Friedrich Freiherr von Wieser (1851-1926)

Biographie über Friedrich Freiherr von Wieser
Bibliographie
Friedrich von Wieser und die moderne Österreichische Schule der Nationalökonomie

Biographie über Friedrich Freiherr von Wieser

Friedrich Freiherr von Wieser

An den Quellpunkten jenes Erkenntnisstromes, der im letzten Drittel
des 19. Jahrhunderts von Österreich aus der Nationalökonomie und
vielfach darüber hinaus der gesamten gesellschaftstheoretischen
Forschung neue Impulse gab und neue Wege wies, stehen die Namen Carl Menger, Friedrich Wieser und Böhm-Bawerk,
der drei Begründer der „österreichischen Schule der Nationalökonomie“,
eng verbunden durch gemeinsame Pionierarbeit und doch nach
Persönlichkeit und Lebensweg so ganz verschieden. Frühzeitig und jäh
steigt zu höchsten Gipfelpunkten die Lebenskurve Carl Mengers,
der die Grunderkenntnisse der neuen Lehre zutage förderte, um dann bald
wieder abzufallen und in der Ruhe geistigen Genießens bis an die
äußerste Grenze menschlichen Alters zu verlaufen: als ob die ganze
produktive Kraft eines langen Lebens in einen kurzen Abschnitt
zusammengeschossen wäre, unvergängliche Leistungen hervorzubringen,
dann aber zu versiegen. Böhm-Bawerks Ingenium, entzündet an
Mengers neuen Gedanken, war unablässig bemüht, sie in kristallklaren
Formulierungen auf großen und wichtigen Gebieten der Theorie
fortzubilden. Verbreiter der neuen Lehre in der ganzen
wissenschaftlichen Welt, aber auch überlegener Kämpfer für sie, konnte
er als Finanzminister und Schöpfer der österreichischen
Personalsteuerreform die neuen Erkenntnisse auch unmittelbar dem
praktischen Leben dienstbar machen. Reich an wissenschaftlichem Ruhm
und staatsmännischen Erfolgen, auf immer noch ansteigender Bahn, wurde
sein Leben, lange bevor alle in ihm schlummernden Möglichkeiten
erschöpft waren, jäh abgerissen.

Wiesers Bahn allein von den dreien weist jene naturhafte
Geschlossenheit auf, jenen Einklang von Ende mit dem Anfang, welcher
nach einem Worte Goethes der idealen Lebenslinie eigen ist. Schon dem
Geiste des Jünglings, durch Anlage und die politischen Ereignisse der
Zeit den Problemen des gesellschaftlichen Geschehens zugewendet,
eröffnete sich klar die Aufgabe seines Lebens: die Erforschung der
Kräfte und ihres Gesetzes, welche den Aufbau und die Wandlungen der
Gesellschaft und damit den Gang der Geschichte bestimmen. Die Berührung
mit Mengers Gedanken führte ihn zunächst auf das
wirtschaftstheoretische Feld, ein großes und wichtiges Teilgebiet
gesellschaftlichen Lebens, auf dem er in Jahrzehnten tiefgründiger
Forscherarbeit neuen Boden der erkenntnismäßigen Beherrschung gewann.
Ein langes fruchtbares Gelehrtenleben hat er daran gewendet; ihm selbst
aber wurde es Weg, der durchmessen werden mußte, Anstieg zu den Höhen
gesellschaftstheoretischer und geschichtsphilosophischer Erkenntnisse,
die ihm in dem Werke seines letzten Lebensabschittes Erfüllung seiner
Jugendaufgabe brachten.

Staunend wird der rückschauende Blick auf das reiche Leben und
Wirken dieses Mannes eine Harmonie und Folgerichtigkeit gewahr, die wie
ein großes Naturgeschehen oder ein geändertes Kunstwerk anmuten. Und in
der Tat, mächtig und unbeirrbar gleich einer Naturkraft, wirkte in ihm
der Drang nach Erkenntnis und schöpferischer Gestaltung; er gab diesem
Leben Ziele und Inhalt. Gestaltung und Ausdruck aber der zutiefst im
künstlerischen Urgrund der Persönlichkeit wurzelnde Wille zur Form, der
Größtes wie Kleinstes, Erlebtes und Erdachtes in verklärender Harmonie
zur Einheit fügte.

In selten großem Zusammenklange trafen sich in Wiesers Wesen alle
die vielen Begabungen des Geistes und des Gemütes, die, auf dem alten
Kulturboden Österreichs reich verstreut, so viele edle Blüten in
Wissenschaft und Kunst hervorgebracht haben: ursprünglicher gesunder
Sinn für die Tatsachen, schärfste Beobachtungsgabe und zugleich höchste
Abstraktionsfähigkeit, selbstvergessenes Sichversenkenkönnen in die
Probleme der Erkenntnis und die Kraft intuitiver Erfassung verborgener
Zusammenhänge, Freude an beseelter Form, die Gabe künstlerischer
Gestaltung des Erschauten, Rhythmus, Klang und Farbe im Ausdruck, tiefe
Verbundenheit mit der Natur, ein warmfühlendes und gütiges Herz,
treueste und tätige Liebe zur Heimat und Volk – und all dies
zusammengehalten durch einen kraftvollen Willen und strengste
Selbstzucht zu jener harmonischen Geschlossenheit der schöpferischen
Persönlichkeit, die siegreich über allen seinen Werken aufleuchtet und
ihnen den Charkater des Monumentalen aufprägt.

Von ihm berichten, heißt das Bild eines der edelsten Repräsentanten
Altösterreichs festhalten, in dem alle menschlichen und politischen
Züge des Österreichertums sich vereinigen. Auf sein wissenschaftliches
Lebenswerk einen zusammenfassenden Rückblick werfen, kann in diesem
nicht bloß für die Fachwelt bestimmten Rahmen nur bedeuten, Umrisse zu
geben. Denn jede eingehendere Darstellung wäre enge und allseitig
verwoben mit der ganzen Geschichte des ökonomischen und
gesellschaftstheoretischen Denkens des letzten halben Jahrhunderts.


Friedrich Wieser wurde am 10. Juli 1851 in Wien als viertes von
neun Kindern des Hofrates im österreichischen Kriegsministerium,
späteren Geheimrates und Vizepräsidenten des Gemeinsamen Rechnungshofes
Leopold Wieser, geboren. Sein Vater, ein kunstliebender Mann (er wollte
ursprünglich Maler werden und hat später die „Österreichische
Gesellschaft für vervielfältigende Kunst“ ins Leben gerufen), wurde
1859 wegen der großen Verdienste, die er sich dank seiner hohen
organisatorischen Gaben und Energie als Generalintendant der
österreichischen Armee im Kriege gegen Italien erworben hatte, geadelt
und nachher in den Freiherrenstand erhoben. Die väterlichen Vorfahren,
süddeutschen Blutes, waren österreichische Beamte und Militärs,
gehärtet durch langen Dienst an der österreichischen Militärgrenze.
Vieles in seinem Wesen hat Wieser von seiner Mutter, Mathilde von Schulheim,
einer gebürtigen Grazerin, ererbt: mit der hohen Gestalt und den edlen
ausdrucksvollen Zügen, das sonnige Auge und die heitere Ruhe, die er
sich bis ins hohe Alter bewahrt hat. Über seinen geistigen
Entwicklungsgang hat Wieser selbst bei verschiedenen Gelegenheiten
wertvolle Aufschlüsse gegeben.(1) Schon während der Gymnasialstudien
bei den Schotten in Wien, wo Heinrich Freidjung und Eugen von Böhm-Bawerk,
mit denen ihn Freundschaft durchs ganze Leben verband, seine Mitschüler
waren, war sein lebhaftes Interesse der Geschichte zugewendet. Mit
Leidenschaft vertiefte er sich in die universalhistorischen
Meisterwerke, schärfte hieran seinen Blick für die großen
Weltzusammenhänge und schuf sich schon damals jenen unerschöpflichen
Fonds an geschichtlichen Kenntnissen, der es ihm später gestattete,
immer aus dem Vollen zu schöpfen, und ihm ungeachtet aller Arbeit an
abstraktesten Problemen, den Sinn für die Wirklichkeit wach erhielt.


Als er mit siebzehn Jahren an die Wiener Universität kam, widmete
er sich, wie es für die Ausbildung des Sohnes eines hohen Beamten
traditionsgemäß war, aber wohl auch mitbestimmt durch sein großes
Interesse an den politischen Ereignissen der Zeit, da Östereich eben
eine Verfassung erhalten hatte, dem Studium der Jurisprudenz. Soviel
Anregung er auch dem Rechtsstudium verdankte, es konnte ihn nicht
befriedigen; die Rechtswissenschaft wurde damals als etwas Fertiges,
Abgeschlossenes vorgetragen, ohne große neue Erkenntnisaufgaben, ihn
aber reizte es gerade zu erkennen, „welche Macht es wäre, die dem
Gesetzgeber selbst die Gesetze gab“, die ungeschriebenen Gesetze der
Gesellschaft zu erforschen. Zum kräftigen Antrieb in dieser Richtung
wurde ihm damals Herbert Spencers „Einleitung in das Studium
der Soziologie“, die ihm zufällig in die Hand kam. „Mein Traum war von
jetzt ab, namenlose Geschichte zu schreiben, die Aufzeichnung der
großen unpersönlichen Kräfte in der menschlichen Gesellschaft, welche
mit Notwendigkeit die Geschehnisse herbeiführen. Den Zugang zur Lösung
dieser Aufgabe erhoffte sich Wieser am ehestens auf dem Gebiete der
Volkswirtschaft zu finden, da die Gesetze der wirtschaftenden
Gesellschaft scheinbar offener zutage lagen als die der sonstigen
gesellschaftlichen Prozesse. Aber da befand er sich auch schon „in
jener Not des Denkens, wie sie damals die ökonomische Wissenschaft
bedrängte“.


Die wirtschaftstheoretischen Vorlesungen Lorenz von Steins,
des damaligen Professors der Nationalökonomie an der Wiener
Universität, soviel Schätzenswertes diesem Gelehrten auch sonst
nachzurühmen sein mag, boten „glänzende Worte, welche die Begriffe
verhüllten“; die deutschen Lehrbücher gewissenhafte Wiedergabe fremden
Gedankengutes der englischen und französischen Klassiker; das Studium
der Klassiker selbst brachte Enttäuschung, es fehlte ihren Werken die
zwingende Geschlossenheit und die Übereinstimmung ihrer Resultate mit
den Tatsachen. Falsche Idealisierungen, Deduktion aus unempirischen
Voraussetzungen und daraus folgend eine unüberbrückbare Kluft zwischen
Theorie und Wirklichkeit, vor allem aber der Mangel einer für die
Erklärung der wirtschaftlichen Vorgänge zureichenden Theorie des
Wertes, hatte die Lehre der Klassiker nach schnell erreichten Erfolgen
diskreditiert. Die Folge war, daß man auf dem Gebiete der
Nationalökonomie zu einer allgemeinen Abkehr von jeglicher Theorie, in
Deutschland geradezu einer Verfemung theoretischer Arbeit gelangte und
sich auf bloße wirtschaftsgeschichtliche Forschung einerseits und
Erörterung wirtschafts- und sozialpolitischer Forderungen anderseits
beschränkte, die mit den gegensätzlichsten Argumenten – je nach
politischen Interessen und Verschiedenheit der ganzen Weltanschauung -
aufgestellt, begründet oder bekämpft wurden.


Dem Mute und dem Genie Carl Mengers gelang es, den lähmenden
Bann, der in jener Zeit auf der Wirtschaftswissenschaft lastete und
jeden Fortschritt verhinderte, zu brechen und mit der in seinen
„Grundsätzen der Volkswirtschaftslehre“ (1871) gebotenen neuen Lehre
vom wirtschaftlichen Werte das Fundamentalgesetz aller Wirtschaft zu
erschließen. Wieser, obwohl nicht in eigentlichem Sinne Schüler
Mengers, der damals als junger Privatdozent an der Wiener Universität
wirkte, war einer der ersten Leser dieses Buches; es war ihm Befreiung
aus tiefster geistiger Bedrängnis. Ihm war damit der „Archimedische
Punkt“ gegeben, von dem aus er das Chaos des wirtschaftlichen
Geschehens zu meistern versuchen konnte.


Mengers Entdeckung der psychischen Gesetzmäßigkeiten der
Güterbewertung als der konstituierenden Elemente alles Wirtschaftens
war ein Ausgangspunkt, von dem aus er selbst eine Reihe unmittelbarer
Folgerungen auf Erklärung der einfachsten Wirtschaftstatbestände in
überzeugender Weise ziehen und bestimmte Grundzusammenhänge in eherner
Geschlossenheit und lapidaren Formulierungen darstellen konnte; aber
gegenüber der Fülle der scheinbar jeder einheitlichen systematischen
Lösung widerstrebenden Probleme doch eben nur Ausgangspunkt.
Die Lage war nicht etwa die, daß es sich nunmehr bloß um gewissenhafte
Anwendung der neu gefundenen Erkenntnisse, um Durchführungsarbeit
gehandelt hätte; auch dies wäre bei der Formenfülle und Kompliziertheit
der wirtschaftlichen Vorgänge eine gewaltige Aufgabe gewesen. Aber es
waren außer den von Menger erforschten psychischen noch andere von der
technischen und sozialen Seite her die Wirtschaft konstitutierende
Elemente in ihrem gesetzmäßigem Zusammenwirken zum Gesamtprozeß der
Wirtschaft zu ergründen, und es zeigte sich, daß auch die Wirkungsweise
des psychischen Faktors selbst, um ihn für die lückenlose Erklärung des
gesamten Wirtschaftsablaufes, insbesondere der komplizierteren
Phänomene fruchtbar machen zu können, noch mancher Vertiefung bedurfte.
Den Bausteinen, die Menger gelegt hatte, waren noch andere Grundsteine
hinzufügen, um tragfähige Grundmauern zu erhalten, und darauf erst der
ganze Bau einer umfassenden Theorie zu errichten.


Mit leidenschaftlicher Hingabe wandte sich Wieser der
ungeheuren Aufgabe zu. Er war nicht in der glücklichen Lage, seine
ganze Karft sofort ausschließlich und unbehindert diesem Ziele widmen
zu können. So trat er nach Abschluß der juristischen Studien zunächst
in den Dienst der niederösterreichischen Finanz-Landes-Direktion. Er
hat die zehn Jahre verantwortungsvoller praktischer Tätigkeit in der
strengen Schule altösterreichischen Beamtentums, durch die so viele
bedeutende Lehrer des Rechtes und der Wirtschaft hindurchgegangen sind,
niemals bereut. Sehr förderlich wurde seinen wissenschaftlichen
Arbeiten ein zweijähriger Studienurlaub, den er auf Grund eines
Reisestipendiums in den Jahren 1875 bis 1877 in Heidelberg, Leipzig und
Jena verbrachte, wo er sich in den Seminaren von Knies, Roscher und Hildebrand
betätigte. In einem Seminarvortrag, den er im Jahre 1876 bei Knies in
Heidelberg hielt und dessen Manuskript noch erhalten ist, finden sich
bereits mehrere Grundgedanken seiner künftigen Arbeiten ausgesprochen,
vor allem jene weittragende Erkenntnis über den Zusammenhang von Wert
und Kosten, welche erst die Brücke schlug von der Mengerschen
Entdeckung zur theoretischen Erfassung des Produktionsprozesses, bisher
unüberwindbar scheinende Widersprüche beseitigte und mit einem Schlage
ein ganzes Bündel von Problemen löste: eine Erkenntnis, welche das
spätere Schrifttum als das „Wiesersche Gesetz“ mit seinem Namen für alle Zeiten verbunden hat.


Langsam und in harter Arbeit reifte sein erstes Werk Über den Ursprung und Hauptgesetze des wirtschaftlichen Güterwertes
(1884). Nochmals werden die neuen Probleme selbständig bis in ihre
letzten Tiefen durchdacht, manches Ergebnis Mengers berichtigt, vieles
in wesentlichen Stücken ergänzt und außer der bereits erwähnten
Ableitung des Wieserschen „Kostengesetzes“ der Begriff des
„Grenznutzens“ entwickelt, der von nun ab zum tragenden Begriff der
neuen Lehre wurde, die von ihm auch ihren Namen erhielt. Menger stand
der Arbeit zunächst sehr zurückhaltend gegenüber, und Wieser selbst
hätte sich bei seinem überaus entwickelten Selbstverantwortungsgefühl
noch immer zur Veröffentlichung nicht entschließen können, wenn nicht
äußere Umstände ihn dazu gedrängt hätten. 1883 habilitierte er sich mit
dem Manuskript dieses Werkes an der Wiener Universität, ein Jahr später
folgte die Berufung als Extraordinarius an die deutsche Universität in Prag, 1889 die Ernennung zum ordentlichen Professor. Hier vermählte er sich 1886 mit Marianne Wolf,
der Tochter eines deutschen Prager Architekten, in der er die ihm an
Geist und Charakter ebenbürtige treue Gefährtin fand, die mit sonnig
heiterem Wesen seinen Lebensweg bis ans Ende verklärte.


Mit dem Antritte der Prager Lehrtätigkeit begann für Wieser,
nunmehr ledig der schweren Bürde bureaukratischen Dienstes, eine
Periode reicher Produktivität. Nicht im Sinne des ökonomischen
Durchschnittsgelehrten, der Jahr für Jahr sein dickes Buch auf den
Markt bringt. Ihm kam es nie auf das Buch, immer nur auf Erkenntnis an,
und ebenso wie bei seinem ersten Werke war es auch bei den beiden
späteren der ökonomischen Theorie gewidmeten Hauptarbeiten nur äußerem
Zwange zu danken, daß sie veröffentlicht wurden.


Wieser stellte die höchsten Anforderungen an sich selbst und war
kaum je mit seinen Arbeiten völlig zufrieden. Nicht etwa im Vergleich
mit dem zeitgenössischen Schrifttum – dieses Abstandes war er
sich sehr wohl bewußt – aber im Verhältnis zu den Problemen, die ihm
mit drängender Forderung nach restloser Durchleuchtung
gegenüberstanden. Sie waren aus der eigenen Kraft des
erkenntnisdurstigen Jünglings erwachsen, er hatte sich an ihnen
begeistert, mit ihnen gerungen, an ihnen gelitten: Wie anders mußte er
ihnen gegenüber stehen als einer, dem sie nur von außen her als
Lesefrüchte in den Interessenkreis gerückt waren. Ein Höchstmaß an
Erkenntnis in exaktester Form und in geschlossenster Darstellung: Die
Aufgabe, die er sich stellte – es ist die Aufgabe aller theoretischen
Wissenschaft – kann nie zu endgültigem Abschluß und damit Stillstand
führen. So greift sein nächstes Buch Der natürliche Wert
(1889) wieder auf die Grundprobleme zurück, ein Werk, das mit Recht als
klassische Leistung der modernen Wirtschaftstheorie bezeichnet wurde,
von bis heute noch unübertroffener Darstellungskunst und systematischer
Geschlossenheit, das überaus viel dazu beigetragen hat, daß die
österreichische Schule der Nationalökonomie in der ganzen Welt – eine
Übersetzung ins Englische von W. Smart erschien 1893 – siegreich
durchgedrungen ist.


Hier, in diesem Werke, tritt Wiesers Meisterleistung am sinnfälligsten zutage: Der streng geführte Nachweis der Einheit der Wirtschaft, vermittelt durch das Wertprinzip, die Entdeckung des Wirtschaftsprozesses als eines nach bestimmten, exakt formulierbaren Gesetzen sich vollziehenden Kreislaufes.
Wieder geht Wieser, der Anregung Mengers folgend, vom Herzen des
wirtschaftlichen Kreislaufes, der Bewertung der Güter durch die
Menschen aus, diesmal unter der als heuristisch äußerst fruchtbar
bewährten Annahme der „geschlossenen“, das ist für den eigenen Bedarf
produzierenden Wirtschaft. Jeden Schritt gesichert durch Erfahrung an
den äußeren und psychischen Tatbeständen, leitet er das Gesetz des
Güterwertes als das Gesetz des mit zunehmendem Vorrate an einem Gute
fallenden Nutz(bedürfnis)wertes ab. Durch die Aufzeichnung des
funktionellen Zusammenhanges zwischen Gütermenge und von der
Gütereinheit abhängigem Nutzen („subjektivem Wert“) sind die
„Paradoxien“, über welche die klassische Nationalökonomie nicht
hinweggekommen war und welche sie von der Bahn einer empirisch
fundierten Werttheorie abgedrängt hatten, beseitigt. Er schreitet
weiter zur Ableitung des Grenznutzens: daß die geringste von allen
durch einen Gütervorrat bei rationellster Verwendung noch gesicherte
Nutzleistung, der Nutzen der Grenzeinheit oder der Nutzen an der Grenze
der Verwendung des Vorrates, den subjektiven Wert des Gutes bestimmt.
Und nun reiht sich Erkenntnis an Erkenntnis und fügt sich zum
geschlossenen System. Wenn es der Nutzen ist, der den Gütern ihren Wert
verleiht, dann können nicht zugleich die „Kosten“ die
Entstehungsursache des Wertes sein, wie die ganze bisherige Theorie
gelehrt hatte. In einem berühmt gewordenen Beweisgange zeigt Wieser,
daß die Werte der Kostengüter, der Produktionsmittel, nicht als das
primär Gegebene den Wert der Produkte bestimmen, sondern umgekehrt vom
Nutzwerte der Produkte, als dem Primären, abgeleitet sind; und daß auch
hier das Gesetz des Grenznutzens gilt: Der Wert des an der Grenze der
Produktion erzeugten Produktes, „der Grenzwert des Grenzproduktes“,
bestimmt den Wert der Produktionsmitteleinheit, und dieser wieder tritt
den Nutzwerten aller der verschiedenartigen höherwertigen Produkte
desselben Produktionsstammes als „Kosten“ gegenüber. Damit, durch
Einbeziehung der Produktion, ist der Kreis geschlossen, der organische
Zusammenhang der Werte aller Güter, der Gebrauchsgüter sowohl wie der
Produktionsmittel, und dadurch der gesetzmäßige Zusammenhang aller
Wirtschaftsakte, zum ersten Male aufgezeigt.


Es können hier nur einige Hauptresultate, und auch diese nur
andeutungsweise hervorgehoben werden. Aber mit ihnen ist jener
Grundstock von Erkenntnissen geschaffen, welcher heute als „Theorie der einfachen Wirtschaft
bezeichnet wird. Jenes System von ineinandergreifenden
Gesetzmäßigkeiten, das immer und überall gilt, wo Wirtschaft vorliegt,
mögen die konkreten Gestaltungen der gesellschaftlichen Organisation,
der Rechtsordnung und Machtverteilung noch so sehr wechseln; was durch
letztere verändert wird, sind nicht die Wirtschaftsgesetze, sondern
deren konkrete Auswirkungen. Wirtschaftstheorie als strenge
Wissenschaft wurde dadurch erst möglich. Denn nur mit Hilfe dieser
Gesetze des Reinwirtschaftlichen konnte an eine zusammenhängende
Erklärung auch des gesellschaftswirtschaftlichen Prozesses
geschritten werden, der vorher nur bruchstückweise in einer Unzahl von
speziellen, historisch bedingten Gesetzmäßigkeiten ohne notwendigen
inneren Zusammenhang erfaßt werden konnte.


Wenn die Höhe des Entwicklungsstandes und damit der Grad der
Fruchtbarkeit einer theoretischen Wissenschaft gegeben ist durch den
Grad der Allgemeingültigkeit der von ihr aufgefundenen Gesetze, durch
das Ausmaß, in dem es ihr gelingt, speziellere Gesetzmäßigkeiten in
allgemeinere zusammenzufassen und dadurch die Fülle der Tatsachen auf
einen gemeinsamen Nenner zu bringen: dann ist dies der
Wirtschaftstheorie der österreichischen Schule durch das Zurückgreifen
auf die letzten der wissenschaftlichen Erfassung noch zugänglichen
Elemente der Wertbildung in so hohem Maße gelungen, daß die von ihr
aufgefundenen Grundgesetze, eben weil sie das Konstante aus der
unendlich variablen Formenfülle der wirtschaftlichen Vorgänge
herausheben, das unentbehrliche Erklärungsinstrument für den
Wirtschaftablauf in jedem denkbaren Organisationstypus abgeben. Alle
spezielleren Theorien über den gesellschaftlichen Wirtschaftsprozeß
unter den spezifischen Voraussetzungen des
verkehrswirtschaftlich-kapitalistischen, des sozialistischen, des
ständischen usw. Organisationstypus stellen sich nunmehr als bloße
Anwendungsfälle dieser allgemeinen Grundgesetze auf die verschiedenen
Organisationstypen dar. Zwei Folgerungen von höchster Bedeutung ergeben
sich daraus: einmal, daß bei Änderung der volkswirtschaftlichen
Organisation ab ovo zu schaffen genötigt ist, sondern bloß jene
Modifikationen abzuleiten braucht, die sich aus den einmal erkannten
allgemeinen Wirtschaftgesetzen bei Veränderung der gesellschaftlichen
Voraussetzungen ergeben; und zweitens, daß es nunmehr möglich ist, die
wirtschaftlichen Wirkungen von Änderungen der gesellschaftlichen
Organisation, von Änderungen der Rechtsordnung und die Folgen aller
staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft vorherzusagen. Wissenschaftlich fundierte Wirtschaftspolitik und insbesondere Sozialpolitik ist damit erst ermöglicht.


Eine Theorie, die sich nach diesen beiden Richtungen als
leistungsfähig gezeigt, hat damit ihre Fruchtbarkeit erwiesen, sie hat
sich, worauf allein es für eine Theorie im echten Sinne ankommt, an den
Tatsachen bewährt. Eine solche Wirtschaftstheorie, die auf
Lösung der sachlichen Probleme mit Hilfe aus der Analyse des
Erfahrungsmaterials gewonnener Gesetze ausgeht, muß grundsätzlich von
derselben Art sein wie alle exakten auf die Erklärung des empirischen
Seines eingestellten Wissenschaften. Sie hat daher nichts zu tun mit
den nach individuellen „Standpunkten“, „Auffassungen“, „Anschauungen“
usw. verschiedenen Wirtschafts-“philosophien“, welche – mögen sie sich
auch häufig zu Unrecht als Theorien bezeichnen – zur Erklärung der Tatsachen
nichts beitragen und nichts beitragen können, und alle von
dorthergebrachten „Einwendungen“ müssen von Anfang an daneben treffen.
Wirtschaftsphilosophien gibt es eben grundsätzlich so viele als
Wirtschaftsphilosophen, und der notwendig ergebnislose Streit der
„Richtungen“ wird hier nie verschwinden. Unter mehreren
Wirtschaftstheorien aber ist durch Verifizierung an den Tatsachen und
Aufzeigung des Umfanges des Geltungsbereiches die Überlegenheit einer
von ihnen beweisbar, und dieser Beweis und damit auch der Erfolg des
allgemeinen Durchdringens ist eben für die Theorie von jenem Stamme
ausgefallen, der – so viele Varianten in manchen Details auch vorhanden
sein mögen – aus den Erkenntnissen der österreichischen Schule erwuchs
und hier wieder für jene Gestaltung, welche Wiesers Grenznutzentheorie darstellt.


Nach der ungeheuren Anspannung der durch viele Jahre währenden
intensiven Beschäftigung mit Problemen abstrakter Theorie wendete sich
Wieser nunmehr für längere zeit mehr den praktischen Fragen der
Nationalökonomie zu. Eine ganze Reihe kleinerer, aber in der Fachwelt
sehr geschätzter Arbeiten über volkswirtschaftspolitische,
finanzpolitische, aber auch gesellschaftheoretische Fragen entstand in
jenen Prager Jahren, darunter insbesondere „Großbetrieb und
Produktivgenossenschaft“ (1892), „Die Personaleinkommensteuer in
Österreich“ (1901), eine kritische Würdigung dieser Steuer unter
Verwertung der Ergebnisse der ersten Veranlagung, und „Die deutsche
Steuerleistung und der öffentliche Haushalt in Böhmen“ (1904). Daneben
widmete Wieser viel von seiner Kraft dem öffentlichen Leben und den
deutschen Interessen in Prag. In dem bewegten Studienjahre 1901/02
lenkte er als Rektor mit Festigkeit und Umsicht die Geschicke der
Prager Deutschen Universität durch die hochgehenden Wogen des
nationalen Kampfes. Seine formvollendete und gedankenreiche
Inaugurationsrede „Über die gesellschaftlichen Gewalten“ läßt
bereits Grundmotive erkennen, welche in seinen späteren großen
soziologischen Werken dominieren. Alle deutschen Kulturinteressen,
besonders das deutsche Schulwesen in Prag, fanden in ihm einen warmen
und tatkräftigen Förderer, und seine Künstlernatur ließ ihn mit allen
hervorragenden Persönlichkeiten der deutschen Kunst in Böhmen in enge
Verbindung treten. Besonders durch seine langjährige und überaus
fruchtbare Tätigkeit als Präsident der „Gesellschaft zur Förderung
deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen“ ist sein Name
mit der deutschen Kultur in Prag dauernd verbunden.


Die Berufung an die Wiener Universität im Herbst des Jahres
1903 als Nachfolger auf der Lehrkanzel Carl Mengers war Wieser ersehnte
Rückkehr in die geliebte Heimat. Auch hier, wie überall, wo er auftrat,
sicherte ihm die Macht der Persönlichkeit sofort eine überragende
Stellung. Seine Wiener Antrittsvorlesung „Über den Geldwert und seine geschichtlichen Veränderungen“
bringt einen Vorstoß auf Neuland, die Anwendung der neuen Erkenntnisse
über den wirtschaftlichen Wert auf die Theorie des Geldes, die bisher
unter der Herrschaft „metallistischer“ Anschauungen neuen Gedanken
unzugänglich schien.


Den Problemen der Geldtheorie gehört in den nächsten Jahren sein
wirtschaftswissenschaftliches Hauptinteresse. Sie fesselten ihn im
höchsten Grade, nicht nur wegen der hier liegenden Schwierigkeiten, die
fast unüberwindlich schienen, und weil die Gegner der neuen Lehre mit
dem Anschein von Berechtigung sich darauf berufen konnten, daß eine
Theorie, welche die Gesetze des Geldwertes nicht organisch aus ihren
Grunderkenntnissen abzuleiten vermag, den Beweis ihrer Fruchtbarkeit
nicht voll erbracht habe, sondern vor allem deshalb, weil hier in einem
ökonomischen Problem zugleich das Grundproblem aller
Gesellschaftsforschung eingeschlossen ist: Wie gesellschaftliche
Erscheinungen aus dem Zusammenwirken individueller Faktoren nach
bestimmten Gesetzmäßigkeiten zustande kommen und dann, wenn einmal
entstanden, als etwas „objektiv“ Geltendes sich, wieder nach bestimmten
Gesetzen, auf alle Einzelnen auswirken. Wie sollte der Wert des Geldes,
der für alle Einzelnen gleiche Geltung hat und daher als etwas
„Objektives“ erscheint, selbst wieder auf dem Zusammenspiel einer
Vielheit von subjektiven Wertungen beruhen? Wiesers intuitiver Kraft
gelang es, die verborgenen und verwickelten Zusammenhänge zu
erschließen. Er hat die Ergebnisse seiner Forschung zuerst in seinen
auf der Tagung des Vereines für Sozialpolitik in Wien im Jahre 1909
abgehaltenen Referaten „Der Geldwert und seine Veränderungen“ und „Über die Messung der Veränderungen des Geldwertes“
niedergelegt, sie später in der „Theorie der gesellschaftlichen
Wirtschaft“ ausgebaut und noch in hohem Alter, wenige Tage vor seinem
Tode, sich um eine letzte Formulierung seiner geldtheoretischen
Gedanken in dem Artikel „Theorie des Geldes“ im Handwörterbuch der
Staatswissenschaften bemüht. Eine der bedeutendsten Leistungen Wiesers
liegt auf diesem Gebiete. Seine Forschungen wurden zu einem Wendepunkt
in der Entwicklung der Geldtheorie, und seine Lehre ist heute unter dem
Namen der „Einkommenstheorie des Geldes“ zur herrschenden geworden.


Neben diesen und anderen theoretischen Arbeiten und durch sie
hindurch drängte es Wieser seit Beginn seiner Wiener Tätigkeit immer
stärker dem Erkenntnisziele seiner Jugend zu. Die aus Anlaß der
Jahrhundertfeier des Schottengymnasiums (1907) geschriebene Abhandlung
„arma virumque cano“, eine geistvoll pointierte Auseinandersetzung mit
Herbert Spencers Kritik der „Großer-Mann-Theorie“, das aus Vorträgen auf den Salzburger Hochschulkursen hervorgegangene Buch „Recht und Macht“
(1910), mitreißend durch die Tiefe und Überzeugungskraft der Gedanken
und die Wucht und Formenschönheit der Sprache: sie geben
Gipfelaussichten, die sich ihm auf seinem soziologischen Forschungswege
in diesen Jahren eröffnet hatten. Seine seltene Gabe, den neugefundenen
Erkenntnissen Prägungen zu geben, die sie rasch zum Gemeingute der
wissenschaftlichen Welt werden ließen, kommt auch hier wieder zum
Ausdruck. Wohl keine soziologische Grundeinsicht hat eine glücklichere
Formulierung gefunden als Wiesers „Gesetz der kleinen Zahl“.

Inmitten dieser Arbeiten, die ein Höchstmaß an Konzentration
erforderten, einer ausgedehnten akademischen Lehrtätigkeit und
vielfältiger Inanspruchnahme durch öffentliche Angelegenheiten fand
Wieser dennoch Zeit, seinen künstlerischen Neigungen, die ihm
tiefinnerliches Bedürfnis waren, nachzugehen. Kaum einer hat es tiefer
erkannt, wie klein der Ausschnitt des allverbundenen rätselvollen
Lebens, der dem Verstande erfaßbar ist, und wie allein ahnendes Gefühl
und künstlerisches Empfinden der Weisen des Seins – um Hölderlins
herrliches Wort zu gebrauchen – inne werden kann. Musik und die bloßen
Werke der bildenden Kunst waren ihm Lebenselement, Erhebung und
Erfüllung. Sein feiner künstlerischer Sinn ließ ihn aus dem drängenden
Werden des Neuen mit staunenswerter Sicherheit herausfühlen, wo Echtes
und Großes am Werke war, das er dann mit aller Kraft förderte. Er war
einer der ersten, die für Hugo Wolf eintraten, als dieser noch fast unbekannt oder angefeindet war; er hat Anton Bruckners
Genius zu einer Zeit erfaßt, als die Mitwelt noch kaum etwas mit ihm
anzufangen wußte. Ein begeisterter Verehrer klassischer Musik, standen
ihm doch Seele und Sinne für die neuen Ausdrucksformen offen.
Unvergeßlich jedem, der ihn selbst am Klavier hörte. Auch zu den neuen
Entwicklungserscheinungen in der bildenden Kunst hatte er ein inneres
und notwendiges Verhältnis, und sein feinsinniges und gereiftes Urteil
wurde von den Künstlerkreisen, mit denen er zeitlebens in enger Fühlung
stand, immer hoch gewertet. Es war ein äußeres Zeichen dieser hohen
Schätzung, daß ihm durch viele Jahre bis an sein Lebensende die
Präsidentschaft der „Gesellschaft für vervielfältigende Kunst“
anvertraut war. Wenige konnten sich ihm vergleichen in der intimen und
umfassenden Kenntnis der Werke der schönen Literatur aller Zeiten.
Herangereift unter der Sonne Goethes und Shakespeares hat er sich bis
ins spätere Alter die Fähigkeit bewahrt, mit jugendlicher Frische alle
die verschiedenen Strömungen des Geisteslebens in sich aufzunehmen und
schöpferisch wirken zu lassen. Die Universalität seines Wesens, die
seltene Spannweite seines Geistes gab jeder persönlichen Berührung mit
ihm dauernden Wert, verlieh ihm etwas Weltmännisches, das in nichts an
einen Fachgelehrten erinnerte

Seine vornehm besonnene, ruhige Art und sein hochentwickeltes
Sittlichkeitsgefühl ließen ihn alles lärmend geschäftigtuende Kleine,
alles Erkünstelte und Aufdringliche, die verlogenen idealistisch
tuenden Schönredereien in Wissenschaft und Leben wortlos abweisen. Er
hat kaum je das Wort Ideal in den Mund genommen: So ernst meinte er es damit, der sein ganzes Leben den Idealen der Wahrheit und Schönheit geweiht hatte.

In wissenschaftliche Polemiken, und schon gar in
persönliche, hat er sich nie eingelassen; das lag seinem durchaus aufs
Positive gerichtetem Wesen nicht. Die zahlreichen und oft gehässigen
Angriffe, denen er, wie jeder Schöpfer von Neuem ausgesetzt war,
unbequem allen, denen nun zugemutet wurde, alte ausgefahrene Geleise zu
verlassen, verhaßt jenen, die in der Wirtschaftstheorie nur ein Mittel
zur Rechtfertigung ihrer Interessen oder politischen Anschauungen sahen
und die daher einer rein erkenntnismäßig eingestellten
Wirtschaftswissenschaft von Anfang an ablehnend gegenüberstehen mußten,
ließ er unbeachtet. Er konnte es im Bewußtsein seines reinen
Wahrheitsstrebens und der harten selbstkritischen Arbeit, die jeder
seiner Veröffentlichungen vorhergegangen war. Tief durchdrungen von der
Überzeugung, daß Wahrheit sich unter allen Umständen notwendig
durchsetze, hat er die Macht der Vorurteile, die gerade auf dem Gebiete
der Sozialwissenschaften sich wie unübersteigbare Mauern dem Vordringen
der Erkenntnis entgegenstürmen, wohl zu gering eingeschätzt; zu wenig
beachtet, daß auch heute noch der Erkenntnis vom
Weg………………….Kampf gegen…….und die Parteilichkeit
politischen und persönlichen Eigennutzes, soll nicht ihr Werk
wirkungslos oder doch ihr Sieg auf lange Zeit hinausgeschoben werden.
Und sein Weg wäre noch viel opferreicher geworden, hätte er nicht, der
selbst keine Kampfnatur war, Böhm-Bawerk und, streckenweise wenigstens, den genialen, leidenschaftlichen Max Weber als stets kampfbereite Weggenossen zur Seite gehabt.

Da er alle seine Erkenntnisse aus sich selbst herausholte, aus der
tiefen Versenkung in die seinem scharfen Forscherblicke offen liegende
Fülle der Erfahrung und, außer etwa der Anregung Mengers,
niemand etwas zu verdanken hatte, ergab sich ihm auch keine Anlaß, sich
- wie dies einer vielfach geübten gelehrten Tradition entspricht – in
Serien liebender oder absprechender Zitate auf die Arbeiten anderer zu
beziehen. Dies, und daß er als ein einsam Schaffender auch wenig
persönliche Berührung mit der großen Mehrheit der Fachgenossen hatte
und der Fruchtbarkeit gelehrter Disputationen sehr skeptisch
gegenüberstand, hat ihm gekränkte Eitelkeit als Hochmut angerechnet,
während es doch nur natürliche Folge der Unabhängigkeit und hohen
Selbstverantwortung des schöpferischen Geistes war.

Allen Förmlichkeiten feind, aber in allen Lebenslagen vollendete
Form und Haltung wahrend, trat Wieser erst im Kreise seiner Familie,
vertrauter Freunde und Jünger ganz aus sich heraus. Eine unserer Zeit
ganz fremdartige Atmosphäre hoher Geistigkeit erfüllte sein Haus und
nahm jeden sofort gefangen. Weltenfern lag alles lärmende Gedränge der
Gegenwart, hier war die reine, klare Luft einer Gipfelhöhe,
ruhig-heitere Größe, naturhafte Echtheit und Schönheit, durchwärmt von
dem Strahl seiner unergründlich tiefen, verstehenden und gebenden Güte.
Hier – in dem alten Oppolzerhaus auf der Alserstraße mit seinem großen
parkartigen Garten – war ein Treffpunkt bedeutender Künstler, Dichter,
Musiker, Staatsmänner und Gelehrter aller Forschungsgebiete. Und unter
dem Fluidum seiner faszinierenden Persönlichkeit drängte es jeden, sein
Bestes zu geben. Wieser hatte die nur ganz großen Menschen eigene
Fähigkeit zu geben, nicht nur, wenn er selbst das Gespräch führte – er
beherrschte es in wahrhaft königlicher Art – sondern auch dann, wenn er
schweigend, das Auge ruhend auf dem Sprechenden, zuhörte. Uns – damals
- Jüngeren, die wir das Glück hatten, in diesem Kreise zu verkehren,
dem jeder von uns wertvollste und vielfach fürs ganze Leben
richtunggebende Anregungen verdankte, war es wie eine andere, höhere
Welt, gemahnend an die Verse aus Hyperions Schicksalslied:“Ihr wandelt
droben im Licht, auf weichem Boden, selige Genien…“ Daß dahinter ein
Leben härtester Arbeit stand, das erkannten wir erst viel später.

Als akademischer Lehrer hat Wieser dank seiner kraftvollen
Persönlichkeit, der bewunderungswürdigen Darstellungsgabe und der edlen
Sachlichkeit tiefste und nachhaltigste Erfolge erzielt. Jeder seiner
Vorträge, sei es in den „Vorlesungen“ – die nichts weniger als das
waren, denn er sprach immer vollständig frei, ohne jede Aufzeichnung -
sei es bei sonstigen Anlässen, bot, zwingend durch die klare
Gedankenführung auch bei der Behandlung kompliziertester Fragen, nicht
nur reichen geistigen Gewinn, sondern auch hohen ästhetischen Genuß.
Verzichtend auf allen bei der Darstellung kulturwissenschaftlicher
Probleme leider so vielfach üblich gewordenen schöngeistigen Aufputz,
auf alle rhetorischen, auf Sensation abzielenden Kunstmittel und die
pathetische Geste, verzichtend auch auf die so bewährten und bequemen
Kunstgriffe politisierender Agitation, stellte er schlicht, einfach und
groß wie von Meisterhand gemeißelte Marmorblöcke seine Gedanken aus
sich heraus. Er sprach zu reifenden Männern, nicht zu Knaben; er
forderte ein hohes Maß von Konzentration, aber er fand sie auch in der
großen Zuhörerschaft, die sich um ihn scharte und seinen Worten
lauschte, nicht nur aus den Kreisen der Studenten, sondern auch, zumal
in seinen soziologischen Vorträgen, aus der ganzen geistig führenden
Schichte Wiens. Nichts an ihm hörte, fühlte: Er war ein Priester im
Dienste der Wahrheit. Und was er den jungen Leuten fürs Leben mitgab,
war noch viel mehr als sachliche Erkenntnisse: Der Sinn und Wille zu
unbeugsamer Wahrhaftigkeit und zu jener moralischen Tapferkeit, die er
den höchsten soldatischen Tugenden für ebenbürtig hielt.

In der Form sind alle Arbeiten Wiesers Kunstwerke. Sein
Schönheitssinn schöpfte aus der Tiefe, Kraft und Fülle der deutschen
Sprache. Die große dialektische Schärfe, welche die Darstellungen Böhm-Bawerks
auszeichnet, war seinem Wesen fremd; ihm erwuchs jeder Gedanke bei
präzisestem Inhalt in harmonischer Rundung. Die Größe und Klarheit der
Linienführung selbst in den Untersuchungen abstraktester Probleme hat
ihm höchste Bewunderung eingetragen. Alles Grelle, Überspitzte, gesucht
Geistreiche war ihm widerlich, verächtlich jedes Pathos. Aber über
seinen Werken liegt die Ruhe und das Ebenmaß und der goldige Schimmer,
der an die Bilder alter Meister gemahnt. Und was er einmal von Lassalle
sagte, das wird man im gleichen Maße von ihm selbst gelten lassen
müssen: „Er hehört zu den wenigen deutschen Gelehrten, deren Arbeiten
aus der Wissenschaftsgeschichte in die Literaturgeschichte
emporgestiegen sind!“

Langsam und unter mancherlei Hemmnissen hatten sich die neuen
Gedanken der österreichischen Schule ihren Weg durch die Welt gebahnt
und ihre reformierende Kraft in der italienischen,
anglo-amerikanischen, französischen, holländischen und skandinavischen
Wirtschaftstheorie zur Wirkung gebracht. Nur in Deutschland hatte man
unter dem Banne der mit der historischen Schule erwachsenen allgemeinen
Theoriefeindlichkeit wenig Verständnis für sie. Erst als die großen
Erfolge im Ausland errungen waren, wendete man auch hier der neuen
Theorie einige Aufmerksamkeit zu. Es war daher für Wieser eine große
Überraschung und zugleich ein Zeichen für den vollen Sieg, als im Jahre
1912 die Herausgeber des großangelegten Sammelwerkes deutscher
Nationalökonomie, des „Grundrisses der Sozialökonomik“, ihn,
als den führenden Theoretiker der Gegenwart, zur Ausarbeitung des
grundlegenden Bandes „Theorie der gesellschaftlichen Wirtschaft“
aufforderten. Schweren Herzens ließ er sich bewegen, noch einmal auf
die Weiterführung seiner soziologischen Arbeiten zugunsten der
Wirtschaftstheorie für mehrere Jahre zu verzichten. Entscheidend war
ihm schließlich, daß es bisher eine geschlossene Darstellung der neuen
Theorie in ihrer universellen Anwendung auf die Erscheinungen der modernen kapitalistischen Wirtschaft
nicht gab und daß ihm für die künftige Fortentwicklung der Lehre die
Veröffentlichung eines umfassenden Systems die beste Sicherheit zu
bieten schien. In zweijährigem Urlaub bewältigte Wieser die wahrhaft
gigantische Aufgabe, und im Sommer 1914 konnte die „Theorie der gesellschaftlichen Wirtschaft“
veröffentlicht werden. Sie kam zu ungünstiger Zeit heraus, die Wogen
des Weltkrieges gingen über sie hinweg. Aber später, als die Geister
sich wieder den Problemen der Erkenntnis zuwendeten, blieb der Erfolg
nicht aus. Mit vollem Recht wurde dieses Werk von der Fachwelt als die
größte synthetische Leistung der ökonomischen Theorie seit der Zeit der
Klassiker gewertet. Hier wird in großzügigster Konzeption und in
tiefstgehender Analyse der Gesamtablauf der kapitalistischen Wirtschaft
der Gegenwart, wie er sich aus dem Zusammenwirken der allgmeinen
Wirtschaftsgesetze und der gesellschaftlichen Grundgesetze unter den
besonderen Voraussetzungen der Privatrechtsordnung, der
gesellschaftlichen Organisation und Machtverteilung der Gegenwart
ergibt, zur klarsten Anschauung gebracht. Wieser hat damit zugleich den
glänzendsten Beweis für die Fruchtbarkeit der von ihm in der Theorie
der einfachen Wirtschaft gewonnenen Grunderkenntnisse
geliefert, indem er mit ihrer Hilfe die ganze Fülle und
Mannigfaltigkeit der Erscheinungen in der modernen Volkswirtschaft
in organischer Einheit erfassen konnte. Wenn es überhaupt zulässig ist,
einzelnes aus einem umfassenden System hervorzuheben, so soll besonders
auf den hohen Erkenntniswert seiner Lösungen der Probleme der
Preistheorie, der Theorie der Einkommensbildung, in der sich die
Leistungsfähigkeit der Wieserschen Zurechnungslehre zeigt, und hier
wieder namentlich auf die Ableitung der Gesetze der Bildung und
Veränderung des Lohnes, der Grundrente und des Unternehmergewinnes, auf
den Ausbau der Wieserschen Geldtheorie, die Theorie der
Staatswirtschaft und Weltwirtschaft hingewiesen werden.

Auch in methodischer Beziehung ist dieses letzte große ökonomische Werk Wiesers vorbildlich geworden. Die Methode der „isolierenden Annahmen“
- der gedanklichen Zerlegung der komplexen Erscheinungen der
gesellschaftlichen Wirtschaft in ihre Elemente, um deren Wirkungsweise
frei von allen Störungen erkennen zu können – des Operierens mit „Idealtypen“
- der gedanklichen Steigerung der empirischen Vorgänge zu reinen
typischen Formen, an denen die Gesetze der Erscheinungen am
deutlichsten abgelesen werden können – und der „abnehmenden Abstraktion“
- des schrittweisen Herabsteigens von den typischen Formen zu den
mannigfachen Gestaltungen der Wirklichkeit durch Aufnahme einer immer
größeren Zahl der konkreten empirisch gegebenen Voraussetzungen unter
die Annahmen der theoretischen Gedankenführung: diese Verfahrensarten,
deren Analoga sich in den Naturwissenschaften schon lange als höchst
fruchtbar erwiesen hatten, hatte Wieser schon in seinen früheren Werken
immer mit Erfolg angewendet, in der Theorie der gesellschaftlichen
Wirtschaft aber bewußt ausgestaltet. Ihr hoher Wert für die gesamten
Gesellschaftswissenschaften kann heute als allgemein – auch von
fachphilosophischer Seite – anerkannt gelten.

Heute ist die Fruchtbarkeit der Fülle neuer materieller Resultate,
der zahlreichen glücklichen neuen Begriffsbildungen und der
methodischen Erkenntnisse, welche die Wiesers ganzes ökonomisches
Lebenswerk zusammenfassende „Theorie der gesellschaftlichen Wirtschaft“
in sich schließt, noch lange nicht ausgeschöpft.(2). Wie allgemein
seine wissenchaftliche Führerschaft in der ganzen Welt anerkannt ist,
zeigt am besten die Ehrung, die ihm von den hervorragendsten
Theoretikern aller Nationen durch ein ihm zum 75. Geburtstage
gewidmetes großes vierbändiges Sammelwerk „Die Wirtschaftstheorie der Gegenwart“ zuteil wurde.(3)

Nachdem Wieser seine reiche Ernte auf dem Felde der
Wirtschaftswissenschaft eingebracht hatte, wollte er nunmehr seine
ganze Kraft der Fortführung seiner soziologischen Studien
widmen. Da brach der Weltkrieg aus und ein tragisches Geschick fügte
es, daß gerade er Wieser tiefste Einblicke in das soziale Geschehen
eröffnen und seinen Arbeiten eine entscheidende Wendung geben sollte.
Wieser, der Altösterreicher, hat den Krieg in seiner ganzen Größe mit
jeder Faser seines Herzens miterlebt, in seinen Siegen, der
schließlichen Niederlage und dem Zerfall der Monarchie, und seinem
tätigen Miterleben in einer Reihe herrlicher Schriften Ausdruck
gegeben: „Österreich und der Krieg“ (1914), „Die Lehren des Krieges“
(1915), „Manneszucht und Staatszucht“ (1915), „Ein österreichischer
Wehrbund“ (1916), „Das neue Österreich“ (1916) und vor allem in dem
tiefgründigen Buch „Österreichs Ende“ (1919). Er hatte immer fest an
die geschichtliche Mission des alten Österreich und den endlichen Sieg
der Mittelmächte geglaubt; nunmehr stand der unglückliche Ausgang
erschütternd vor seiner Seele. Mit Österreichs Zerfall sah er fast
alles, was ihm einst kostbar und teuer war, zusammengebrochen. Aber
sein Pflichtgefühl und seine kraftvolle Lebensbejahung bewahrten ihn
vor stiller Resignation. Die Größe und Unbegreiflichkeit dieses Stückes
Weltgeschehens stellte seinem Forschungsdrange neue Probleme. Indem er
den Ursachen des Weltkrieges nachging, wurde er immer tiefer in die
Zusammenhänge der Jahrhunderte, und aus diesen in die Zusammenhänge der
Jahrtausende zurückgeleitet. Seine früheren Gedanken über
gesellschaftliche Probleme erschienen ihm nun „in wundersam
verschärften Umrissen“. „Von der grellen Flamme des miterlebten Krieges
fiel neues Licht auf die Vergangenheit zurück und ich lernte die
Gegenwart als Lehrmeisterin der Geschichte kennen“; – „ich lernte die
Machtbewegungen nachfühlen, die durch die Jahrhunderte und Jahrtausende
der Geschichte bis in unsere Zeit hereinreichen.“ So faßte der
Siebzigjährige den Plan, seine soziologischen und
geschichtsphilosophischen Forschungsergebnisse und Ideen in einer
großen abschließenden Arbeit darzustellen. Mit ungebrochener Kraft -
trotz manches schweren Schicksalschlages – ja mit fast jugendlichem
Feuereifer ging er an die Ausführung, und im Jänner 1926, wenige Monate
vor seinem Tode, lag „Das Gesetz der Macht“ abgeschlossen vor.

Ungeheuer groß ist die Aufgabe, die sich Wieser hier gestellt hat
und die nur ein Geist von seiner Universalität sich stellen durfte: Das
ganze gesellschaftliche Geschehen in seinem scheinbar regellosen,
zufallbestimmten geschichtlichen Ablauf in den strengen Formen oberster
Gesetzmäßigkeiten zu erfassen. Die Konzeption seiner Jugend, damals
aufleuchtend als kühner intuitiver Einfall, nunmehr durch Erfahrung und
kritische Prüfung eines langen Lebens gereift, zu Teilen in
vorbereitenden Arbeiten schon verwirklicht – die Rede „Über die
gesellschaftlichen Gewalten“ und die Vorträge über „Recht und Macht“
hatten bereits das Zentralproblem, die in den Kriegsjahren entstandenen
Abhandlungen über Massenpsychologie, Revolution, das geschichtliche
Werk der Gewalt, die Grundformen der gesellschaftlichen Verfassung,
Führung und Masse, über die modernen Diktaturen darum gelagerte
Teilprobleme erfaßt – sollte nun lebensvolle Gestalt gewinnen. Es hatte
nur noch eines auslösenden Anstoßes, wie ihn das Kriegserlebnis
brachte, bedurft, daß ihm alle Grundgedanken zusammenschossen. In einem
großartigen Freskogemälde mit breitestem geschichtlichen Hintergrund
stellt Wieser sie dar. „Ich habe nichts beweisen, noch logisch
verflechten wollen, sondern ich habe nur beschreibend wiedergeben
wollen, was ich nach angestrebtem Schauen in einem geschlossenen
Zusammenhang vor mir sah, dessen Verhältnisse freilich so ausgedehnt
sind, daß nur das angestrengteste Schauen seine Einheit erkennt.“ -
„Mir ging es es wie dem Wanderer im Gebirge, der die Bergspitzen
voneinander getrennt über dem wallenden Nebel vor sich sieht, bis der
Nebel weicht und er erkennt alles gesellschaftfliche Geschehen als machtbestimmt,
und es sind die Gesetze, wie Macht entsteht und sich auswirkt, welche
den Aufbau jeder Gesellschaft und ihren Strukturwandel und damit den
ganzen geschichtlichen Ablauf beherrschen. Als Kern der
Machterscheinung, als „Schlüsselmacht“ wird nicht äußere
Gewalt, sondern innere Macht, die Herrschaft über die Gemüter erkannt.
Und sie wieder entspringt immer aus dem Erfolg. Die Machtpsychologie
eröffnet so erst den Zugang zum vollen Verständnis der
Machterscheinungen, sie führt Wieser zur Psychologie der Führung und
zur Massenpsychologie und zu dem schwierigen Problem der anonymen
Mächte, der „Psychologie des Mann“. Das Verhältnis Führung und
Nachfolge wird als Grundtatbestand jeder – auch der demokratischen -
Gesellschaft aufgezeigt, in ihm wirkt sich das für das gesellschaftliche Leben universelle „Gesetz der kleinen Zahl“
aus. Nach den typischen Formen, in welchen die ursprüngliche
Machterscheinung sich verwirklicht, ergibt sich ein „Polytheismus“ der
Mächte – Ordnungsmächte, Lebensmächte, Kulturmächte – deren
Gesetzmäßigkeit aufgedeckt und deren konstitutive Funktionen für den
Gesellschaftsaufbau aufgezeigt werden. Die Formengesetze des
gesellschaftlichen Lebens werden erschlossen und mit bisher noch nie
erreichter Strenge die Haltlosigkeit der „organischen“
Gesellschaftstheorien und der mit den mystischen Begriffen der
„Volksseele“ oder „Massenseele“ und des „objektiven Geistes“
operierenden Scheinerklärungen dargetan. Aus dem Strome des Geschehens
offenbart sich Wieser das „geschichtliche Werk der Macht“,
dessen Erfassung ihn zu einer Reihe von Entwicklungsgesetzen führt:
„Das Gesetz der abnehmenden Gewalt“, das „Gesetz der abnehmenden
Freiheit und Gleichheit“ und das „Gesetz des Kreislaufes der Macht“.
Die Darstellung der Wege der Macht in der Gegenwart, der modernen
Machtorgane: politische Parteien mit ihren Ideologien, Presse,
wirtschaftliche Führungsorgane, moderne Diktaturen – der bestehenden
Machtkonflikte und der Wege ihrer Austragung beschließt das Werk. Nur
weniges konnte hier angedeutet werden, aber auch ein ausführlicher
Bericht könnte von der Neuheit und Kraft der Gedanken und der Tiefe der
Einblicke so wenig eine Vorstellung geben, wie eine bloße Schilderung
von einem monumentalen Kunstwerk. Alle Probleme der Gesellschaft und
ihres Entwicklungsganges und alle Kulturprobleme werden in ihren Tiefen
durchleuchtet und in ihren universellen Zusammenhängen erschaut. Es ist
keine jener vielen Soziologien, die vom Worte ausgehend darauf ein
spekulatives Gebäude errichten, sie ist getragen von der Anschauung der
Fülle der lebendigen Wirklichkeit. In der Darstellung, die dafür zeugt,
welcher Pracht die deutsche Prosa fähig ist, herrscht strenge logische
Reinlichkeit an Stelle des so beliebten mystischen Dunkels und volle
Unvoreingenommenheit an Stelle der politischen Befangenheit. Die Summe
der Weisheit eines langen forschenden Lebens ist hier niedergelegt, und
deshalb ist dieses Buch in seinen letzten Folgerungen, wo es sich in
die Höhen der Geschichts- und Gesellschaftsphilosophie erhebt, auch ein
Bekenntnisbuch. Sein ganzes Leben hindurch hat Wieser in seinen
Arbeiten immer nur die Sache, nie die Person sprechen lassen: hier, wo
es um höchste, letzte Dinge geht, über die strenge Wissenschaft
schweigt, hat auch die Persönlichkeit das Wort und man wird es
hochschätzen, weil es aus dem unergründlichen tiefen Born einer großen
Seele fließt. Für die erkenntnismäßige Beherrschung des
Gesellschaftslebens bedeutet das „Gesetz der Macht“ einen Wendepunkt.

Soll nun noch der vielen und großen Erfolge im öffentlichen Leben,
der Ehrungen und Auszeichnungen gedacht werden, die Wieser in reichem
Maße zueil wurden: seiner Mitgliedschaft an der Wiener und an mehreren
ausländischen Akademien der Wissenschaft, der Ehrendoktorate einer
Reihe von Universitäten, seiner Berufung ins österreichische
Herrenhaus, seiner erfolgreichen Tätigkeit als Leiter der
österreichischen Abteilung des Carnegiewerkes über die Wirtschafts- und
Sozialgeschichte des Weltkrieges; endlich seiner Ministerschaft unter
dem letzten Kaiser von Österreich, in der er unter anderem die damals
in Aussicht genommene Zollunion mit dem Deutschen Reiche vorbereitete?
Für jedes Leben von geringerem Format als das seine wäre jeder dieser
Erfolge Höhepunkt, Sieg und Genugtuung gewesen; ihm waren es
Begleiterscheinungen des Ringens und der Siege, die sich auf dem
wahren, dem inneren Schauplatze seines Lebens abspielten.

Mit dem „Gesetz der Macht“ hat sich für Wieser der Kreis seines
ideellen Lebens geschlossen und es ist mehr als bloßes Symbol, daß
damit auch sein physisches Dasein sich vollendete. Er arbeitete noch,
gedrängt von den Herausgebern des Handwörterbuches der
Staatswissenschaften, an einer Abhandlung über die Theorie des Geldes,
aber er sollte sie nicht mehr ganz zu Ende führen. Eine
Lungenentzündung ergriff ihn während seines Sommeraufenthaltes und warf
ihn aufs Krankenlager, und am 23. Juli 1926 hauchte er zu Brunnwinkel
am Wolfgangsee, wo so viele seiner Gedanken gereift waren, seinen
großen und edlen Geist aus.

Es war eine schöne Fügung, daß, als es zum Abschied kam, der
Priester die unvergänglichen Worte aus Paulus’ Korintherbrief sprach:
„…und hätte die Liebe nicht, so wäre ich wie tönendes Erz und eine
klingende Schelle. Und wenn ich die Gabe gotterleuchteter Rede hätte
und alle Geheimnisse wüßte und alle Erkenntnisse besäße…, hätte aber
die Liebe nicht, so wäre ich nichts.“ Denn in der Tat, sein tiefstes
Wesen war die schöpferische, weltumspannende Liebe. Der Geist der
Wahrheit, der aus seinen Werken strahlt, ist unsterblich. Und seine
lichtvolle Gestalt ragt für alle Zeiten, solange Sinn und Sehnsucht
lebt nach reinem Menschtum.

Von Nachrufen und Biographien seien erwähnt: Hans Mayer im
Rektoratsbericht der Wiener Universität 1926 und in der Zeitschrift für
Volkswirtschaft und Sozialpolitik, N. F. V. Bd. 1927; A. Menzel
im Jahresbericht der Wiener Akademie der Wissenschaften 1927 und von
demselben Autor eine ausführliche Würdigung in dem Buche „Friedrich
Wieser als Soziologe“ (Wien, Springer, 1927); F. A. Hayek in
den Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik, 125. Bd. 1926; ein
von Hayek herausgegebener Band gesammelter Schriften Wiesers wird
demnächst erscheinen (Verlag Siebeck, Tübingen); Ewald Schams „Friedrich Wieser und sein Werk“ in der Zeitschrift für die gesamte Staatswisschenschaft, 81. Bd. 1926; W. Vleugels in den Kölner Vierteljahrsheften für Soziologie, 7. Jahrg. 1927; L. Elster im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, IV. Aufl. 1927; O. Morgenstern in American Economic Review 1928.

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(1) In dem Beitrage „Arma virumque cano“ in der Festschrift zur
Hundertjahrfeier des Schottengymnasiums in Wien 1907; in dem Beitrag
„Carl Menger“ im 2. Band der „Neuen Österr. Biographie“ 1923 und im
Vorworte zu seinem letzten Werke „Das Gesetz der Macht“ 1926.

(2) Eine Übersetzung ins Englische mit einem Vorwort von Professor W.
C. Mitchell erschien unter dem Titel: Social Economics, 1927.

(3) Herausgegeben von Hans Mayer, R. Reisch, F. A. Fetter (Verlag
Springer, Wien 1927), mit über 80 Beiträgen österreichischer,
deutscher, amerikanischer, französischer, englischer, italienischer,
norwegischer, schwedischer, dänischer, holländischer, russischer,
polnischer, tschechischer, ungarischer, spanischer, griechischer und
jugoslawischer Nationalökonomen.