie deshalb das
Recht hätten, ihre Kinder im Lichte dieser Auffassung zu erziehen. Sie haben vielmehr
argumentiert, daß sie eine andere Auffassung als der Staat über die richtige
Erziehung ihrer Kinder haben. In einer liberalen Gesellschaft wäre die
Diskussion an dieser Stelle beendet. So sah das auch das Amtsgericht Alsfeld,
das in erster Instanz zugunsten der Familie Bauer entschied und damit die Ehre
der deutschen Justiz rettete. Anders das Landgericht Gießen. Hier schickt sich
eine Richterin an, darüber zu befinden, welche Gewissensgründe denn anerkennungsfähig
sind. Aber das heißt eben nichts anderes, als daß es nach Meinung dieser Dame
so etwas wie Gewissensfreiheit bei uns nicht gibt.

Daß es auch
anders geht, zeigt das Beispiel der USA. Hier machten im Jahre 2001 die Eltern
von etwa zwei Millionen Kindern von dem Recht Gebrauch, ihre Kinder in völlig
eigener Verantwortung zu erziehen. Jahr für Jahr werden es 15 bis 20 Prozent
mehr. Homeschooling – Heimunterricht ist eine breite Bewegung von besorgten
Eltern, die verhindern wollen, daß die ach so schöne „gesellschaftliche Wirklichkeit“
von Gewalt, Drogen, Sex und Apathie auch ihre Kinder möglichst schnell ereilt. Der
Heimunterricht scheint dazu bestens geeignet zu sein. Und auch die rein
akademischen Leistungen der betreffenden Schüler liegen über dem Durchschnitt
ihrer Altersgenossen auf staatlichen Schulen, ganz unabhängig vom sozialen und
ethnischen Hintergrund der Familie.

Vielleicht
wäre es an der Zeit, auch in Deutschland einmal darüber nachzudenken, ob man
die Bürger ihre vermeintliche Mündigkeit nicht auch zwischen den Wahlterminen
ausüben lassen will. Der Heimunterricht wäre dazu gut geeignet, und vielleicht
läßt sich das Recht auf Heimunterricht ja doch noch auf gerichtlichem Wege
erkämpfen. Hoffen wir also, daß der liebe Gott den Bauers die Kraft für einen
erneuten Anlauf gibt, diesmal beim Oberlandesgericht Frankfurt.

Guido
Hülsmann