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Von der Strafunwürdigkeit unterlassener Hilfeleistung

I.
II.
III.
IV.
Fußnoten zum Anhang

IV.

[S.191] Mit der Feststellung der Strafunwürdigkeit unterlassener
Hilfeleistung oder, positiv formuliert, mit der Feststellung der
Rechtmäßigkeit unterlassener Hilfeleistung ist dabei nicht unbedingt
eine weitergehende moralische Beurteilung entsprechender Handlungen
verbunden. Rechtmäßigkeit in der hier verwendeten Bedeutung (als ,nicht
gegen allgemein bzw. objektiv rechtfertigbare Handlungsregeln
verstoßend’) ist lediglich die notwendige, nicht aber auch schon die
hinreichende Voraussetzung für Moralität: eine ungerechte Handlung kann
nicht moralisch sein, aber eine gerechte Handlung muß nicht
zwangsläufig auch schon als moralisch bezeichnet werden, sondern es ist
möglich, daß eine Handlung, abgesehen von ihrer Rechtmäßigkeit, weitere
Merkmale aufweisen muß, um sie moralisch nennen zu können. Es läßt sich
z. B. ohne weiteres, trotz ihrer Rechtmäßigkeit, von der Unmoral
unterlassener Hilfeleistung sprechen; aber angesichts ihrer Eigenschaft
als einer rechtmäßigen Handlung darf sich die Reaktion seitens anderer
Personen dann, um nicht ihrerseits als ungerecht (und zugleich
unmoralisch) gelten zu müssen, lediglich solcher Sanktionsmechanismen
bedienen, die unterhalb der Gewaltschwelle liegen: man kann sich
gerechterweise gegen unmoralische, aber rechtmäßige Handlungen ‚nur’
dadurch zur Wehr setzen, daß man seinerseits Austauschprozesse mit
unmoralischen Personen verweigert, solange diese mit ihren Handlungen
nicht zusätzlichen Erwartungen genügen – im Extremfall können, um
unmoralisches Verhalten anderer Personen negativ zu sanktionieren,
Personen zu Aussätzigen gemacht werden, indem man sich aus jeder
Interaktion mit ihnen zurückzieht. Eine strafrechtliche (d. i. eine
[S.192] mit Gewaltandrohung im Fall von Zuwiderhandlung operierende)
Durchsetzung über bloße Rechtmäßigkeit hinausgehender moralischer
Vorstellungen dagegen ist nicht nur ihrerseits unrechtfertigbar;
vielmehr sind derart erzwungene Handlungen (etwa: Hilfeleistungen
anstelle unterlassener Hilfeleistungen) nicht einmal als moralisch zu
bezeichnen, insofern, als ihre Durchführung nur unter Gewaltandrohung
erfolgt, aber nicht freiwillig (d. i. durchgesetzt ausschließlich durch
Sanktionsmechanismen unterhalb der Gewaltschwelle), und doch, wie man
immer schon wußte, nur eine freiwillige Hilfeleistung eine moralische
Tat genannt werden kann.