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2.2. Sicherheit: Recht und Strafrecht; Rechtsdurchsetzung und Rechtsfrieden

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II.
III.
IV.
V.

III.

[S.111] Was sind die Grundsätze, nach denen Aggressionen behandelt werden? Wieder kommt es darauf an, Grundsätze zu formulieren, die ihrerseits allgemein anerken- [S.112] nungsfähig sind, und die sich insofern jedenfalls grundlegend von der gegenwärtig verbreiteten, von M. Rothbard treffend als absurd charakterisierten Strafpraxis unterscheiden: „A steals 15,000 from B. The government tracks down, tries and convicts A, all at the expense of B, as one of numerous taxpayers victimized in this process. Then, the government, instead of forcing A to repay B or to work at forced labor until the debt is paid, forces B, the victim, to pay taxes to support the criminal in prison for ten or twenty years time. Where in the world is the justice here? The victim not only loses his money, but pays more money besides for the dubious thrill of catching, convicting, and then supporting the criminal; and the criminal is still enslaved, but not for the good purpose of recompensing the victim.”[FN27]

Sowenig wie diese Behandlung von Aggression als allgemein anerkennungsfähig gelten kann (weil jedenfalls potentielle Opfer es schwerlich als fair akzeptieren könnten, wenn ausgerechnet sie die Kosten der Bestrafung ihrer Täter tragen sollen), genausowenig sind (diesmal freilich, weil sie gerade auch für potentielle Täter unannehmbar wären) die Prinzipien der Abschreckung oder der Rehabilitierung bzw. Resozialisierung allgemein anerkennungsfähig. Beide Prinzipien scheitern daran, daß sie den Zusammenhang zwischen ‚Art der Tat’ und ‚Art der Bestrafung’ auflösen, und die Art der Bestrafung abhängig machen von Größen (wie der Einschätzung der Abschreckungswirkung einer gegebenen Bestrafungsart auf eine gegebene Population von potentiellen Tätern; oder der Einschätzung der Rehabilitationschancen gegebener Täter im Hinblick auf einseitig festgelegte Rehabilitationsziele), über die ein potentieller Täter jedenfalls zum Tatzeitpunkt keinerlei Kontrolle besitzen kann. Der Täter kann unter Geltung dieser Prinzipien nicht im voraus wissen, was die Bestrafung für eine gegebene Tat sein wird; grundsätzlich kommt für eine gegebene Tat jede denkbare Art der Bestrafung in Frage; es sind kontingente, erst zum Zeitpunkt der Bestrafung festgestellte Besonderheiten des konkreten Falles, die entscheiden, welche Form der Bestrafung tatsächlich gewählt wird. – Solche Regelungen sind ersichtlich weder mit dem Grundsatz der Gleichberechtigung bzw. der symmetrischen Verteilung von Rechten auf Personen vereinbar (dieser Grundsatz verlangt, daß, ungeachtet der Besonderheiten des Einzelfalles, jedermann für die gleiche, d. i. durch angegebene Merkmale charakterisierte Tat auch gleich, d. i. in eindeutig festgelegter Art gleich bestraft wird) noch erfüllen sie die Aufgabe, zeitüberbrückend-andauernde Rechtssicherheit zu schaffen, aufgrund deren für jedermann mit Sicherheit voraussagbar ist, was die zukünftigen Rechtsfolgen bestimmter gegenwärtiger Handlungen sein werden und was nicht. Beides (daß ein Prinzip symmetrisch konstruiert ist, und daß die Ergebnisse einer zukünftigen Anwendung des Prinzips auch in der Gegenwart schon mit Si- [S.113] cherheit voraussagbar sein müssen) ist aber notwendige Voraussetzung für ein allgemein anerkennungsfähiges Prinzip der Behandlung aggressiver Akte.[FN28]

Das Strafprinzip, das dem Symmetrieerfordernis genügt, das auch Rechtssicherheit über Zeit gewährleistet, und das schließlich, wie zu zeigen ist, weil aus dem GWAP ableitbar, in der Tat (für potentielle Opfer und Täter) allgemein anerkennungsfähig ist, ist das sogenannte Proportionalitätsprinzip – demzufolge die Art der Bestrafung in direktem Zusammenhang mit der Art der Tat zu stehen hat. – Zunächst heißt dies, daß das Ausmaß der Bestrafung vom Ausmaß des angerichteten Schadens abhängig ist. Der Täter hat das Opfer in voller Höhe zu entschädigen, und er hat darüber hinaus die Kosten zu tragen, die im Zusammenhang mit der Ergreifung, Verurteilung und Urteilsvollstreckung entstehen (alles andere wäre für ein potentielles Opfer von vornherein unannehmbar). Und da sich der Täter bei der Tat unaufgefordert in die Eigentumsrechte des Opfers eingemischt hat, muß das Opfer bei der Durchsetzung seiner in direktem Verhältnis zur Schadenshöhe stehenden Kompensationsansprüche das Recht besitzen, Zwangsvollstreckungen vollziehen zu dürfen. Und da nur die Rechte des Opfers (nicht jedoch die irgendwelcher fiktiver Kollektivsubjekte wie der ‚Gesellschaft’, ‚Staat’ oder ‚Volksempfinden’ o. ä.) durch die Tat berührt wurden, hat nur das Opfer oder ein von ihm mit diesen Angelegenheiten ausdrücklich beauftragter Dritter das Recht, diese Zwangsvollstreckungen durchzuführen; und ausschließlich dem Opfer oder seinem Beauftragten steht dementsprechend das Recht zu, auf die Zwangsvollstreckung nach Belieben auch verzichten zu dürfen (etwa weil man dem Täter vergeben hat).[FN29]

Proportionalität verlangt jedoch mehr als Kompensation.[FN30] Ein reines Kompensations-(oder Restitutions-)prinzip ist aus mehreren Gründen weder für potentielle Opfer noch für potentielle Täter akzeptabel: Zum einen führt seine Anwendung schon in allen Fällen, in denen ein Schaden nicht ausschließlich wiederauffindbare oder doch standardisierte und reproduzierbare Güter (wie z. B. auch Geld) betrifft, zu Schwierigkeiten. Wenn DM gestohlen wurden, begleicht man auch den Schaden in DM. Wie kompensiert man aber, wenn Schaden an einem Gut angerichtet wird, das für den Eigentümer einen intrinsischen Wert darstellt, und das in seiner physischen Integrität und Individualität, wenn es erst einmal beschädigt ist, nicht mehr reproduziert werden kann, selbst wenn man es wollte? Was ist z. B. die Kompensation für eine Körperverletzung, für eine Vergewaltigung, für einen Mord, oder einfach dafür, daß man ungestraft meine alte Eiche vorm Haus gefällt hat? Naturgemäß kann in derartigen Fällen durch die Kompensation nicht der physische Status quo ante (wie vom Standpunkt des Opfers vielleicht wünschenswert) wiederherge- [S.114] stellt werden. Es kann bei Kompensationen hier also nur um eine Kompensation gleicher Werte gehen. Und weil potentielle Opfer zur Übertreibung von Wertverlusten neigen und potentielle Täter umgekehrt dazu, diesbezüglich zu untertreiben, kann es sich (da es doch auf die Formulierung einer beiderseits akzeptablen Lösung ankommt!) nur um die Ersetzung solcher Werte handeln, die, wie Versicherungswerte gegebener Güter, hinsichtlich sowohl ihres Gegebenseins als auch ihrer Höhe zum Zeitpunkt der Tat eindeutig objektivierbar sind.

Doch auch diese Lösung ist unbefriedigend.[FN31] Entscheidend stört an ihr, zumal aus der Sicht des potentiellen Opfers, daß ein reines Kompensationsprinzip dem Täter die Möglichkeit eröffnet, jede erdenkliche Tat zu begehen, sofern er nur bereit ist, anschließend die entsprechenden Versicherungswerte zu zahlen (der Mörder oder der Vergewaltiger kann also getrost morden und vergewaltigen, solange sie nur am Ort der Tat jeweils einen Scheck in Höhe des versicherten Lebens bzw. Körpers hinterlassen!). Dies kann von Personen, die sich ihrerseits ausschließlich korrekt, im Rahmen allgemein anerkennungsfähiger Rechte bewegen, nicht als ausreichender Schutz dieser doch legitimen Rechte anerkannt werden.

Zum anderen, im Zusammenhang mit diesem Grund stehend, versagt ein reines Kompensationsprinzip deshalb, weil es bei der Beurteilung aggressiver Akte begriffliche Distinktionen nicht vornimmt, die sowohl potentielle Opfer wie Täter zwecks vollständiger Beschreibung von Tathandlungen für unverzichtbar halten: da es nur die Schadenshöhe, nicht aber die Intention der Handlung ins Auge faßt, müssen ihm entsprechend z. B. Mord, Körperverletzung mit Todesfolge, oder Tod infolge eines Unfalls gleichbehandelt werden, und, kaum weniger akzeptabel, erfolglose Versuche aggressiver Taten, wie etwa ein mißlungener Versuch jemanden zu vergiften, müssen unbestraft bleiben, weil sie als erfolglose Taten ja keinen Schaden angerichtet haben.[FN32]

Angesichts dessen verlangt das Proportionalitätsprinzip, daß nicht nur, wie es das [S.115] Kompensationsprinzip will, Strafhöhe und Schadenshöhe in direkter Proportion zueinander stehen und variieren (das natürlich auch), sondern daß auch Handlungsintentionen vollständigkeitshalber berücksichtigt werden müssen, und daß die Strafe darüberhinaus das Ausmaß zu reflektieren hat, in dem ein Täter mit seiner Tat in die legitimen Eigentumsrechte anderer Personen eingreifen wollte. – Das Retributionsprinzip, das das erläuterte Kompensationsprinzip zum beide umfassenden Proportionalitätsprinzip komplettiert, regelt diese Seite des Problems. Es bestimmt zunächst formal, daß nur in solchen Fällen das Kompensationsprinzip zur Behandlung von Aggressionen ausreicht, wo ein Schaden die nicht-intendierte Wirkung einer Handlung ist. Hier, wie z. B. im Fall des Unfalls mit Todesfolge, ist lediglich die Folge der Handlung unrechtmäßig, nicht aber die Handlung selbst (der Handelnde hat mit seiner Handlung eine Todesfolge weder gewollt noch billigend in Kauf genommen); und also kann hier nur die Folge, entsprechend dem Kompensationsprinzip, bestraft werden. In allen Fällen dagegen, wo, wie z. B. bei Mord, sowohl die, Handlungsfolge, als auch die Handlungsintention unrechtmäßig sind, muß zusätzlich noch (nachdem selbstverständlich auch der Mörder, wie der Todesunfallverursacher, bei dem sich die Angelegenheit damit erledigt, zunächst einmal Kompensation zu zahlen hat!) das Retributionsprinzip angewendet werden (und in den Fällen, in denen es, wie beim Versuch, zwar zu einer unrechtmäßigen Handlung, aber nicht zu einer unrechtmäßigen Wirkung kommt, gelangt allein das Retributionsprinzip zur Anwendung).

In inhaltlicher Hinsicht bestimmt das Prinzip, daß eine gewollte Unrechtstat bestraft werden darf mit einer Handlung, die genauso weit (aber nicht weiter) in die Eigentumsrechte des Täters eingreift, wie dieser mit seiner Handlung in die des Opfers hat eingreifen wollen. Ein Mord (und nur ein Mord) darf mit Todesstrafe geahndet werden; eine Körperverletzung (und nur sie) mit Körperverletzung; ein Eigentumsdelikt wie Diebstahl (und nur ein solches Delikt) darf mit Diebstahl beantwortet werden. Die Tat bestimmt exakt, wie die Strafe aussehen darf; und genauso exakt, wie sie nicht aussehen darf.[FN33] Das Recht zur Bestrafung steht dabei [S.116] wieder nur dem Opfer oder einem hierzu von ihm ausdrücklich bestimmten Dritten (aber nicht der Volksgemeinschaft, dem Anwalt des Staates o. ä.) zu. Und wieder ist es auch allein sein Recht, auf Bestrafung nach Belieben zu verzichten; nur eine (auch vom bestraften Täter selbst) als milder bewertete Strafe zu vollziehen; oder mit dem Täter in beiderseits freiwillige Verhandlungen darüber einzutreten, ob und wie dieser sich aus seiner Strafe freikaufen kann. Das Retributionsprinzip legt lediglich die Höchstgrenze fest, über die eine Strafe nicht hinausgehen darf, wenn man sich als strafende Person nicht seinerseits einer strafwürdigen Aktion schuldig machen will. Hat irgendjemand mein Fahrrad gestohlen, so darf ich (nachdem ich gemäß Kompensationsprinzip zunächst meins wiederbekommen habe) nun sein Fahrrad ‚stehlen’ (oder eine dem Fahrrad entsprechende Summe Geldes zwangsweise eintreiben) – aber ich darf den Täter dafür nicht erschießen, oder ihm die Hand abhacken; und wenn ich es doch täte, so würde ich selbst zum Mörder oder Körperverletzer und könnte nun meinerseits mit entsprechend drastischen Maßnahmen bedacht werden.

Ersichtlich bringt dies Prinzip das denkbar höchste Maß an Rechtssicherheit über Zeit mit sich: Jedermann weiß zu jeder Zeit genau, wie die zukünftige Bestrafung beliebiger Sorten aggressiver Handlungen aussehen wird. Jede diesbezügliche Unsicherheit ist ausgeschaltet.[FN34] Ebenso wird durch das Prinzip das Problem der Objektivierung von Strafart und maß auf überzeugende Weise gelöst: denn potentielle Opfer und Täter können sich angesichts ihres natürlichen Hangs zur Über bzw. Untertreibung des Grades der Unrechtmäßigkeit einer gegebenen Handlung nur auf von subjektiven Standpunkten und Bewertungen unabhängige Kriterien als Kriterien der Strafzumessung einigen; und das Retributionsprinzip formuliert ersichtlich gerade das denkbar objektivste (von allen Idiosynkrasien gegenüber bestimmten Tatsorten gereinigte) Strafzumessungskriterium. Und schließlich wird durch das Retributionsprinzip auch der erwähnten Symmetrieforderung Genüge getan, weil eine strafende Person ihrerseits insoweit dem gleichen Gesetz unterliegt wie die bestrafte, als sie nicht über ein objektiv und exakt definiertes Strafmaß hinausgehen darf , ohne selbst zum strafwürdigen Täter zu werden; und sie unterliegt ihm auch dadurch, daß sie voll für vollstreckte Fehlurteile verantwortlich und haftbar ist, derart, daß z. B. der Vollstrecker eines Todesurteils an einer später als unschuldig [S.117] nachgewiesenen Person seinerseits zu einem mit Todesstrafe bedrohten Mörder würde.[FN35]

Diese Tatsachen machen das Retributionsprinzip zu einer Regel, die die notwendigen Voraussetzungen eines allgemein anerkennungsfähigen Prinzips erfüllt. Das entscheidende Argument ist jedoch der Nachweis, daß es aus dem bereits als allgemein anerkennungsfähig nachgewiesenen GWAP abgeleitet werden kann. Genauer: es folgt aus der Kehrseite des GWAP, d. i. dem Recht auf Selbstverteidigung. Das GWAP erklärt das absolute Recht jeder Person auf körperliche Unversehrtheit. Wird gegen dies Recht verstoßen, so hat eine angegriffene Person das Recht (von dem sie Gebrauch machen kann, aber nicht muß, wenn sie nicht will), nicht nur den Angriff erfolgreich abzuschlagen, um die physische Integrität des eigenen Körpers zu bewahren bzw. zu restitutieren; sie hat gleichzeitig damit das Recht, in Verbindung mit den Restituierungsmaßnahmen, ihrerseits in die physische Integrität des Körpers des Aggressors einzugreifen. Wird man etwa durch eine andere Person andauernd und direkt körperlich in lebensbedrohender Weise angegriffen, so hat man nicht nur das Recht auf Erhaltung oder Restituierung eigener Unversehrtheit (und muß nicht, absurderweise, abwarten, bis alles zu spät ist, weil man tot ist); man hat, damit verbunden, das Recht den Angreifer seinerseits, wenn es erforderlich erscheint, zu töten (wäre es anders, d. i. hätte man ein so charakterisiertes Recht auf Selbstverteidigung nicht, so gäbe es auch kein Recht auf körperliche Unversehrtheit!). – Und genauso, in strikter Anwendung dieses Prinzips auf sekundäre Güter muß es heißen: wenn ein Eingriff in die physische Integrität oder die unbeschränkte Verfügungsgewalt über bestimmte sekundäre Güter stattfindet, kann der legitime Eigentümer dieser Güter nicht nur auf Restituierung pochen; er darf in der Durchsetzung dieses Rechts vielmehr seinerseits, retributiv, in Eigentumsrechte des Täters, sekundäre Güter betreffend, eingreifen; er darf in Verbindung mit Restitution einen vergeltenden Angriff auf solche sekundären Güter vornehmen, die denen, auf die sich der vom Täter gewollte Angriff gerichtet hat, in derselben objektivierbaren Weise ähneln, wie ein Gegenangriff auf die körperliche [S.118] Unversehrtheit eines Aggressors einem von diesem begonnenen Angriff auf die physische Integrität eines Opfers ähnelt (wäre es anders, d. i. hätte man ein so charakterisiertes Recht auf Schutz des Eigentums nicht, so gäbe es auch das bereits als allgemein anerkennungsfähig nachgewiesene Recht auf Eigentum an sekundären Gütern nicht).