John Prince-Smith

Die sogenannte Arbeiterfrage (1864)
Handelsminister für sechs Stunden (1851)
Ueber die Nachtheile der Industrie durch Erhöhung der Einfuhrzölle (1845)
Ueber Handelsfeindseligkeit (1841)

Die sogenannte Arbeiterfrage (1864)

Diesen Artikel können sie auch im PDF-Format hier (Grösse: 144kb) herunterladen.

Quelle: erschienen in der Vierteljahrschrift für Volkswirthschaft, Politik und Kulturgeschichte, 1864, Bd. IV, S. 102, entnommen aus den Gesammelten Werken, hrsg. v. Otto Michaelis

Unsäglich schwierig ist es, das Verständniss gesunder Volkswirthschaft zu verbreiten. Die Schwierigkeiten, auf die der Volkswirth bei seinem Streben stösst, sind denjenigen sehr ähnlich, welche dem gewissenhaften Arzte seinen Beruf so sehr erschweren. – Man fühlt sich unpässlich: Benommenheit des Kopfs, Mattigkeit in den Gliedern, gestörte Verdauung, Beängstigung u. s. w. Man hat zum Arzte einen grundgescheidten und streng gewissenhaften Freund, und lässt ihn herbeiholen. Das angestellte Examen nöthigt zum Geständniss, dass man die Gewohnheit hat, leckere Speisen und erhitzende Getränke reichlich zu geniessen, fast immer in der Stube zu sitzen, jede Art künstlicher Aufregung zu suchen und sich all keine regelmässige Zeiteintheilung für Mahlzeiten, Beschäftigung und Ruhe zu binden. – Der Arzt sagt, man habe Verstand genug, um sich selber zu sagen, dass bei solcher Lebensweise Keiner gesund bleiben könne; gegen die Folgen einer unvernünftigen Lebensweise brauche man nicht einen Arzt, sondern blos die eigene Vernunft zu Rathe zu ziehen. Man müsste sich selber verschreiben: Enthaltsamkeit und Ordnung, Bewegung in freier Luft und angemessene Ruhe zu geregelter Zeit. Der Arzt hat Recht, – viel zu sehr Recht – und eben darum wird man auf ihn sehr böse. Weil er Einem sagt, was man sich selber sagen konnte und musste, aber nicht sagen mochte, weil es Einem eben nicht zusagte, darum wird er ganz unausstehlich. Er nöthigt Einen zur Erkenntniss, dass man all dem schlimmsten aller Gebrechen leide – der Karakterlosigkeit, dem Mangel sittlichen Willens. Man würde die bitterste Medizin ohne Widerstreben, nur nicht diese fatalen Dosen eigener Vernunft in Selbstbeherrschung eingerührt, stündlich hinunterschlucken, – eine Kur, wie die Wasserkur, von der, wenn man sich einmal auf sie eingelassen hat, man nie wieder loskommt. – Den Groll, den man eigentlich gegen sich selber empfindet, lenkt man auf den unbequemen Arzt, den man nicht mehr als Freund betrachten mag. Man setzt seine alte Lebensweise fort; der innere Missmuth steigert die Unruhe und das Unbehagen; man will nicht nach dem Arzte schicken, der nur unliebsame Vorhaltungen zu bieten hat; man schilt auf die Hohlheit medizinischer Wissenschaft, – und wendet sich zu irgend einem unwissenden Marktschreier, von dem man wenigstens sicher ist, dass er nicht an den nüchternen Verstand appelliren werde.

Ruft man nun bei den Leiden des Wirthschaftslebens den gewissenhaften Volkswirth, so weiss auch er keine. wunderthätigen Geheimmittel. Vielmehr weiss er nur, was offenkundig ist. Er kann nur Selbstverständliches sagen. Gegen einen Mangel an Befriedigungsmitteln giebt es selbstverständlich kein anderes Hülfsmittel, als eben vermehrtes Schaffen. Und offenkundig lässt sich nur dadurch mehr schaffen, dass man die Kenntnisse, die Geschicklichkeit, den Fleiss und vor Allem das Kapital vermehrt. Und erfahrungsmässig ist die Erhebung ganzer Volksklassen auf eine höhere Wirthschaftsstufe das Werk einer allmählichen, bisher sehr langsamen Entwickelung des Volkshaushalts. Schnelle Kuren für allgemeineres Leiden kennt die Volkswirthschaft nicht. Sie kennt dafür überhaupt nur eine Kur: ein grösseres Ausdehnen wirthschaftlicher Kultur. Und Kultur kann sich immer nur sehr langsam entwickeln, denn sie ist ein Werk der Menschenerziehung. Sie lässt sich nicht an blossen Aeusserlichkeiten des Lebens vollziehen; sie muss aus einer Heranbildung der Lebensanschauungen und der Willensgewöhnungen der Menschen horvorgehen. Für allgemeinere wirthschaftliche Leiden weiss also der gewissenhafte Volkswirth nur den einen alten Rath: »Arbeitet und sparet! Lasset die eigene Noth den Sporn, und den Genuss der Bessergestellten den Trieb Euch geben, Eure Willenskraft zu steigern, dass Ihr wenigstens die ersten Schritte auf dem Wege zur Erlösung aus der wirthschaftlichen Noth machet, – dass Ihr endlich dasjenige ermöglicht, was Ihr bisher in tausendjähriger Familienfolge nicht fertig brachtet, nämlich etwas über die tägliche Nothdurft hinaus zu erübrigen, um Euch wirthschaftlich und geistig besser auszustatten. Nur Derjenige kommt wirthschaftlich vorwärts, der etwas vor sich bringt.« Direkte Hülfe kann der Volkswirth nur darin leisten, dass er auf einige entfernbare Hindernisse zeigt, die den Weg noch erschweren; doch ist dies Nebensache, wo es sich darum handelt, zum Betreten des Weges überhaupt die nachhaltige Willenskraft zu erwecken. Was Wunder also, wenn die leidenden Klassen sich missmüthig abwenden von dem Volkswirthe, der sie auf die Selbsthülfe verweist, und lieber auf Schwärmer hören, welche wenigstens durch trügliche Vorspiegelungen die Hoffnungen zu beleben, die Leidenschaften zu erregen und so die dumpfe Einförmigkeit eines gedrückten Lebens auf Augenblicke vergessen zu machen wissen! – Auch scheint der Volkswirth mit seinem Hinweis auf Selbsthülfe sich wirklich in einem bösen Kreise zu befinden: denn die eigene Kraft der Leidenden soll deren Noth brechen, während deren Noth es ist, die augenscheinlich ihre Kraft bricht. Wo fände sich hier der Ausweg? Und doch weiss der Volkswirth, dass sich ein Ausweg finden lassen muss, da er weiss, dass das Leben der Wirthschaftswelt auf ein Gesetz steter Fortentwickelung zum Besseren gestellt ist. Und dies Bewusstsein, das unerschütterliche Ergebniss alles seines Studiums, bewahrt ihn gleichmässig vor dem Verzweifeln und vor dem Projekteschmieden.

Sind nun die volkswirthschaftlichen Wahrheiten selbstverständliche Schlüsse aus augenfälligen Thatsachen, und gehört zu deren Verständniss nur ein gewöhnlicher Grad von Beobachtungsfähigkeit und logischer Schärfe, so gehört doch dazu die Fähigkeit, das Urtheil rein zu halten von jeder Einwirkung der Gelüste, und die Dinge so zu sehen wie sie sind – eine Fähigkeit, die man erst durch die geistige Disziplin umfassenderer positiver Wissenschaftlichkeit erlangt. Anfangs trieben Phantasie und Leidenschaft im Dämmerlicht des Halbwissens überall ein spukhaftes Spiel, jeder Gesetzesschranke unbewusst: der berusste Sudelkoch träumte von Strömen Goldes, die aus seinem Bleitiegel fliessen sollten; der aberwitzige Sterndeuter hoffte, von den Himmelskreisen sich die Fäden der Weltherrschaft herunterzuholen; der zerlumpte Tausendkünstler bastelte unverdrossen an seinem perpetuum mobile. Die blendende Grösse der plötzlich zu erreichenden Ziele nährte in den armen Wichten eine Spannung, deren Reiz sie unter steten Täuschungen aufrecht erhielt. Im Gebiete der Physik und Mechanik hat uns eine Fülle geordneten Wissens gelehrt, uns ewigen Gesetzen gegenüber jeder Eingebung der Willkür zu entschlagen. Wir fragen nicht, was wir möchten, sondern was wir, nach gegebener Naturordnung, können sollen. Wir wissen, dass es im Naturleben keinen plötzlichen Umschlag, sondern nur allmälige Entwickelung giebt; aber das Bewusstsein sicheren, wenn auch langsamen Wirkens ist ein erhebenderes Gefühl, als die Erregtheit regelloser Wundersucht. Aber das Wirthschaftsleben., welches bis vor Kurzem in tiefstes Dunkel gehüllt war, liegt immer noch im Dämmerlicht des Halbwissens. Die klare Erkenntniss der unverbrüchlichen Gesetze, welche volkswirthschaftlichen Gestaltungen und Vorgängen zu Grunde liegen, ist noch sehr wenig verbreitet. Für die grosse Mehrzahl, und selbst für viele sonst Gebildete, ist das Gebiet der Volkswirthschaft völlig unbebautes, herrenloses Land, wo jeder politisch und wirthschaftlich gescheiterte Abenteurer sich als Squatter niederlassen und sich als Stifter einer neuen Ordnung der Dinge träumen kann, indem er in seiner naiven Unwissenheit wähnt, sich des Zwanges ewig sich forterbender Gesetzmässigkeit oben so leicht zu entledigen, als er sein sonstiges Erbe los wurde. Diese unverbesserlichen Verbesserer der Gesellschaft immer und immer wieder zurechtweisen zu müssen, ist für den Volkswirth eine überaus lästige Pflicht.


Die sogenannte »Arbeiterfrage« beschäftigt jetzt wieder viele Köpfe, oder vielmehr Gemüther; denn das aufgeregte Gefühl ist dabei geschäftiger, als der ruhige Gedanke. Die starke Nachfrage nach Lösungen dieser »Arbeiterfrage« erzeugt natürlich ein entsprechendes Angebot – von Projekten. Im Sinne des Fragenden aber lässt sich die Frage nicht blos nicht lösen, sondern nicht einmal stellen. Unter »Arbeiterfrage« versteht man nämlich die Frage: »Wie lässt sich die wirthschaftliche Lage der Lohnarbeiter plötzlich verbessern, unabhängig von der allgemeinen Hebung des Volkshaushalts, auf die man nicht warten will?«

Dem Volkswirth zeigt sich auf den ersten Blick die Unlösbarkeit eines solchen Problems.

Denn die wirthschaftliche Lage der Lohnarbeiter oder die durchschnittliche Lohnhöhe ist ganz einfach der Quotient aus dem durch die Arbeiterzahl dividirten Lohnfonds. Dieser Quotient lässt sich, abgesehen von einer Dezimirung der Arbeiter, nur dadurch vorgrössern, dass man den Lohnfonds vermehrt. Der Lohnfonds wiederum ist ein Antheil an der durch Arbeit und Kapital hergestellten Produktion; also vermehrt er sich nur mit der Vergrösserung oder zweckmässigeren Benutzung des Kapitals, d. h. mit der allgemeinen Hebung des Volkshaushalts, – auf die man einmal warten muss, so allmählich sie auch vor sich geht.

Hiergegen hat man eingewendet, dass, nach eigenem Geständniss der Volkswirthe, die Vergrösserung des Kapitals doch niemals die Lage der Lohnarbeiter verbessern könne. Denn es bestehe ein »eisernes Gesetz«, kraft dessen die Arbeiterzahl sich stets so vermehre, dass der durchschnittliche Arbeitslohn überall hinabgedrückt werde bis auf die nothdürftige Befriedigung der gewohnheitsmässigen Bedürfnisse der respektiven Arbeiterbevölkerung. Das Gesetz ist richtig. Der daraus gezogene Schluss ist falsch. Der Fehler liegt darin, dass man den ganzen Nachdruck auf das Wort »nothdürftig« gelegt hat, anstatt auf »gewohnheitsmässig«, worauf doch Alles ankommt, und worin der Schlüssel zur Lösung der ganzen Frage wegen Verbesserung der Arbeiterlage liegt. Denn die Lage der Arbeiterbevölkerungen in verschiedenen Gegenden ist sehr ungleich. In der einen Gegend hat sie sich oft, im Vergleich zu einer anderen Gegend, sehr erheblich verbessert, Vergleiche man z. B. England und Irland. Beide haben dieselbe Regierung, gleiche bürgerliche Freiheit, dieselbe geographische Lage. Klima und Boden sind in Irland fast noch günstiger, als in England. Der Irländer ist überaus anstellig, und fast noch grösserer, wenn auch nicht so anhaltender Anstrengung fähig, als der Engländer. Woher kommt es denn, dass der englische Lohnarbeiter durchschnittlich so sehr viel besser lebt, als der Irländer? Es kommt einfach daher, dass der Engländer an Besseres gewöhnt ist, als der Irländer. Die Gewöhnung nämlich bestimmt, ob bei einem gegebenen Lohnsatze oder Maass von Befriedigungsmitteln eine Arbeiterbevölkerung sich behaglich fühlt und sich vermehrt, oder ob sie im Gegentheil aus Missbehagen zusammenschrumpft. Bei einem Lohne, womit die zerlumpten Irländer höchst vergnügt ihre nackten Sprösslinge mit denen des Familienschweines sich im Kothe vor ihren Lehmhütten vermehren sehen, würde die bessergewöhnte englische Arbeiterbevölkerung unter dem Gefühle der Entbehrung hinschwinden. Die Gewöhnung bestimmt also, welche Höhe des Lohnes die Arbeitgeber bieten müssen, um die zur Bethätigung ihres Kapitals nöthige Zahl von Arbeitern zu erhalten. Geben sie nicht einen Lohn, der den Gewohnheiten der Arbeiter so weit genügt, dass deren Vermehrung mit dem Kapitalszuwachse Schritt hält, so tritt mit der Zeit ein Mangel an Arbeiterhänden ein, der eine Lohnerhöhung erzwingt. Der natürliche Vermehrungstrieb hat freilich die Tendenz, die Zahl derer zu vergrössern, unter welche der vorhandene Lohnfonds zu theilen ist, also die Portion des Einzelnen kleiner, den Lohnsatz niedriger zu machen. Aber die Gewöhnung wirkt hierbei als Sperrhaken; sie hemmt den Menschenzuwachs, sobald die Portionen zu klein werden, um dasjenige Befriedigungsmaass zu gewähren, welches den Arbeitern unentbehrlich geworden ist. Und bis auf dieses durch Gewöhnung unentbehrlich gewordene Befriedigungsmaass wird der Lohn allerdings durch die Konkurrenz der sich mehrenden Arbeitsucher auf die Dauer hinabgedrückt. Dieses Befriedigungsmaass aber kann ein verhältnissmässig reichliches werden. Es giebt also nur ein Mittel, den durchschnittlichen Arbeitslohn dauernd zu steigern: nämlich Steigerung der Gewohnheiten der Arbeiter. Die wirthschaftliche Lage der Arbeiter lässt sich nur dadurch bessern, dass die Arbeiter selber wirthschaftlich gebessert, an Besseres gewöhnt, wirthschaftlicher werden. Dies mag eine schwere Aufgabe sein, denn sie bedingt eine Hebung und Stärkung des sittlichen Willens, einen Erziehungsprozess, bei dem alle materiellen, geistigen und politischen Kulturhebel mithelfen müssen. Und rasch lässt sich diese Aufgabe schon deshalb nicht lösen, weil im blossen Begriffe Gewöhnung eine längere Zeitdauer enthalten ist. Aber wie schwer und langsam auch der Weg gesteigerter Gewöhnung, er ist doch augenscheinlich der einzige, der zum Ziele führen kann; denn ohne gesteigerte Gewöhnung würde eine Vermehrung des Lohns nur kurze Zeit bestehen können. Bestände wirklich das angebliche »eiserne Gesetz«, wonach das Arbeitervolk sich stets vermehrt, bis der Lohnfonds, wie sehr er auch vergrössert werde, unter so Viele zu theilen sei, dass die Portion des Einzelnen gerade hinreiche, ein darbendes Leben zu fristen, wie wäre da eine dauernde Besserung der Lage der Arbeiter überhaupt möglich? Und wenn selbst das Projekt, den Arbeitern den ganzen Kapitalgewinn zuzuwenden, ausführbar und ausgeführt wäre, was wäre dann unter der Herrschaft jenes angeblichen Gesetzes gewonnen? Doch nur ein vergrösserter Haufe Darbender! Dass die Projektenmacher jenes »eiserne Gesetz«, welches augenscheinlich alle ihre Pläne zu Schanden machen müsste, zum Hauptmotiv ihrer Vorschläge machten, ist ein Beweis, wie wenig sie sich um die Logik zu kümmern brauchen, wo es ihnen gilt, den unwissenden Haufen durch trügerische Vorspiegelungen an sich zu ziehen.

Die Steigerung der Gewohnheiten indessen, wenn auch schwer und langsam, ist doch überall da vor sich gegangen, wo sich die eine Klasse von Lohnarbeitern in einer verhältnissmässig besseren Lage als andere befindet. Ja, sie geht nothwendig vor sich kraft eines wirthschaftlichen Gesetzes, welches der Verfasser dieser Zeilen schon vor vielen Jahren ausführlich beleuchtete.(*) Jenem angeblichen »eisernen Gesetze«, welches die Arbeiter stets in das tiefste Elend hinabdrücken soll, stellen wir das wahre »goldene Gesetz« gegenüber, welches sie zu einer immer behaglicheren Lebensweise zu erheben die Wirkung hat.

Es treten nämlich gelegentlich Ereignisse ein, welche eine ungewöhnlich rasche Vermehrung des Kapitals zur Folge haben, z. B. grosse Erfindungen und Entdeckungen: wie die Anwendung der Dampfkraft, die Vervollkommnung der Spinn- und Webemaschinen, der Bau der Eisenbahnen, der Sieg der Handelsfreiheit, die Entwickelung des Kreditwesens, der Aufschwung des Unternehmungsgeistes nach Eroberung grösserer politischer Freiheit. Solcher beschleunigten Kapitalsvergrösserung kann die Arbeitervermehrung nicht so rasch folgen. Die Nachfrage nach Arbeit wächst in solchem Falle rascher als das Angebot derselben. Der Arbeiterlohn steigt, die Arbeiter leben besser als vorher. Sie könne. leichter heirathen, und, was das Entscheidende ist, sie können mehr Kinder durch die Gefahren der ersten Lebensjahre hindurchbringen. Die verminderte Sterblichkeit unter den Kindern beschleunigt das Wachsthumsverhältniss der Arbeiterbevölkerung. Wenn dies gleichbedeutend wäre mit einem sofortigen vermehrten Angebot von arbeitenden Händen, dann würde allerdings der Lohn gleich wieder hinabgedrückt werden, und die Kapitalsvermehrung trüge nichts zur dauernden Besserung der Arbeiterlage bei. Ehe aber ein Arbeiter erwachsen und ausgebildet ist, verstreichen wohl zwanzig Jahre. So lange dauert es also, ehe der durch eine Lohnsteigerung dem Volkswachsthum gegebene Impuls eine verstärkte Zahl von Arbeitsuchenden auf den Arbeitsmarkt führt, um den gestiegenen Lohnsatz wieder hinabzudrücken. Während dieser Zwischenzeit besserer Löhnung heben sich die Lebensansprüche der Arbeiter allgemein. Das aufwachsende Geschlecht gewöhnt sich an geräumigere und sauberere Wohnungen, bequemere Möbel, vollständigeren Hausrath, reichlichere Nahrung, bessere Kleidung, auch an gewisse Geistesgenüsse und eine anständigere Geselligkeit. Kommt also endlich die Zeit heran, wo der erzogene Zuwachs an Arbeitern den Lohn wieder hinabzudrücken beginnt, so fühlt sich das bessergewöhnte Geschlecht sehr unbehaglich; es macht ungewöhnliche Anstrengungen, um seinen Verdienst zu erhöhen; es verschiebt das Heirathen und verlangsamt seine Vermehrung; es sträubt sich mit seiner ganzen sittlichen Kraft gegen ein Zurücksinken auf das frühere kürzere Maass der Lebensbefriedigung. – Und sind seine verbesserten Gewohnheiten hinlänglich befestigt, so vermag es um so eher die gebesserte Lage zu einer dauernden zu machen, als es wegen seiner besseren körperlichen, geistigen und sittlichen Ausbildung leistungsfähiger ist, also eine höhere Löhnung dauernd ermöglicht.

Ebenso, wie eine Steigerung des Lohns, bietet auch eine Verwohlfeilerung der Lebensbedürfnisse die Möglichkeit, die Arbeiter an reichlichere Befriedigung zu gewöhnen, ihre Wirthschaftslage dauernd zu bessern. Der Einwand gegen die Konsumvereine, dass sie nur eine Lohnverminderung herbeizuführen und auf eine Ersparniss für den Alles verschlingenden Kapitalisten auszulaufen geeignet seien, ist völlig unbegründet. Eine andere Frage ist es, ob sie überall wirklich den Konsum verwohlfeilern. Denn die Vorstellung, welche Viele an dieselben knüpfen, dass nämlich der Konsum durch Umgehung des Kleinhandels verwohlfeilert werde, ist darum eine ganz falsche, weil im Allgemeinen der Kleinhandel, so wie jede andere wirthschaftliche Thätigkeit nur da entstehen und bestehen kann, wo seine Dienste mehr werth sind, als was sie kosten, wo er also den Konsum verwohlfeilert. Nur an kleineren Orten, wo oben der Kleinhandel nicht hinlänglich durch Kapital und Konkurrenz entwickelt ist, dürften Vereine am Platze sein, welche die fehlende Thätigkeit des Kleinhandels selber übernehmen. Insofern auch Konsumvereine die minder bemittelte Volksklasse lehren, Vorräthe anzulegen und mit Vorräthen umzugehen, können sie wohl eine grössere Wirthschaftlichkeit und Vorsorglichkeit ausbilden und verbreiten. Die Vermehrung des Kapitals trägt zur Besserung der Lage der Arbeiter nicht blos, insofern sie den Lohnsatz steigert, sondern auch durch Verwohlfeilerung der Verbrauchsmittel bei. Vergleicht man die jetzigen und die früheren Preise der Kleiderstoffe und vielerlei Geräthschaften, so erkennt man, dass sehr viele zur Behaglichkeit des Lebens beitragende Dinge, auf die der Unbemitteltere früher verzichten musste, jetzt für die Arbeiterklasse erreichbar geworden sind. Dieser Vortheil wäre den Arbeitern in noch viel stärkerem Maasse zu Theil geworden, wenn nicht, seit Entdeckung der kalifornischen und australischen Goldlager und seit der stärkeren Entwickelung des Papiergeldumlaufs, der stark sinkende Werth des Geldes oder die allgemeine Preissteigerung entgegengewirkt hätte; in den letzten fünfzehn Jahren hat die Vertheuerung des Lebensunterhalts durch Geldentwerthung die Lohnsteigerung durch Kapitalszuwachs ziemlich aufgewogen, so dass die Lohnarbeiter wenig Nutzen gehabt haben von einer Periode industriellen Aufschwungs, die sonst ihre Lage wesentlich gebessert hätte.

Es ist indessen kaum zulässig, von den Kapitallosen, die für Lohn arbeiten müssen, als von einer unterschiedslosen Arbeiterklasse zu reden, denn es giebt unter ihnen sehr wesentliche Unterschiede, von denen sowohl die wirthschaftliche Lage, als auch deren Förderung nothwendig abhängt. Zuvörderst hat man diejenigen zu unterscheiden, die in den kapitalischen Betrieb eingereilit sind, deren Arbeitskräfte vollkommen getheilt und durch Maschinen, Werkzeuge und sonstige kapitalische Hülfsmittel unterstützt werden. Unter diesen herrscht nur ausnahmsweise Noth. Die meisten von ihnen können erträglich, viele sogar gut leben. Der beständige Fortschritt zum Besseren ist bei ihnen nachweisbar und gesichert. Sie sind an geregelte Thätigkeit und den Empfang eines regelmässigen Einkommens gewöhnt. Sie haben eine zwar beschränkte, aber doch verhältnissmässig gesicherte Existenz. Und kein Bedürfniss gewinnt über den Menschen eine mächtigere Herrschaft, als das der einmal gewohnten Sicherstellung vor gänzlicher Entblössung. Es treibt ihn zur Vorsicht und Thätigkeit, macht ihn wirthschaftlich, bewahrt ihn vor Handlungen, welche seine künftige Befriedigung gefährden könnten. Solche Arbeiter schliessen nicht Ehen, ohne erst die Grundlage eines erträglichen Haushalts gelegt zu haben; sie setzen nicht Kinder in die Welt, für deren Erziehung sie nicht leidlich zu sorgen vermögen worden. Solche Arbeiter haben schon in sich jenen angewöhnten Wirthschaftssinn, den wir als die Grundbedingung der Hebung der wirthschaftlichen Lage überhaupt, sei es einer Lohnarbeiterklasse, sei es irgend einer andern Klasse von Menschen, erkannten. Und nichts ist verkehrter als die Vorstellung, dass es im Interesse der Kapitalisten läge, den Lohn hinab, die Arbeiter in das Elend hinunterzudrücken. Sie haben ein Interesse an möglich wohlfeiler Arbeitsleistung. Aber die Leistung eines durch Elend entkräfteten und abgestumpften Menschen ist gar nicht wohlfeil. Gut genährte Arbeiter leisten im Verhältniss zu ihren Unterhaltskosten stets viel mehr als schlecht genährte. Schlechter Lohn giebt schwache Arbeit, und diese ist allemal theure Arbeit. Und je mehr sich die Industrie kapitalisch entwickelt, um so wichtiger wird es dem Kapitalisten, bei seinen kostspieligen Anlagen und seinen grossen kunstvoll ineinandergreifenden Einrichtungen, Arbeiter zu haben von einer zuverlässigen Sorgsamkeit, die nur bei zufriedenen Menschen möglich ist, welche ein Interesse fühlen an dem Gedeihen eines ihnen wohlthätigen Unternehmens. Wo es in grösseren Industrieen wenig gut bezahlte Arbeiter giebt, ist dies nur, weil es an zuverlässig sorgsamen Leuten fehlt, denn diese würde sich jeder industrielle Unternehmer gern durch guten Lohn sichern.

Die Klasse von Arbeitern, bei der Elend herrscht, besteht vorzugsweise aus solchen, die noch nicht in den kapitalischen Betrieb eingereiht werden konnten, deren Arbeitskräfte, wenig durch kapitalische Hülfsmittel unterstützt, noch wenig produktiv sind. Sie verrichten meist gelegentliche Arbeiten, zu denen wenig Ausbildung und einfache Werkzeuge gehören: eine Hacke, ein Spaten, eine Axt, ein Korb, eine Schubkarre. Bei Arbeiten, die am leichtesten zu erlernen sind oder kaum erlernt zu werden brauchen, und für die der Aermste sich ausrüsten kann, wird es immer einen übergrossen Andrang und einen blossen Hungerlohn geben, so lange es so viele Verwahrloste und ganz Mittellose giebt; und wo es diese giebt, da ist es sehr schwierig, deren Vermehrung zu beschränken, ihr immer tieferes Versinken aufzuhalten. Denn sie kennen nur die nothdürftigste Stillung körperlicher Bedürfnisse, keine Befriedigungen des Lebens, keine Annehmlichkeiten; sie vegetiren stumpf dahin, ohne irgend Angewöhnungen, die als Handhaben dienen könnten zur Hebung ihres verdumpften Daseins; vielmehr sind sie gewöhnt, Alles zu entbehren, was ihnen überhaupt versagt werden kann, ohne ihrem Darben ein erlösendes Ziel zu setzen. Sie üben keine Vorsorge, weil ihre Lage schon zu schlecht ist, um selbst durch Sorglosigkeit noch verschlimmert worden zu können. Und wenn sie noch an den Empfang eines noch so kümmerlichen Lohnes aus regelmässiger Arbeit gewöhnt sind, so giebt dies doch einen möglichen Hebel für die Emporrichtung ihrer gesunkenen Lage. Aber es giebt eine noch schlimmere Sorte von Menschen, mit denen es noch verzweifelter steht: diejenigen nämlich, welche an keine geregelte Beschäftigung gewöhnt sind. Von Vorsorge und Selbstbeherrschung ist bei diesen vollends keine Rede. Von der Vergangenheit haben sie nichts überkommen; sie greifen nach jedem gegenwärtigen Genusse; sie bringen einer Zukunft, die ihnen keine Bürgschaft bietet, auch kein Opfer. Sogar die Unsicherheit ihres Daseins gewinnt für sie einen gewissen Reiz. Befreit von dem Bedürfniss der Sicherstellung, welches Andere an eine einförmige Arbeit fesselt, geniessen sie eine gewisse Unabhängigkeit; der Wechsel selbst zwischen Nichtsthun und gelegentlicher Anstrengung, zwischen augenblicklicher Befriedigung und zeitweiligem gänzlichen Mangel, giebt ihrem Dasein doch einige Spannung. Aus den Reihen dieser gehen die meisten Verbrecher hervor. Denn was ist natürlicher, als dass Derjenige, welcher genöthigt ist, von der Noth in allen Gestalten gehetzt zu sein, sich wenig aus den Verfolgungen einer Polizei macht, und nachdem er unzählige Male va banque mit dem Hungertode gespielt hat, auch einen Einsatz gegen den Henker wagt? Dass die Nachkommen solcher Geschöpfe nicht anders sein können als ihre Erzeuger, ist selbstverständlich. Und so erbt sich die Verwahrlosung fort und fort. Und forscht man näher nach der Geschichte der völlig Verwahrlosten, (für deren Konservirung unsere Armenpflege Kapital millionenweise dem Lohnfonds der produktiven Arbeiter entzieht) so erfährt man fast immer, dass sie dem Stande eines alten und befestigten Erb-Strolchthums angehören. Und eine solche Klasse bildet ein wahres Wuchergewächs. Wie die unvertilgbaren Flechten und Schwämme jede lichtlose dumpfe Fläche überziehen, so nisten sich Verwahrloste ein und vermehren sich in allen ungesäuberten Schlupfwinkeln der Menschenstätten; und wenn auch die Einzelnen ziemlich rasch der Entbehrung unterliegen, so wuchert die Art leicht fort; denn wäre nicht durch ein Naturgesetz dafür gesorgt, dass bei verschlechterter Ernährung die Proliferation stärker werde, das Menschengeschlecht wäre schon in vorwirthschaftlicher Zeit längst untergegangen. Gegen die wuchernde Verwahrlosung giebt es nur ein Hülfsmittel: man muss sie austilgen, wie man den Hausschwamm austilgt, indem man die Luft und das Licht der Kultur bis in die tiefsten und verborgensten Räume des sozialen Gebäudes leitet, und womöglich die Kinder ihren verdumpften Geburtsstätten entreisst.

Fragen wir uns nun, worauf die wirthschaftliche Kultur beruht, woher es kommt, dass ein Industrievolk so unermesslich viel mehr Befriedigungsmittel erlangt, als ein Volk im ersten Beginn wirthschaftlicher Entwickelung, so ist die einfache Antwort: es kommt vom angesammelten Kapitale her. Also ist es eben so natürlich als gerecht, dass im Industrievolk Diejenigen, welche das Kapital gesammelt haben und es verwalten und erhalten, einen Hauptantheil an diesem Mehr, welches ihr Kapitalisiren bewirkt hat, empfangen. Und es ist eben so unbillig als unstatthaft zu verlangen, dass die Kapitallosen, welche in tausendjähriger Geschlechterfolge nichts vor sich gebracht haben, es niemals möglich machten, über den täglichen Bedarf hinaus etwas zu erübrigen, um ihren Haushalt zu heben und ihre Nachkommen besser gerüstet dem Ernährungskampfe entgegenzuschicken, welche vielmehr auf vorwirthschaftlicher Stufe zurückgeblieben noch vorrathslos den täglich sich einstellenden Bedürfnissen gegenüberstehen, dass diese die Vortheile geniessen sollen, welche nur aus dem Besitze eines Vorraths fliessen können. Dennoch haben die Kapitallosen einen grossen Vortheil von dem durch Andere gesammelten Kapitale; denn als Lohn für ihre Arbeit empfangen sie, wenn auch nicht viel, doch viel mehr Befriedigungsmittel, als sie allein, ohne Hülfe von Kapital, herstellen könnten; denn verlöre ein dichtbevölkertes, industrielles Land plötzlich alles Kapital, so müsste es wieder zu einem dünnbevölkerten werden; die nicht von Kapital unterstützte Arbeit könnte selbst dürftigen Lebensunterhalt nur für einen geringen Theil der in einem kapitalreichen Lande arbeitenden Menschen schaffen. Im industriellen Lande also kann sich die vorhandene Menschenzahl den Lebensunterhalt überhaupt nur dadurch schaffen, dass ihre Arbeitskraft wirthschaftlich verwerthet wird, d. h. dadurch, dass die Arbeiten getheilt, die Kräfte vereinigt und durch kapitalische Anlagen, Maschinen und Werkzeuge, unterstützt, und die Produkte durch den oft weiten Weg des Handels zum Verbrauch gebracht werden. Dieser Weg volkswirthschaftlicher Verwerthung führt zur unermesslichen Vermehrung der Befriedigungsmittel; er ist aber lang und erfordert grosse Vorräthe; auch liegt die Entwickelung des Volkshaushalts eben darin, dass man nicht von der Hand in den Mund lebt. Diejenigen also, welche vorrathslos den täglichen Forderungen des Magens gegenüberstehen und nicht die wirthschaftliche Verwerthung ihrer Arbeitskraft unternehmen oder abwarten können, müssen ihre Kraft gegen augenblickliche Bezahlung an Kapitalisten verkaufen, welche dieselbe wirthschaftlich zu verwerthen vermögen. Der Vorrathslose erhält für seine Arbeitskraft einen Preis, welcher sich im Markte eben so bestimmt, wie der Preis jeder Marktwaare: er sucht Denjenigen, der seine Arbeit am höchsten abschätzt und ihm dafür das meiste Geld geben will. Natürlich will der Käufer nicht mehr dafür geben, als was andere Arbeitsuchende für gleich gute Leistung zu nehmen bereit sind. Reichen also die für Arbeit zu erlangenden Preise nicht zur behaglichen Existenz aus, so sind es nicht die Käufer, sondern die Arbeitsuchenden, welche die Preise gedrückt haben. Die Vorstellung, dass der Kapitalist willkürlich den Arbeitspreis diktiren könne, weil er nicht wie der Vorrathslose vom täglichen Hunger gedrängt wird, ist grundfalsch. Der Kapitalist für seine Person kann wohl warten, aber sein Kapital nicht; es muss immer durch Arbeit in Bewegung gesetzt werden, sobald es nur einen Augenblick ruht, fängt es an, sich selber zu fressen. Ein selbst kurzes Stocken des kapitalischen Betriebs wegen Mangels an Arbeitern kostet dem industriellen Unternehmer gewöhnlich viel mehr, als die Summe, um welche er den Lohn drücken könnte, wenn es Überhaupt in seinem Interesse läge, schlecht genährte und darum schwach leistende Arbeiter zu haben. Und sehr oft sieht sich der Industrielle bei schlechten Konjunkturen genöthigt, seine Arbeiter fortzubeschäftigen, Lohn aus seinem Kapitale zu bezahlen, um nicht seine Kundschaft zu verlieren. Wenn der Vorrathslose Lohnerwerb haben muss, so muss auch das Kapital Arbeitshände haben. Der Zwang zum Abschluss des Lohngeschäfts ist auf beiden Seiten gleich gross: hier der hungernde Magen, dort das fressende Kapital. Und der Geschäftsabschluss, der Lohnvertrag, richtet sich nur nach den zeitweiligen bestimmenden Verhältnissen des Arbeitsmarktes: nach der Zahl der Arbeiter, welche das vorhandene Kapital zu seiner Bethätigung haben muss, und der Zahl der Arbeiter, welche ihre Leistungsfähigkeit anbieten. Den Arbeitern liegt also Alles an der Nachfrage nach Arbeit, d. h. an der Erhaltung und Vermehrung des Kapitals. Nur wenn das Kapital rascher als die Arbeiterzahl wächst, kann der Lohn steigen, die Lage der Kapitallosen sich bessern. Besonders an der Erhaltung des Kapitals haben die Lohnarbeiter das dringendste Interesse; denn Kapital ist der Vorrath, von dem sie ernährt werden während der wirthschaftlichen Verwerthung ihrer Kraft, d. h. während der oft langen Zeit, welche bei der Arbeitstheilung verstreichen muss zwischen der einzelnen Arbeitsverrichtung und dem Austausche des einen fertigen Produkts gegen ein anderes. Eine Maassregel, welche, um den Arbeitern allenfalls einen Theil des Kapitalistengewinnes zuzuwenden, dabei den Kapitalstamm in unsichere Hände brächte, wäre für die Arbeiter selber das grösste Unglück. Denn selbst der ganze eigentliche Unternehmergewinn, unter die Arbeiter vertheilt, brächte jedem Einzelnen nur einen kleinen Lohnzuschuss, welcher nicht in die Waage fiele gegen die Gefahr eines Versiegens der Lohnquelle überhaupt durch Verwirthschaftung des Kapitals; es hiesse, für eine kleine Vermehrung der Befriedigung die Existenz selber auf das Spiel setzen. Also ist die sichere Erhaltung des Kapitals die erste und grösste Frage für das Wohl der Lohnarbeiter. Und es giebt keine zuverlässigeren Erhalter des Kapitals, als diejenigen, die es im freien Gange des Volkshaushalts verwalten: diejenigen, die es gesammelt, oder durch Kreditwürdigkeit an sich gebracht, oder die, nach geeigneter Erziehung, es ererbt haben. Und diese sind bei Strafe des Bankerotts, des jähen Sturzes aus dem Wohlleben in die Armuth, verantwortlich für die Erhaltung des von ihnen verwalteten Kapitals. Mit diesen verglichen, welche Bürgschaft böten denn Angestellte, die, ein fremdes Kapital verwaltend, durch Verwirthschaftung desselben Andere in Armuth stürzten, während sie selber nur eine andere Anstellung zu suchen hätten? Und selbst bei der jetzigen freien Wirthschaft, und trotz der auf den Unternehmer für eigene Rechnung konzentrirten Verantwortlichkeit, wie viel Kapital geht zu Grunde! Aber fast noch schlimmer wäre eine Kürzung des Gewinns aus dem Kapitale; denn damit kürzte man nicht blos die Fähigkeit, das Kapital zu mehren, sondern man würde den Beweggrund für die Erhaltung des Kapitals überhaupt schwächen; denn den Genuss, einen Vorrath aufzubrauchen, versagt man sich nur, um anstatt eines einmaligen Genusses sich einen fortdauernden Genuss zu sichern. Ist auch überhaupt der zu langsame Anwachs des Kapitals, die zu geringe Steigerung der Nachfrage nach Arbeit der Grund des niedrigen Lohns, worüber geklagt wird, so darf man selbstredend nicht den Kapitalgewinn kürzen, aus dem sowohl die Fähigkeit des Kapitalisirens, als auch der Reiz dazu entsteht. Ist bei dem jetzt angeblich so hohen Unternehmergewinn das Kapitalisiren zu langsam für das Wohl der Arbeiter vor sich gegangen, wie würde es bei vermindertem Gewinne damit stehen? Ein hoher Unternehmergewinn kommt sehr rasch den Arbeitern zu Gute; denn je grösser der Geschäftsüberschuss, um so rascher kann daraus ein neues Kapital gebildet werden; und in je näherer Aussieht der vermehrte Kapitalsbesitz steht, um so grösser ist der Trieb zur gegenwärtigen Enthaltsamkeit, zur Erübrigung, zur Kapitalisirung; und Kapitalisirung ist Lohnsteigerung.

Nach dieser offenkundigen Sachlage möchte die offene Feindschaft der Lohnarbeiter, oder wenigstens vieler ihrer Redeführer, gegen die Kapitalisten fast unerklärlich scheinen. Denn wenn die Besserung des Lohns aus der Vermehrung des Kapitals, und die Verschlechterung des Lohns aus der Vermehrung der Arbeitsuchenden hervorgeht, so streben wahrlich die Kapitalisten nach Kräften das Kapital zu vermehren, also wenn auch nicht absichtlich, doch unvermeidlich, den Lohn zu steigern. Und wer vermehrt dagegen die Arbeitsuchenden? Wer trägt, wenn auch nicht absichtlich, doch unvermeidlich, zur Drückung des Lohns bei? Doch nur die Arbeiter selber. Wie käme man also dazu, in dem Stifter und Vermehrer des Lohnfonds, in dem Kapitalisten, den Feind, den Schädiger des Arbeiters zu sehen? Es kommt einfach daher, dass der Arbeiter seinen Feind nicht in sich selber oder in schwer zu bewältigenden allgemeinen Verhältnissen sehen mag; denn er ahnt, dass eine Besserung, die bei ihm selber und seinen Gewohnheiten zu beginnen hätte, eine moralische Kraft erfordert, die er nicht in sich spürt, und dass eine Umgestaltung allgemeiner Verhältnisse eine sehr weitaussehende Kulturarbeit wäre. Stände ihm dagegen nur ein menschlicher Wille gegenüber, diesen könnte er durch Einschüchterung zu beugen oder durch Gewalt zu zwingen hoffen. Die Habsucht der Arbeitgeber liesse sich durch den Befriedigungsdrang der Arbeitnehmer bemeistern. Um den einen Willen zu besiegen braucht man nur den intensiveren Willen ihm entgegenzustellen. Durch gewöhnliche Agitationsmittel bei den Lohnarbeitern eine intensive Angriffslust zu erregen und durch Koalitionen gegen die Kapitalisten fühlbar zu machen, wäre ein Leichtes; und man kann der Versuchung nicht widerstehen, sich mit der Vorstellung zu schmeicheln, dass die ganze »Arbeiterfrage« sich durch ein so leichtes Mittel lösen liesse. Diese Neigung, sich gegen bezwingbare Personen zu richten, wo man vor schwer bezwinglichen Verhältnissen steht, zeigt sich sehr häufig. Wenn nach einer Fehlernte Theuerungspreise eintreten, so kann man auf die Witterungsverhältnisse eines verflossenen Jahres, die offenkundig an der Noth schuld sind, keinen Einfluss ausüben; man richtet sich also gegen »Kornwucherer«. Wenn unbekannte atmosphärische Einflüsse eine verheerende Epidemie, wie die Cholera, über das Land verbreiten, tobt man gegen »Brunnenvergifter«. Ehemals, wenn eine Viehseuche ausbrach, vergriff man sich an gebrechlichen alten Weibern und verbrannte sie als Hexen. Die Hexenprozesse sind zwar abgeschafft; aber der Trieb, ans dem sie entstanden, beherrscht noch immer die Unwissenden und offenbart sich, nur unter anderen Formen, überall in den leidenschaftlicheren Bewegungen volkswirthschaftlicher und politischer Parteiung. Dass der grelle Abstand zwischen der Lebensstellung des mit tausend Händen und grossartigen angesammelten Hülfsmitteln schaffenden Kapitalisten und des nur mit zwei Händen arbeitenden mittellosen Menschen bei diesem reizbaren Neid erregen sollte, ist erklärlich. Und dass der Arbeiter, wenn sein Lohn zu karg ausfällt, die Schuld auf die Hand schieben sollte, aus der er ihn empfängt, ist eben so naheliegend. Die Reizbarkeit ist bei dem Nothleidenden, die Kurzsichtigkeit bei dem Niedrigstehenden entschuldbar. Aber nicht zu entschuldigen ist es, wenn Männer von wissenschaftlicher Bildung, um von sich reden zu machen, diese Reizbarkeit aufstacheln, den Eingebungen dieser Kurzsichtigkeit eine scheinbar logische Grundlage geben, und Hoffnungen erregen, welche um so bitterer getäuscht worden müssen, als die ganze angeschürte Bewegung eine Richtung hat, welche, wenn sie überhaupt eine Bedeutung gewinnt, nur zur Verschlechterung der Lage der Lohnarbeiter führen kann.

Berlin, Ende 1864.

_____________________________________

(*) Vgl. Ueber die Quellen der Massenarmuth. Rede in der volkswirthschaftlichen Gesellschaft für Ost- und Westpreussen gehalten zu Elbing, am 5. Januar 1861, von John Prince-Smith. Leipzig, H. Hübner 1861.