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Eugen von Böhm Bawerk (1851-1914)

Carl Menger, Nachruf auf Eugen von Böhm-Bawerk (1915)
Joseph Schumpeter, Biographie von Böhm-Bawerk (1925)
Bibliographie

Joseph Schumpeter, Biographie von Böhm-Bawerk (1925)

Quelle: Neue Österreichische Biographie 1. Abt., 2. Bd. Wien 1925

Eugen von Böhm-Bawerk

Dieser Name ist einer der größten in der Geschichte der Nationalökonomie. Fruchtbare neue Gedanken, die Kraft zu weit ausladender Konstruktion, glänzende Darstellungsgabe, entschiedenes Führertalent, stets bereite Kraft und Lust zu aggressiver und defensiver Polemik und alle die Eigenschaften des Charakters und Intellekts, die den Lehrer im höchsten Sinne des Wortes formen, haben ihn unsterblich gemacht. Das Gedankengebäude, das mit diesem Namen für immer verbunden ist, steht uns noch zu nahe, ist noch zu sehr umwittert von Kontroversen, als daß im einzelnen festgestellt werden könnte, was davon dauernder Besitz der Wissenschaft bleiben wird. Aber sein Einfluß ist fühlbar in fast allen und gerade den besten wissenschaftlichen Genies – in seinem inneren Wesen verwandt den besten Gedankenleistungen aller Zeiten.

Doch wenngleich die Wissenschaft das erste Recht auf diesen Namen hat, so hat dieser Name nicht bloß bei ihr sein Recht zu suchen. Wäre er auch nicht einer von den sechs oder acht größten Namen der Nationalökonomie, so müßte er gleichwohl einen Platz in diesem Werke finden als einer der besten des Österreich der Jahrhundertwende und weil sein Träger das, was das Beste war an diesem Österreich, in einzigartiger Reinheit in sich verkörperte.

Es wäre leicht, die erste Phase des modernen Österreich, das in der Katastrophe des Weltkrieges eines unnatürlichen Todes starb, zu charakterisieren, die Phase des Kampfes um die Vorherrschaft in Deutschland und Italien. Zwar liegt die Geschichtsschreibung auch dieser Phase fast ausschließlich in den Händen von Feinden ihres Geistes und ihres Zieles. Aber trotzdem und trotz des Mißerfolges, mit dem sie endete, wird ein leicht verständlicher Glanz immer Namen umgeben wie Schwarzenberg, Radetzky, Bach und Bruck. Und noch leichter wäre es, Sinn und Leistungen der zweiten Phase, der Herrschaft des deutschen Großbürgertums in Österreich, zu charakterisieren und Männern wie Adolf Auersperg, Hasner, Herbst usw. gerecht zu werden.

Aber die Schlußphase, die von 1880 bis 1918, wird wohl kaum jemals Verständnis und Gerechtigkeit finden. Ihr fehlte der politische Leitgedanke, der in eine kurze und verständliche Formel zu fassende Geist. Kein Volk und keine Partei identifizierte sich oder identifiziert sich etwa heute noch mit ihr – man müßte sie wohl, nachdem sogar die politische Einheit des Adels, der Kirche und der Sozialdemokratie versagt hatte, die Phase der Herrschaft des Beamtentums nennen. Es war der große Mangel dieser Periode und der damals leitenden Kreise, daß die Kraft nicht da war, die dazu gehört hätte, um das alte Haus, das den Lebensnotwendigkeiten der Völker Österreichs trotz all seiner Verbesserungsbedürftigkeit so sehr zusagte, so umzubauen, daß Liebe und Behagen zur Befriedigung jener Lebensnotwendigkeiten hinzugetreten wären. Zwar wurde das ununterbrochen versucht. Die seit den Tagen des Grafen Taaffe aufeinanderfolgenden Ministerien waren unermüdlich in den Versuchen, sozusagen experimentell das Gleichgewicht der nationalen Kräfte zu finden. Doch fehlte der große Zug. Und da nun die Geschichte über diesen Mangel vernichtend geurteilt hat, so wird wohl jeder, der über das Österreich dieser Phase schreibt oder spricht oder denkt oder fühlt, jene Zeit unter dem Gesichtspunkt des endlichen Mißerfolges sehen und verkennen, wie wenig dazu gefehlt hat, daß alles anders gekommen wäre. Aber das kann niemand verkennen, was das damalige Österreich unter für den Fernstehenden kaum glaublichen Schwierigkeiten im einzelnen auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens geleistet hat, wie gründlich und erfolgreich damals auf allen Gebieten öffentlicher Verwaltung die Vorbedingungen für einen lebenskräftigen und leistungsfähigen Staat geschaffen wurden. In der Summe dieser Leistungen war die finanzpolitische die wichtigste. Ernste, sachkundige, zielbewußte Arbeit hat damals die Monarchie aus einer ein Jahrhundert alten staatsfinanziellen Notlage, aus Schmach, Unernst und Mißwirtschaft herausgeführt und auf eine gesunde, korrekte und moderne finanzielle Basis gestellt. Und an dieser Arbeit hat außer Dunajewski kein einzelner einen solchen Anteil gehabt wie Böhm-Bawerk. Fortschrittliche, fruchtbare Gesetzgebung, die besten Erfolge österreichischer Budgetpolitik, große volkswirtschaftliche Leistungen, in der Tat, die Erinnerungen an die beste und glücklichste Periode österreichischer Finanzwirtschaft knüpfen sich an seinen Namen, der so am äußersten Ausläufer dessen steht, was am alten Österreich erfreulich war, an den Grenzsteinen des Feldes, das der untergegangene Staat mit Erfolg bearbeitete. Was darüber hinaus liegt und Mißerfolg war, das hat er und das hat ihn nicht berührt.

Eugen von Böhm-Bawerk stammte aus einer alten Beamtenfamilie. Er wurde als Sohn des Vizepräsidenten der mährischen Statthalterei in Brünn am 12. Februar 1851 geboren, als Österreicher in des Wortes engster und inhaltsreichster Bedeutung, dem das Gefühl für den inneren Sinn Monarchie eingepflanzt war, der den Staat im wesentlichen so wollte, wie er damals war und wie er ihn wohl auch für auf die Dauer haltbar hielt, den Staat der konstitutionell kontrollierten, sich den einzelnen Nationalitäten nach Tunlichkeit anpassenden, aber schon aus Zweckmäßigkeitsgründen notwendig deutsch kultivierten, wenngleich nicht deutschnational orientierten Bureaukratie. Aber so unverbrüchlich treu er stets zu diesem Staat und den sich ihm darbietenden Elementen seiner Situation gehalten hat, so waren ihm doch alle diese Probleme zunächst nicht Herzenssache. Auch darin war er typischer Österreicher im besten und kultiviertesten Sinne, daß ihm öffentliche Tätigkeit und politischer Kampf nicht nur nicht synonym waren, sondern überhaupt nichts miteinander zu tun zu haben schienen. Doch dachte er zunächst auch an keine öffentliche Tätigkeit, vielmehr gehörte das Interesse seiner Jugend der Wissenschaft, und zwar vor allem der theoretischen Physik, wie das dem Wesen einer auf exakte Denkarbeit gerichteten Mentalität entspricht. Vornehmlich äußere Gründe waren für die Wahl des juristischen Studiums und damit für systematische Bekanntschaft mit der Nationalökonomie entscheidend. So folgte die Wiener Rechtsfakultät auf das Schottengymnasium. Der österreichischen, namentlich in Beamtenfamilien gepflegten Übung entsprechend, trat er 1872 nach Ablegung der juristischen Staatsprüfungen in den niederösterreichischen Finanzdienst ein, um bald darauf in das Finanzministerium berufen zu werden, wo er sofort die Augen seiner Vorgesetzten auf sich lenkte.

Ohne irgend welches Schwanken hatte er sich sofort in das Gebiet theoretischer Ökonomie verankert. Mit der Klarheit des Wollens, die seinem ganzen Leben eine kunstwerkhafte Einheit gibt, schaffte er sich Raum, um tiefer zu schürfen, gleich nachdem er 1875 das juristische Doktorat erworben hatte, durch einen Studienurlaub, den er in Heidelberg, Leipzig und Jena verbrachte, schon ganz mit seinen eigenen Ideen beschäftigt.

In jenen Jahren stand die Nationalökonomie im Nadir ihrer Leistungen und ihres Ansehens. Der große Aufschwung der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts hatte sie erst zur Wissenschaft gemacht und ihre Leistungen im 18. Jahrhundert präzisiert, fundiert, systematisiert und entwicklet. Dann war der produktive Impuls erstorben. Weder Ricardo noch Thünen waren Nachfolger gleichen Wertes erstanden. Das Erbe verkam in den Händen einer Schar von Epigonen, deren beste – und das gilt selbst von John St. Mill – nichts anderes zu geben hatten als eine mehr oder wengier vollkommene Darstellung und Interpretation der Lehre der Meister, die vom Standpunkt eines etablierten Systems sprach. Das war um so schlimmer, als schon die ersten im Felde die neugewonnene und in ihrer Tragweite weit überschätzte Erkenntnis sofort auf wirtschafts- und sozialpolitische Fragen der Zeit angewandt und so die Wissenschaft scheinbar unzertrennlich mit einer bestimmten wirtschaftspolitischen Stellungnahme, mit dem wirtschaftlichen Liberalismus, verbunden hatten, was, an sich schon mehr als gewagt, durch den unfruchtbaren pedantischen Doktrinarismus der Nachfolger einer Zeit, die sich von diesem wirtschaftspolitischen System abwandte, vollends unerträglich wurde. So kam es, daß die Nationalökonomie damals nicht nur immer weniger den wissenschaftlichen Anforderungen der lebendigen Geister genügen, sondern daß sie für weitere Kreise und selbst für Fachleute, deren Interesse nicht den wissenschaftlichen Grundfragen der Theorie, sondern den Fragen galt, die das Leben darbot, einfach als Werkzeugkasten liberaler Argumentation gelten konnte. Die Jugend floh die dürren Formeln und die jüngeren Berufsgelehrten von damals nahmen sich gar nicht mehr die Mühe, in den inneren Sinn jener Doktrinen einzudringen oder an ihrer Reform zu arbeiten – sie verurteilten das „klassische System“ in Bausch und Bogen und wandten sich, namentlich in Deutschland wirtschaftsgeschichtlicher Arbeit oder sozialreformatorischen Interessen zu. Es wurde in weiten Kreisen die Auffassung sozusagen offiziell, daß es eine ökonomische Wissenschaft in dem Sinne eines Systems von allgemeingültigen Wahrheiten überhaupt nicht gäbe und daß jedes solche System bestenfalls eine Formulierung der wirtschaftspolitischen Ideen seiner Zeit sei. Das war die intellektuelle Situation, der die drei Männer gegenüberstanden, denen ein Neubau des alten Lehrgebäudes gelang: Jevons, Menger und Walras. Jede wissenschaftliche Neuerung setzt die Kraft voraus, durch dargebotene, festgewordene Denkgewohnheiten durchzubrechen, und das taten diese drei. Aber in ihrem Fall war das unendlich schwieriger als es also sonst zu sein pflegt, denn jener Teil der wissenschaftlichen Welt, der nicht zu den alten Lehren geschworen hatte und den neuen also die Tür hätte öffnen können, bestritt ja gerade die prinzipielle Möglichkeit einer wissenschaftlichen Theorie des wirtschaftlichen Geschehens und stand daher von vornherein auf einem Standpunkt der Ablehnung – auf einem Standpunkt der Ablehnung, auf den man sich nicht nur festgelegt hatte, sondern von dem aus man zu völlig anderen Interessen übergegangen war. Jevons Kampf war leichter, weil das Interesse an theoretischer Ökonomie in England, wenn auch verkalkt, so doch nicht erstorben war. Walras blieb ein Einsamer bis zu seinem Lebensabend. Wenn Mengers Schicksal ein anderes war, so danken er und die Wissenschaft es dem wissenschaftsgeschichtlichen Zufall, daß er, dessen entscheidendes Buch 1871 erschien, sofort zwei ebenbürtige Bundesgenossen fand, bereit, sein Grundprinzip aufzunehmen und fähig, es mit gleichwertiger Kraft zu verteidigen und durch eine Art von Selbstentdeckung dessen, was man so schnell rezipiert. So entstand aus der Einzelleistung eine Richtung, die sogenannte österreichische Schule, die sich ohne alle äußeren Mittel und Beziehungen, so ungünstig postiert wie nur möglich, allein durch das Gewicht ihrer Botschaft nach und nach die Fachwelt eroberte.

Im Falle Böhm-Bawerks handelte es sich um ein rein wissenschaftliches Interesse. Anders als Marshall wurde er nicht durch das Verlangen nach Erklärung der sozialen Probleme, anders als Marx nicht durch den Willen zu reformatorischer Tat zur Wisschenschaft geführt. Er wollte analysieren um des Analysierens, um des Verstehens, des Forschens selbst willen. Mit der spontanen Annahme des Mengerschen Grundgedankens, den er später in klassischer Vollkommenheit ausbauen und verteidigen sollte, wie man nur Eigenes verteidigen kann, vereinigte sich sofort der eigene große Grundgedanke. Er klingt schon in seiner ersten Arbeit an, mit der er sich im Jahre 1880 an der Wiener Universität für Nationalökonomie habilitierte und die ein Jahr darauf in etwas veränderter Gestalt publiziert wurde, aber schon in den wissenschaftlichen Wande….ren entstanden war: „Rechte und Verhältnisse vom Standpunkte der wirtschaftlichen Güterlehre.“ Scheinbar nur ein Detail eines sehr trockenen Kapitels, daneben allerdings auch einige interessante methodologische Fragen behandelnd, ist diese Arbeit doch ein erster Schritt nach dem Problem hin, dem Böhm-Bawerks Lebensarbeit galt, dem Problem der ökonomischen Struktur der kapitalistischen Wirtschaft. Alles Wesentliche dessen, was er später in reifer Meisterschaft zu sagen hatte, scheint sich in jenen fruchtbaren Jahren gebildet zu haben, arbeitete in ihm seither. Allen den übrigen recht dürftigen Anregungen, die er damals von außen empfing, trat ein schon geformter Geist entgegen, der seinen Weg sah und wußte, was er wollte. Er war ein Klassiker im Sinne der Terminologie Ostwalds, und er bestätigt dessen Theorie von der fundamentalen Bedeutung, die die Jahre, welche dem Abschluß des physischen Wachstums folgen, für den Forscher haben.

Seine innere Entwicklung machte die Wissenschaft zu seinem Lebensberuf und das Lehramt ratifizierte nur diese Notwendigkeit. Sogleich nach seiner Habilitation wurde ihm die Supplierung der Innsbrucker Lehrkanzel übertragen, ihr folgte im Jahre 1881 die außerordentliche und im Jahre 1884 die ordentliche Professur. Von 1880 bis 1889 blieb er in Innsbruck. Die Grundlagen waren da, der äußere Rahmen nun gefunden und diese ruhigen Jahre, denen er durch sein ganzes späteres Leben warme Erinnerung bewahrte, vollendeten sein wissenschaftliches Lebenswerk nach außen. Denn nur Ausführung, Verteidigung und verbeserte Formulierung war, was dann noch kam. Hier sei des Bündnisses gedacht, das dem sonst so sein auf sich gestellten Mann die Lebensatmosphäre bot, die ihm als Forscher wie als Staatsmann von kaum zu definierendem Werte war, die seine Arbeit schützend und fördernd umgab und den Boden schuf für die Geradlinigkeit und Einheit seines Lebens und seiner Leistung: Im Jahre 1880 hat er sich mit der Schwester seines Freundes, Baronesse Paula von Wieser, verheiratet und bis zu seinem Tode das Glück eines Heimes genossen, wie es eine selbstlose Frauenhand schaffen kann, und eines Lebensstiles, der so glücklich und das Werk so fördernd Heiterkeit und Interessen aller Art mit den festgefügten Arbeitsstunden verwebte.

Die Angelpunkte einer jeden Theorie des Wirtschaftsablaufes sind die Wert- und die Zinslehre. Die Stellungnahme zu diesen zwei Problemen bestimmt so ziemlich zwangsläufig alles andere. Sie haben auch seit jeher als die Grundprobleme gegolten und vier Fünftel der Literatur der theoretischen Ökonomie sind Forschungen oder Kontroversen über sie. Den Grundgedanken der Wert und der daraus fließenden Preislehre übernahm Böhm-Bawerk also von Menger. Hier hatte er nur auszubauen, namentlich in zwei Richtungen: Das Prinzip der Mengerschen Wertlehre bezieht sich zunächst nur auf die der menschlichen Bedürfnisbefriedigung unmittelbar dienenden Güter. Daß die Wertbildung auch aller anderen, also nicht unmittelbar der Bedürfnisbefriedigung, sondern der Produktion von bedürfnisbefriedigenden Gütern dienenden Dinge sich aus dem gleichen Prinzip erklärt, daß also deren Wert von dem der Genußgüter abgeleitet ist, hatte Menger zwar auch bereits gesagt, aber er war bezüglich der Art dieser Ableitung nicht über den Anfang hinausgekommen. Soweit daher die sofort einsetzende Kritik das Mengersche Wertprinzip überhaupt anerkannte, konstatierte sie sofort, daß es die Art der Wertbildung der Produktivgüter im unklaren lasse. Davon bis zur Negation der Möglichkeit der Ableitung ihrer Werte aus dem Mengerschen Prinzip war nur ein Schritt, der auch schnell genug getan wurde, zumal das auf der Hand liegende Argument zur Verfügung stand, daß die zur Produktion eines Genußgutes nötigen Produktionsmittel in ununterscheidbarer Weise dabei zusammenwirken und es daher nicht möglich sei, ihnen bestimmte Wertanteile zuzuschreiben. Das ist die Crux der sogenannten Zurechnungstheorie, an der sowohl Wieser wie Böhm-Bawerk sich zunächst versuchten. Sodann mußte das von Menger ebenfalls schon gegebene Prinzip der Preisbildung entwickelt, es mußte eine leistungsfähige Preistheorie gebaut werden. Hier war Böhm-Bawerk ganz besonders glücklich. Seine Form der Lösung, in allen wesentliche Punkten noch heute unerschüttert, ist die klassische Leistung der Wiener Schule auf diesem Gebiet.

In einer unübertrefflichen Darstellung publizierte er seine Forschungen auf diesem Felde in den Konradschen Jahrbüchern im Jahre 1886 unter dem Titel: „Grundzüge der Theorie des wirtschaftlichen Güterwertes“. Er war das Schwert der neuen Richtung und hat sie in manchen Kontroversen, unter denen die mit Dietzel in den Jahren 1890 bis 1892 hervorgehoben sei, tapfer verteidigt. Die Kontroverse zeigt ihn, und zwar nicht bloß nach der intellektuellen Seite hin, in schönem Lichte. Nie offenbarten sich jene unliebenswürdigen Züge, die Kontroversen bei uns oft so unerfreulich machen. Er stand früh auf einer Höhe, von der der Blick auf die meisten Fachgenossen notwendig abwärts gerichtet sein mußte, aber nie verrät er mit einem Worte ein Bewußtsein davon. Stets schreibt er mit einer ruhigen Achtung des Gegners, im schlimmsten Fall mit kühler Reserve. Und nie ließ er wissenschaftliche Meinungsverschiedenheiten auf Persönliche Beziehungen abfärben.

Ganz sein Eigen war seine Theorie des Kapitalzinses, mit der sein Name für immer verbunden und die zweifellos eine der stärksten Leistungen ist, die die Geschichte der theoretischen Nationalökonomie aufzuweisen hat. Die Rolle des Kapitalszinses im Lebensprozeß der kapitalistischen Wirtschaft und die Tatsache, daß das Zinseinkommen der ökonomische Tragbalken der diese Wirtschaftsform vor allem charakterisierenden sozialen Schicht ist, bringen es mit sich, nicht nur, daß das Bild des Wirtschaftsprozesses, das der Theoretiker entwirft, vor allem durch seine Erklärung dieses Phänomens bestimmt wird, sondern auch, daß sich das Urteil des Sozialpolitikers, überhaupt das Werturteil über den Kapitalismus, vor allem an der Ansicht orientiert, die man über das Wesen des Kapitalzinses hat. Wohl dreißig verschiedene Erklärungsversuche gibt es, ohne daß einer davon sich auch nur annähernd allgemeine Anerkennung hätte erringen können. Es ist eben ein Faktum, daß die Alltäglichkeit einer Erscheinung ihre Erklärung keineswegs erleichtert, im Gegenteil als psychologisches Hemmnis für die Forschung wirkt.

Er ging ans Werk mit jener pflichtenfreudigen und bedachtsamen Sorgfalt, die nicht nur seiner Natur, sondern auch der Situation entsprach, die er vorfand. In Wissenschaften, die zu ihren Jahren gekommen sind, insbesonder also in der Physik, findet jeder Forscher in der Regel seine Problemstellungen und das Verständnis dafür in seinem Fachkreise vor. Böhm-Bawerk hatte aber nicht nur ein Problem zu lösen, er mußte vor allem seine Leser lehren, es richtig zu sehen und er mußte ihnen die Zustimmung zu den einfachsten Ausgangspunkten erst abringen, sie in die Elemente des Gegenstandes erst einführen, bevor er seine eigene Botschaft verkünden konnte. Das tat er in der Weise, daß er zunächst so ziemlich alle Theorien des Kapitalzinses, die bis zu seiner Zeit jemals erdacht worden waren, mit einer unerhörten Sorgfalt und Schärfe zergliederte. So entstand nicht nur die beste dogmenkritische Arbeit der nationalökonomischen Literatur, sondern auch das beste Lehr- und Übungsbuch nationalökonomischen Denkens. Die Publikation erfolgte 1884, und zwar als erster Band seines Hauptwerkes „Kapital und Kapitalzins“ unter dem Titel „Geschichte und Kritik der Kapitalzinstheorien“ (2. Aufl. 1900, 3. Aufl. 1914, 4. Aufl. 1921, französische Übersetzung 1902 – 1903). 1888 folgte dann der zweite Band unter dem Titel „Positive Theorie des Kapitales“ (Englische Übersetzung 1891, 2. Aufl. 1902, 3. Aufl. 1909 – 1911). Der gewaltige Erfolg dieser beiden Bücher wirkte sich erst nach und nach im ökonomischen Denken unserer Zeit aus, in den Werkstätten der Fachgenossen. Der Schüler, der Anhänger, der Geistesverwandte blieb nicht bei einer offiziellen Anerkennung stehen – im Gegenteil, er kämpfte oft mit allen Kräften gegen das Neue – sondern er geriet unvermeidlich unter den Einfluß der Persönlichkeit und des Werkes. So errang Böhm-Bawerk nicht jene Zitierberühmtheit, die so wenig bedeutet. Er formte vielmehr die Geister, machte sie denken wie er dachte und sogar viele Angriffe auf ihn tragen den Stempel seiner Schule. So wurde er einer der großen Lehrer unserer Wissenschaft in des Wortes höchster Bedeutung und sein Blick für das jeweils Erreichbare machte ihm eine Leistung möglich, die gerade schöpferischen Geistern oft versagt ist: Alles was er schrieb, ging in Fleisch und Blut des lebendigsten Teiles unseres theoretischen Wissenvorrates über. Aber dieser Erfolg kam nicht schnell. Lange stand Böhm-Bawerk an äußerem Erfolg hinter Fachgenossen zurück, deren Leistungen heute neben der seinen verschwinden. Es gab damals noch keinen Kreis Gleichgesinnter und lange auch keine Möglichkeit, eine wissenschaftliche Gruppe zu versammeln oder Schüler in größerem Maß heranzubilden. Um so imposanter ist das, was schließlich erreicht wurde. Und es wurde erreicht, ohne Haschen nach äußerem Erfolg, ohne Appell an die öffentliche Meinung, ohne Scholarchenpolitik, lediglich durch die Kraft des geschriebenen Argumentes, ohne irgend eines jener Mittel, die ja so oft notwendig sind, aber dem höchsten Ideal wissenschaftlichen Arbeitens nicht entsprechen.

Die „Positive Theorie des Kapitals“ bietet, wie gesagt, eine Theorie des gesamten sozialen Wirtschaftsprozesses, trotz des auf einen engeren Inhalt deutenden Titels. Künftige Geschlechter mögen sich wie immer zu diesem eigensten Produkt seiner Kraft und zu den einzelnen Gliedern seiner Gedankenkette stellen, sie werden stets die großartigen Linien, den Zug oder Schwung des Werkes bewundern. Ganz sicher ist, daß hier das Höchste gewollt ist, was innerhalb der Nationalökonomie gewollt werden kann und daß das Erreichen innerhalb dieses Wollens zu einem Gipfel aufstieg, dem nur noch wenige benachbart sind. Mir hat sich stets der Vergleich mit Marx aufgedrängt. Daß das so befremdend klingt, kommt nur daher, daß die Glut politischer Leidenschaft den Namen von Marx umgibt, daß sein Gebäude von einem anderen Temperament umhaucht ist. Sein Name ist unzertrennlich vor allem mit sozialen Bewegungen und politischem Wollen verbunden, das ihn weiteren Kreisen sichtbar und bedeutungsvoll macht, zugleich aber seine wissenschafltiche Leistung überdeckt. Das alles fehlte bei Böhm-Bawerk. Er wollte nicht mehr sein als Forscher. Er fügt kein Wort seinem rein wissenschaftlichen Gedankengang hinzu, keines jener Worte, die sich auf diesem Gebiet so leicht darbieten. Keine sozialen oder politischen Wogen überspülen seinen Weg. Sein Werk hat keinen populären Sockel, von dem aus es zu den Massen sprechen könnte und keinen anderen Schmuck als seine klassische Form und seine innere Architektonik. Aber so verschieden die Männer, ihr Leben, ihre Anschauungen und daher in so vielen Punkten ihre Werke waren, als Forscher wollten sie wesentlich dasselbe. Und beide waren durch eine analoge Situation der Forschung ihrer Zeit und durch eine analoge Erkenntnis der fundamentalen Bedeutung des Kapitalzinsproblems gezwungen, ihr Gesamtbild der kapitalisitschen Wirtschaft vor allem an diesem zu orientieren. Beide übernahmen die werttheoretischen Grundgedanken von einem Vorgänger, wie Böhm von Menger, so Marx von Ricardo, und beide schufen etwas, dessen Größe am besten darin zum Ausdruck kommt, daß kein Gegenargument, und sei es im konkreten Angriffspunkt noch so erfolgreich, der Bedeutung des Ganzen Eintrag tun kann.

Vom Standpunkt der Technik des theoretischen Arbeitens ist das essentiell Neue an dem System Böhm-Bawerks die Bewältigung des Moments des Zeitablaufes. Nicht in dem Sinn, daß der Lauf der Jahre systematische Veränderungen am Körper der Volkswirtschaft zur Folge hat, daß es so etwas wie eine wirtschaftliche Entwicklung gibt, sondern in dem Sinn, daß das Element der Zeit im normalen Ablauf der Wirtschaft eine wesentliche Rolle spielt, alle Werte, Preise und Einkommengrößen beeinflußt. Selbstverständlich kann kein Nationalökonom jemals diese Tatsache übersehen haben, aber man wußte mit ihr nichts anzufangen, man verstand sie nicht einzuordnen in das Gleichgewichtsystem der ökonomischen Größen und man zog keine Konsequenzen daraus. In dieser Beziehung ist schon der Vorgang Ricardos typisch. Er versucht zunächst in den berühmten ersten Abschnitten seines ersten Kapitels ein Wert- und Preisgesetz darzulegen. Im vierten Abschnitt anerkennt er dann die Tatsache, daß sich das Tauschverhältnis zwischen zwei Gütern bei ungleicher Dauer von deren Produktion eben anders gestalten muß als das von ihm gerade früher entwicklete Wertgesetz angibt. Das Warum bleibt er schuldig und die Ausführung der Konsequenzen auch. Und so gut wie alle Theoretiker, bis auf Böhm, haben das nicht viel anders gemacht, sondern höchstens diesen schwachen Punkt, weniger aufrichtig und klar als Ricardo, unverändert fortgeschleppt. Im ökonomischen System klaffte eine wesentliche Lücke. Böhm-Bawerk füllte sie nun durch die Einführung von zwei Tatsachen aus, deren Entdeckung an sich ebensowenig bedeutet, wie etwa die Entdeckung der Tatsache der Beschleunigung in der Bewegung eines fallenden Körpers. Alle rein theoretischen Gebäude haben ja das eine untereinander und mit dem Drama gemeinsam, daß ihr Tatsachenmaterial überaus dürftig und an sich in der Regel ganz uninteressant ist. Ihr Erkenntniswert liegt immer darin, wie man diese dürftigen Elemente verwertet und was man mit dem darauf gebauten Gedankengang erklären kann. Niemandem war jemals unbekannt, daß man einen Gegenstand, den man gleich haben kann, höher schätzt als einen gleichartigen, der zum Beispiel in einem Jahr, und sei es mit noch so großer Sicherheit, zur Verfügung stehen wird. Diese Höherschätzung gegenwärtiger genußbereiter Güter oder Geringerschätzung künftiger Bedürfnisse ist das eine Einfallstor, das Böhm-Bawerk dem Zeitelement öffnete. Das andere ist die Tatsache, daß ein Produktionsprozeß, je länger er dauern kann, um so weniger direkt auf das gewünschte Endprodukt loszugehen braucht und um so kompliziertere „Produktionsumwege“ in Gestalt von Zwischenprodukten, Maschinen zum Beispiel, einschlagen kann, und daß er dadurch nicht nur im Verhältnis zur längeren Produktionszeit, sondern mehr als proportional dazu ergiebig wird. So wird die Länge der Produktionsperiode, welche bis zu Böhm-Bawerk einfach als ein technisches Datum und daher vom Standpunkt der ökonomischen Theorie als eine Konstante behandelt wurde, zu einer Variablen. So wurde ferner der Vorrat der Volkswirtschaft an genußreifen Gütern, dessen Größe das Einschlagen von solchen „Produktionsumwegen“ verschiedener Länge gestattet, zu einem Bestimmungsstück dieser Variablen. Dabei ist es klar, daß die Frage, wie lange dieser Subsistenzmittelvorrat jeweils vorhält, also eine wie lange Produktionsperiode einzuschlagen er gestattet, ihrerseits abhängt von der Größe der Ansprüche, die pro Zeiteinheit aus ihm zu befriedigen sind, also von der Höhe der Löhne und Grundrenten. Zugleich ist es aber auch klar, daß, wenn jeder möglichen Länge der Produktionsperiode, die jeweils eine bestimmte Produktionsmethode bedeutet, ein bestimmtes technisches Resultat der Produktion entspricht und jede solche Produktionmenge einen bestimmten Wert und Preis hat oder voraussehbar haben wird, die Rentabilitäten aller dieser Produktionsmethoden durch alle erwähnten Größen eindeutig bestimmt sind. Wenn unter den möglichen Fällen nun nach dem Prinzip größten Profits gewählt wird, so ergibt sich da nach geschehener Wahl eindeutig der Wert der Verfügung über den Subsistenzmittelvorrat, der gerade die gewählte Produktionsmethode möglich macht. So sind Lohn, Rente, Kapitalsumme, Länge der Produktionsperiode und Ergiebigkeit der Produktionsmethoden Größen, die sich gegenseitig determinieren und so erscheint der gesamte Ablauf des Wirtschaftprozesses auf einmal in einer bis dahin unerhörten Einfachheit, Klarheit und Vollständigkeit. Sein Grundprinzip ließe sich, was Böhm-Bawerk übrigens nicht getan hat, da ihm die Formen der höheren Analyse fremd waren, auf ein sehr einfaches Gleichungssystem reduzieren. Legt man, wie es die theoretische Physik tut, auf dieses Moment entscheidendes Gewicht, so müßte man geradezu sagen, daß durch Böhm-Bawerk und in etwas anderm Sinn durch Walras die Nationalökonomie überhaupt erst zu einer exakten Anforderungen genügenden Wissenschaft geworden sei.

Jede solche Leistung – um die ganz großen Analogien der theoretischen Physik zu nennen: jede Leistung von Newton bis Einstein – hat etwas von der Methode des Kolumbus-Eies an sich, und ich bin mir bewußt, daß meine Erzählung dem Laien wenig sagen kann. Aber vielleicht gelingt das etwas besser, wenn wir nun zu den unmittelbaren praktischen Resultaten dieser Auffassung übergehen.

Das Wichtigste ist natürlich die sich nun von selbst ergebende Erklärung des Zinsphänomens: Der Kapitalzins ist ein Wert- und Preisagio gegenwärtiger Genußgüter, insbesondere gegenwärtiger Subsistenzmittel von Arbeitern oder der dieselben repräsentierenden Geldsummen, das einfach daher kommt, daß die augenblickliche Verfügung darüber die Produktion größerer Quanten solcher oder irgend welcher Güter in einem künftigen Zeitpunkt möglich macht. Der Zins ist also in der Tat ein Abzug an den anderen Einkommenszweigen, insbesondere von Lohn und Grundrente, der von den Wertungen des Marktes in der Weise durchgesetzt wird, daß Arbeiter und Grundeigentümer jeweils nur den Gegenwartswert ihrer produktiven Leistungen erhalten können und in der Hand des Unternehmers die durch die bei entsprechendem Zeitablauf möglich werdenden ergiebigeren Produktionsmethoden bewirkten Wertschwellungen zurückbleiben, aus welcher sie demjenigen zufließen, der dem Unternehmer die zumn Einschlagen der ergiebigeren Produktíonsmethode nötigen Mittel bereitstellt, dem Kapitalisten. Arbeiter und Grundeigentümer bekommen also wohl den Wert des Produktes ihrer produktiven Leistungen, aber diskontiert auf die Gegenwart. Daraus folgt, daß der Kapitalzins als solcher jeder Gesellschaftsform eigen ist und daß die Wertschwellungen, aus denen er fließt, zum Beispiel auch in einem sozialistischen Gemeinwesen auftreten, wenngleich in einem solchen nicht einem privaten Kapitalisten zufließen würden.

Daraus folgt aber auch das Gesetz der Zinshöhe und nicht nur dieses, sondern auch das Gesetz der Höhe von Lohn und Grundrente. Ebensogut wie auf das Problem des Kapitalzinses hätte Böhm-Bawerk seinen Gedankengang auf das Problem des Lohnes oder der Grundrente abstellen können. Sein Gedankengang erledigt einheitlich alle Fragen der Verteilungstheorie und schiebt alle früheren Versuche als bestensfalls Stückwerk beiseite. Zum erstenmal erscheint bei ihm das gegenseitige Verhältnis von Lohn, Grundrente und Kapitalzins in einem exakten Gewand, aus dessen Falten sich eine Fülle von Einzelresultaten für jeden konkreten Fall herausschütteln lassen. Endlich ergibt sich aus dem gleichen Gedankengang das Gesetz der Wertbildung aller Einkommensträger, insbesondere von Grund und Boden und der Kapitalgüter. Auch die Beziehungen zwischen Gesamtlohnsumme, Gesamtzinssumme und Größe des Kapitals folgen daraus. Mithin auch die Beantwortung der Frage, wieweit unter gegebenen Umständen das Arbeitereinkommen sozialpolitischen Beeinflussungen zugänglich ist und welche Wirkungen eine solche Einflußnahme auf die ganze Volkswirtschaft auslöst, eine Frage, der er seine letzte Arbeit: Macht oder ökonomisches Gesetz? (1914) gewidmet hat. Und die Welt der Wertungen erscheint in seinem System zum erstemal in einer exakten Beziehung zur Welt der technischen Tatsachen des Produktionsprozesses.

So wurde mit den einfachsten Mitteln, ohne komplizierte Methoden, ein großer Sieg erfochten. In der Tat wäre wenig über Böhm-Bawerks Methoden zu sagen. Er war kein methodologischer Feinschmecker und liebte die Methodenstreitigkeiten nicht, die in der Literatur der Nationalökonomie einen so großen Raum einnehmen. Jede methodologische Ausschließlichkeit war ihm fremd. Fragen, wie die prinzipielle Möglichkeit allgemeiner Gesetze auf dem Gebiet des sozialen Geschehens haben ihn nicht tiefer beschäftigt. Er lehrte Methode durch seine Praxis. Ausbau, Nachprüfung und Vervollkommnung seines Gebäudes war fortan seine wissenschaftliche Lebensarbeit, von der er nicht wesentlich abwich. Auch seine 1896 publizierte Arbeit „Zum Abschluß des marxistischen System“, zweifellos die beste Marx-Kritik, die wir haben, gehört hierher, und die anderen Publikationen der Folgezeit dienen vor allem der Führung von Kontroversen, deren Ertrag er den späteren Auflagen seines Hauptwerkes einverleibte. Die große Leistung war getan und mit einem, den Grundsätzen psychischer Hygiene überaus glücklich angepaßten Entschluß nahm er im Jahre 1889 eine Berufung in das Finanzministerium an.

Es war keine einfache Hofratstelle, die ihm da geboten wurde, sondern eine ganz bestimmte Aufgabe: die Ausarbeitung der Vorlagen zur großen Reform der österreichischen direkten Steuern, die dann im Jahre 1896, wesentlich in der Form, die er ihnen gegeben hatte, Gesetz wurden. Bis in die Sechzigerjahre hatte der Staat finanziell – und wiederholt auch sonst – um sein Leben gekämpft. Die geistige Arbeit, die bis dahin geleistet worden war und sich in Entwürfen, Vorschlägen, Gutachten und Versuchen äußerte, war gewiß nicht verächtlich. Das praktische Resultat wurde aber immer dadurch vernichtet, daß irgend welche innerpolitische Schwierigkeiten oder außenpolitische Verwicklungen die Ansätze im Keim erstickten und zu einem steuerpolitischen Raubbau nötigten. Namentlich verfiel auf diese Weise vollständig das System der direkten Steuern. An sich war es seit Jahrhunderten auf einem relativ sehr hohen Niveau, aber das mangelnde Staatsgefühl der Bevölkerung großer Teile der Monarchie, das zu einer Art von latentem aber chronischem Steuerstreik führte, und die für die erreichte wirtschaftliche Stufe unverhältnismäßig großen Militär- und Verwaltungslasten hatten zusammengewirkt, um das Steuersystem zugleich wenig ergiebig und unerträglich zu machen. Fortwährend wurden Steuersätze erhöht, alle paar Jahre neue Steuern eingeführt, immer wieder die Praxis verschärft und durch Überspannung dieser Methode das Resultat verringert. Der Steuerbeamte in fremdnationalem Gebiet wurde von der Bevölkerung nicht viel anders betrachtet, als ein requirierender Feind, und die ungeschickte, kameralistische, schikanöse Methode, miit der sich die Bureaukratie diesem Sachverhalt gegenüber wehrte, ihre Starrheit, oft Brutalität im Kleinsten und Hilflosigkeit im Großen, machte die Dinge noch schlimmer. Nun sei es gleich gesagt: Böhm-Bawerk vermochte so wenig wie irgend ein anderer einzelner es vermocht hätte, diesen schlechten Geist zu bannen. Jahrhundertelange Verwaltungspraxis und jahrhundertelange Steuergewohnheiten lassen sich nicht in Jahrzehnten überwinden, zumal im Falle Österreichs die nationalen Schwierigkeiten auch bei geänderten Verhältnissen es zu keinem staatlichen Pflichtgefühl der Bevölkerung kommen ließen und der Krieg und die Finanzpolitik der Jahre, die ihm vorausgingen, vieles von dem gleichwohl Erreichten wieder zerstörten. Aber zurückgedrängt hat Böhm den schlechten Geist, ihm Boden entzogen und einen Zustand schaffen helfen, in dem er abgestorben wäre, wenn die Monarchie sich einer ruhigen Entwicklung hätte erfreuen können. Er hat moderne Luft in unsere Steuergesetzgebung und die Bureaus der Steuerbeamten gepreßt und mit seinem klaren Blick genau das angestrebt und legislatorisch zunächst auch erreicht, was auf diesem dunklen Hintergrund zu erreichen möglich war und dem Stand der Dinge zusagte. Die Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahre hatten die Vorbedingungen für seine Leistung eschaffen: Vor allem durch staatsrechtliche oder durch administrative Abscheidung jener Gebiete, deren Bevölkerung mit aller Kraft und unter allen Umständen der österreichischen Zentralverwaltung leidenschaftlich widerstrebte und mit denen steuerpolitisch schlechthin nichts anzufangen war. Sodann dadurch, daß die Monarchie, großen Ambitionen entsagend, sich auf sich selbst zurückgezogen hatte und so eine Zeit der Ruhe und der Kulturarbeit eingetreten war. Das hat ja wie eine Befreiung gewirkt und allen Gebieten Blüten hervorgebracht, wie denn auch ein guter Beobachter Wiens nach dem Jahre 1866 sagte: Wie nach einem siegreichen Kriege, so gehoben sähen Land und Leute aus. Weiters hat der wirtschaftliche Aufschwung, der Österreich erst zu einem kapitalistischen Land machte, die volkswirtschaftliche Basis für eine gesunde Finanzpolitik geschaffen. Und last not least, mit Dunajewski hatte Österreich auch den Mann gefunden, der diese Situation zu finanzpolitischem Erfolg zu machen wußte. Systemlos immer und brutal sehr oft, hat er doch kraftvoll das Budget in Ordnung gebracht und diese Ordnung gegen das Parlament verteidigt. Östereich war an seiner Hand endlich seit hundert Jahren wieder wo weit gekommen kein Geld zu brauchen. Damit war Währungs- und Steuerreform also, die nicht auf Erhöhung der Staatseinnahmen ausging, sondern nur auf eine gerechtere, modernere, zweckmäßigere Art der Verteilung der Lasten, holte er sich den Innsbrucker Gelehrten, der sehr bald jure naturali der leitende Mann der Steuersektion war, auch noch ehe er von Dunajewskis Nachfolger Steinbach zu deren Chef ernannt wurde.

Wissenschafltichen Interessen widmete er sich weiter, wenngleich der produktive Impuls nun einem anderen Gebiete gehörte. Er verfolgte nicht nur die Literatur, er nahm nicht nur an Kontroversen teil, er fand auch Zeit zu weiteren Detailstudien auf seinem eigensten Gebiet und wurde bald ein wichtiges Element im wissenschaftlichen Leben von Wien. Mit der Universität trat er durch eine Honorarprofessur in Verbindung und 1892 gründete er zusammen mit Plener und Inama-Sternegg die Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, die er mit dem schönen Artikel „ Unsere Aufgaben“ einleitete und in deren Seiten er eine Reihe von Arbeiten veröffentlichte. Und auch da erschöpfte nicht seinen Interessenkreis. Er war ein Meister in der Organisation des Lebens, und nichts zeigt seine Charakterstärke so klar, wie daß er kein noch so wichtiges Einzelinteresse überwuchern, sozusagen seine Sonne verdunkeln ließ. Mochte er damals oder später vor den schwierigsten Aufgaben des administrativen oder parlamentarischen Lebens stehen – und schon als Hofrat vertrat er Regierungsvorlagen im Parlament – nichts vermochte ihn daran zu hindern, am frühen Morgen ein oder zwei Stunden wissenschaftlicher Arbeit oder einen freien Nachmittag der Musik oder einen Urlaub den Bergen zu widmen, die er leidenschaftlich liebte.

Die Vorarbeiten zur Steuerreform von 1896 reichen weit zurück. Im Grunde genommen bis auf den Anfang des Jahrhunderts oder noch weiter. War sie doch die erste große Leistung auf diesem Gebiet seit der Zeit Maria Theresias, wenn wir wollen gar seit dem Censimento Milanese. Das unmittelbare Arbeitsmaterial datierte von der Zeit Pleners des Älteren. Aber die erste Regierungsvorlage war trotzdem Böhms eigene Arbeit. Sie erfuhr zahlreiche Veränderungen, die aber den Grundzug nicht berührten, namentlich durch die Arbeit mancher sachkundiger und eifriger Abgeordneter, einer Spezies, die dann sehr schnell ausstarb. Vor allem war in dem Chaos von Steuergesetzen Ordnung zu machen und eine Reihe von schreienden Mißbräuchen zu beseitigen. Deren Zentrum war die alte Erwerbssteuer, die schließlich in einen Zustand geraten war, in dem auch vom Standpunkt des pflichttreuen Beamten vom Zensiten korrektes Fatieren überhaupt nicht verlangt werden konnte und nicht verlangt wurde. Aber dann sollte Österreich überhaupt herausgeführt werden aus dem Sumpf der Steuerunmoral und veralteter Besteuerungsmethoden und endlich ein System direkter Steuern bekommen, welches modernen Anforderungen entsprach. Das letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts war eine Zeit des Aufschwunges für die Finanzsysteme und Steuerpolitik aller Länder Europas, wie es in so vieler Beziehung die letzte gute Zeit für das Gedenken des heute lebenden Menschen ist. Überall unter dem Einfluß der gleichen Ursachen – relativer Befriedigung, guter wirtschaftlicher Verhältnisse, ruhiger innerpolitischer Lagen – welche nur allzubald Krisen und all den Erscheinungen weichen sollten, in denen man heute die Schatten des kommenden Weltkrieges erkennen kann, wurde vieles in Ordnung gebracht, was lange in Unordnung gewesen und in allererster Linie die Finanzen der europäischen Staaten, deren goldenes Zeitalter das war. England sah Rekordbudgets, Frankreich tauchte aus dem Defizit auf und leistete sein Bestes unter den Finanzministern Rouvier und Poincaré, Rußland überraschte die Welt durch schöne Resultate, Italien erntete die Früchte nationaler Aufopferung und Entsagung, Deutschland schwamm in Überschüssen. Und überall zeitigte das die Tendenz, die Steuersysteme zu reinigen von den Mängeln, die eine frühere Zeit ihnen angeheftet hatte, eine Tendenz, die noch nicht gelähmt war vom Druck von im kapitalistischen System unerfüllbaren Wünschen, aber schon unter dem Einflusse sozialpolitischer Gesichtspunkte stand. Hier sollte und konnte Östereich Schritt halten. Wonach Ehrgeiz wohl hätte greifen können, wäre so etwas wie die Miquelsche Steuerreform in Preußen gewesen, die Preisgabe aller vorhandenen direkten Steuern mindestens für den Staat und ein Neubau auf Grund einer auf Steuererklärungen der Zensiten beruhenden Einkommen- und Vermögenssteuer. Gesetzestechnisch wäre das natürlich auch in Österreich ohneweiters möglich, aber ebenso sicher wäre das ein eklatanter Mißerfolg in der Praxis gewesen. Wir müssen den Blick und die Mäßigung der Leute von damals und insbesondere Böhm-Bawerks bewundern, die erkannten, daß mit der Vergangenheit nicht so schnell aufzuräumen sei, und das Pflichtgefühl, das bewußt einem im ersten Moment sicher sehr lohnenden Erfolg entsagte. Das macht die Reform von 1896 zu einem so großen Gesetzeswerk, daß sie, ohne die unabweisbaren Ideen der Zeit zu kompromittieren, doch gleichzeitig das bewährte Vorhandene schonte und dem österreichischen Milieu nichts zumutete, was nur auf dem Papier stehengeblieben wäre. Und wenn man heute, nach fast 30 Jahren, auf dieses Werk zurückblickt und es im Lichte der Erfahrungen dieser Zeit beurteilt, so kann man höchstens finden, daß es zu weit und nicht dankbar genug dafür sein, daß es nicht weiter ging. Denn ihm ist zugestoßen, was damals nicht vorausgesehen werden konnte: Daß die Prinzipien und Verwaltungspraxis des Neuen allzufrüh einer Belastungsprobe ausgesetzt werden sollten, der sie nocht nicht gewachsen waren und daß das neue Steuersystem in Hände kam, denen die Phrase des Tages mehr galt, als die Pflicht – so daß, gehandhabt vom schlimmsten Geist scheinbar überwundener Vorzeit, das wiederum zu einem volkswirtschaftlichen Gift werden konnte, was zur Entgiftung eingeführt worden war.

Die allgemeine Erwerbssteuer war von Böhm in der für östereichische Verhältnisse passenden Weise zunächst sehr weitgehend als eine Steuer nach äußeren Merkmalen gedacht worden. Das wurde dann in den parlamentarischen Ausschüssen abgeändert, aber noch immer blieb davon, damals wenigstens, ein Übergang von Unerträglichem zu Erträglichem, das in Unerträgliches wieder zurückzuverwandeln unserer Zeit vorbehalten geblieben ist. Damit wurde eine Neukodifizierung der wenig bedeutenden Renten- und Besoldungssteuer verbunden, und die Besteuerung der Aktiengesellschaften wurde in technisch sehr vollkommener Weise ausgebaut und hat sich seither als ein wertvolles Instrument der Finanzpolitik bewährt, wenngleich ein Instrument, das den Mißbrauch, zu dem es einlud, gründlich gefunden hat. Darüber wölbte sich dann der Bogen der neuen Personaleinkommensteuer, welche die Grundsätze moderner Steuergerechtigkeit und Steuerverwaltung soweit verwirklichen sollte, als es bei uns möglich war. Sie führte in vernünftiger Weise das Prinzip der Steuerprogression in unsere Steuergesetzgebung ein, sie zog den Zensiten zur Aufgabe der Steuerveranlagung heran und sie gab ihm, in Östereich zum erstenmal seit dem Absterben des alten landständischen Steuersystems im 17. Jahrhundert, eine bestimmte Rechtsstellung und wirksamen Rechtsschutz, der erst in der späteren Kriegs- und in der Nachkriegszeit versagte. Dabei ging Böhm auch nicht annähernd so weit wie die preußische Gesetzgebung. Es war das nach der Lage der Dinge auch gar nicht möglich. In einem Land, wo Bauernschaft und Kleingewerbe eine solche Rolle spielen und weite Kreise gar nicht imstande waren eine korrekte Steuererklärung zu verfassen, mußte im Veranlagungsgeschäft die Initiative des Beamten notwendig eine viel größere Rolle spielen als anderwärts. Aber die Bresche war geschlossen und bei ruhiger Entwicklung hätte man durch sie ausreichend weit vordringen können. Im einzelnen weist das Gesetz sehr viele Vorzüge auf, namentlich auch im Vergleich mit dem Miquelschen. So ist die Beschränkung der Einkommensteuer auf physische Personen nicht nur logisch richtig, sondern auch ein großer praktischer Vorzug. Die Idee ferner, das staatliche System der direkten Steuern mehr und mehr auf die Einkommensteuer zu stützen, gleichwohl in das Neue aber nicht hineinzuspringen, ehe es sich fest etabliert hatte, war sehr glücklich, die Idee nämlich, die Erträge der Einkommensteuer zu einem Großteil dazu zu verwenden, Nachlässe an den alten direkten Steuern zu gewähren, so daß diese nach und nach sich selbst eliminiert hätten. Was ökonomische und soziologische Einsicht und praktische Erfindungsgabe betrifft, hat dieses Gesetzeswerk kaum seinesgleichen in Europa.

Die große Schwierigkeit lag aber natürlich in der Durchsetzung. Auch daran hat Böhm regen Anteil genommen. Mit eiserner Energie hat er seine Minister an der Stange gehalten, unermüdlich, geschickt und schlagkräftig das, was er als richtig erkannte, im Parlament vertreten. Obgleich es in seiner Natur und in diesem Fall auch in der Natur der Sache lag, daß der äußere Erfolg anderen Namen zufiel, so kannte Österreich ihn doch als den Reformator seines Steuerwesens. Ganz von selbst, von niemandem angezweifelt, vollzog sich sein Aufstieg zu verantwortlichen Stellen. Als das Ministerium des Fürsten Windischgrätz über eine so echt österreichische Frage gestürzt und der in Aussicht genommene Nachfolger, durch dieses Ereignis überrascht, zur Bildung eines Kabinetts noch nicht bereit war, wurde das provisorische Kabinett Kielmansegg gebildet, das ein Chef schon dadurch, daß er nicht MInister, sondern nur Leiter der Ministerien bestellte, als solches charakterisierte. Böhm-Bawerk wurde die Leitung des Finanzressorts übertragen, aber für ihn wurde eine Ausnhame gemacht: Er wurde wirklicher Minister. Schon dieser Anfang charakterisiert den Mann und sein Milieu. Er ist vom Sektionschef zum Minister aufgerückt, wie er vom Hofrat zum Sektionschef aufgerückt war, auf Grund seiner fachlichen Leistungen, seiner nunmehr allgmein anerkannten Autorität. So wie er bisher keine Beziehungen zu politischen Parteien gehabt hatte, so vermied er sie auch für alle Zukunft. Er ging darin so weit, daß er bei seiner Berufung ins Herrenhaus, die 1899 erfolgte, es unterließ, sich einer Partei anzuschließen, und auch später waren es nur Beamtenkabinette, deren Mitglied er war. Das ist einer der Fälle, in denen ein bestimmtes System Kraft aus der Qualität der Männer gewinnt, die es befolgen. Schärfer kann man dieses österreichische System nicht charakterisieren, besser auch seine Vorzüge nicht hervorheben, als durch das Beispiel dieses vorzüglichen, hochbegabten und starken Mannes, der, obgleich er sich zu leitenden Stellungen berufen fühlte, dennoch einen unübersteiglichen Wall zwischen sich und politische Wirksamkeit legte.

Programmgemäß blieb das Kabinett Kielmansegg nur ganz kurz im Amte. Nach seinem Rücktritt übernahm Böhm-Bawerk die Funktion eines Senatspräsidenten beim Verwaltungsgerichtshof. Auch in dieses Amt hat er sich ganz hineingelebt, und es scheint ihn sogar ganz besonders gefesselt zu haben. Er war ein guter und energischer Vorsitzender, der durch die Beherrschung der Materie und das Gewicht seiner Persönlichkeit den Senat, dem er vorsaß, zu seinem Körper machte. Die Wendung: „Die Formulierung überlassen mir die Herrn wohl“ ermöglichte es ihm, unser Verwaltungsrecht um manche seiner schönsten Gedankengänge zu bereichern. Auch nach seiner Teilnahme an dem kurzlebigen Ministerium Gautsch (28. November 1897 bis 5. März 1898) kehrte er zum Verwaltungsgerichtshof zurück.

Zu ruhiger Tätigkeit als Finanzminister kam Böhm-Bawerk erst, als er zum drittenmal mit der Führung des Finanzressorts betraut wurde. Das war unter Koerber, vom 19. Jänner 1900 bis zum 26. Oktober 1904. Hier erst konnte er sich finanzpolitisch ausleben. Und ein glücklicher Stern gab ihm dazu ein trotz mancher Stürme kongeniales Milieu. Er hat einmal gesagt: „Ein Finanzminister muß stets bereit sein zu demissionieren und so handeln wie wenn er niemals demissionieren wollte.“ Mit unerschütterlicher Festigkeit hat er das finanzielle Interesse des Staates nach allen Seiten verteidigt, gegen Parlament, Öffentlichkeit, Heeresverwaltung und Kollegen. Es waren für Österreich Jahre wirklich horrekter, erfolgreicher, fester Finanzpolitik, wie sie dieser Staat nicht oft gesehen hatte, obgleich nichts ihm so not tat wie das , Richtige Finanzpolitik zu machen, ist überall schwer. Auch in Ländern, in denen das finanzpolitische Verständnis der Bevölkerung tief in den Knochen sitzt, in denen ein starkes National- oder Staatsgefühl die härtesten Opfer tragen läßt und der Ruf „der Staat braucht es!“ – ein unüberwindlicher Bundesgenosse ist. Aber in einem Staat, in dem das volkswirtschaftliche und finanzpolitische Verständnis auf kleinbürgerliche Vorurteile und agitatorische Phrasen beschränkt und wo einem Teile der Bevölkerung und großen Parteien jede Verlegenheit des Staates das reine Vergnügen war, da ist die Aufgabe des Finanzministers oft hoffnungslos gewesen. Es kam hinzu, daß die Regierung, deren Mitglied er war, auf keiner Partei stand und darauf angewiesen war, gerade durch Geldausgaben und große, die Staatsfinanzen belastende Pläne zu faszinieren. Vollends aber darf man nicht vergessen, daß die Beamtenregierung und die Faktoren, auf die sie sich stützte, gerade für finanzpolitische Fragen das wenigste Verständnis hatten. Es ist nicht wahr, daß das alte Österreich und seine führenden Schichten, bis in die höchsten Kreise. Argumenten und Zeitströmungen unzugänglich gewesen wären. Aber von Finanzpolitik verstanden diese Kreise wirklich nichts und daher waren sie auch immer geneigt, wie Böhm-Bawerk einmal sagte, die Finanzen zum Prügelknaben der Politik machen zu lassen. Und über alles das hat Böhm-Bawerk mehr als vier Jahre lang gesiegt. Er war erfolgreich im Parlament und seine schönen Exposés werden immer auf einem Niveau mit denen Goschens oder Poincarés geannt werden können. Den politischen Parteien und ihren führenden Persönlichkeiten ganz fremd und ohne jede Neigung irgend etwas zu tun, um sie zu gewinnen, hat er sich eine Position im Parlament errungen, eine Position, der mancher Gegner das höchste Kompliment erwies, das ein Mann dem anderen erweisen kann, nämlich den Kampf mit ihm zu scheuen – und zum Beispiel lieber zu sprechen, wenn er gerade nicht da war. Vor allem aber erwarb er von allem Anfang und behauptete er bis zum Ende jene Position im Kabinett, die einem Finanzminister in Westeuropa ipso facto zukommt, aber in Österreich erkämpft werden muß. In diesem Fall war das besonders schwierig dem lebensvollen Ministerpräsidenten gegenüber, der sich mit Vorliebe als einziger Minister fühlte. Aber für Böhm-Bawerk machte Koerber eine Ausnahme und die beiden so verschiedenen Männer wirkten in gutem Einvernehmen zusammen. Allerdings wußte Koerber, warum er in Böhm-Bawerk einen Kollegen und nicht einen Untergebenen sah, wie er es bei den anderen Ministern zu tun gewöhnt war. Er hatte in ihm nicht nur einen internationalen Namen und eine unbezweifelte Autorität, sondern auch einen idealen Partner gewonnen, der stützte und einsprang und den Minsiterpräsidenten vorzüglich ergänzte – ganz abgesehen davon, daß er für sich nie Ruhm in Anspruch nahm, sondern Lorbeeren, wenn es solche gab, gerne anderen überließ. Das zeigte sich unter anderem in den Verhandlungen über den ungarischen Ausgleich, der unter jener Regierung zum erstenmal nach langer Zeit wieder ordnungsgemäß zustandekam. Am Erfolg gegenüber den ungarischen Unterhändlern, die im Gegensatz zu den österreichischen auf etwas standen und ihre Argumente durch Macht unterstützen konnten, gebührt Böhm-Bawerk ein wesentlicher Anteil.

Er hat sich nie sein Budget zerpflücken lassen und stets die moralische Kraft gehabt, Erhöhungen laufender Ausgaben nur zu bewilligen, wenn gleichzeitig für deren Deckung Vorsorge getroffen war. So hat er zum Beispiel der populären Forderung nach Erhöhung der Diurnisten- und Dienerbezüge erst nachgegeben, als gleichzeitig durch die Fixierung der Fahrkartensteuer auf 10% die entstehende Last ausgeglichen war. Ihm war es zuzuschreibne, daß die Bahn-, Kanal- und Hafenbauten, die das politische Bedürfnis der Regierung aktuell machte, zum Teil zu Tat wurden, ohne daß Unernst der finanziellen Grundlagen die volkswirtschaftliche Leistung, die darin liegt, kompromittiert hätte. Sein eigenstes Verdienst war ferner die erfolgreiche Konversion der österreichischen Staatsrente, die infolge der von ungarischer Seite gemachten Schwierigkeiten, die ein glückliches Auskunftsmittel besiegte, eine ganz andere Leistung darstellt, als die gleiche Operation in günstiger verumständeten Ländern. Er hat Österreich fest und geschickt aus der Sackgasse der Ausfuhrprämien auf Zucker herausgeführt und die Forderungen der Heeresverwaltung im Rahmen der vorhandenen Mittel gehalten, solange es ging. Als das nicht mehr ging, demissionierte er – und so fällt aus den lebendigsten Ideen der Gegenwart ein Lichtschein auf seine Gestalt.

Dann wandte er sich wieder dem Lehramt zu. Er ließ sich zum ordentlichen Professor an der Rechtsfaktultät der Wiener Universität ernennen, las von da ab regelmäßig das ökonomische Hauptkolleg im Winter, versammelte in jedem Sommersemester seine Schüler zu Seminarübungen und hielt Heerschau über seine wissenschaftlichen Leistungen. Im Jahre 1912 übernahm er das Präsidium der Akademie der Wissenschaften, sonst trat er öffentlich nicht mehr hervor. Das ihm angebotene Gouvernement einer Wiener Großbank lehnte er ab. Und das Schicksal, das seinen Gaben so reine Entfaltung gewährt hatte, gewährte ihm auch noch die Gunst, daß er am 27. August 1914 vor dem Staate starb, an dem er mit ganzer Seele hing.