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Eugen von Böhm Bawerk (1851-1914)

Carl Menger, Nachruf auf Eugen von Böhm-Bawerk (1915)
Joseph Schumpeter, Biographie von Böhm-Bawerk (1925)
Bibliographie

Carl Menger, Nachruf auf Eugen von Böhm-Bawerk (1915)

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EUGEN VON BÖHM-BAWERK

1851-1914
(Quellen:

C. Menger, Nachruf auf Eugen von Böhm-Bawerk, »Almanach der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu Wien«, Bd. 65 (1915), erweitert um einige Anmerkungen aus J. A. Schumpeter, Das Wissenschaftliche Lebenswerk Eugen von Böhm-Bawerks, in: »Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung«, Bd. 23 (1914) und J. A. Schumpeter, Eugen von Böhm-Bawerk, in: Neue Österreichische Biographie, Bd. II, Wien 1925)

As a polemicist, he was one of the best, quick to concede his opponent’ s good points, but ever ready to destroy with dazzling displays of irrefutable logic the house of error constructed by antagonists. Surely the controversial nature of Austrian theory demanded such a skill if it were to be firmly established. (B. B. SELIGMAN)

In Politik wie in Wissenschaft bewährte sich derselbe Charakter: Dieselbe Beherrschtheit und Intensität, derselbe hohe Standard der Pflichterfüllung, der sich Untergebenen wie Schülern einprägt, dieselbe Fähigkeit, sehr scharf in Menschen und Dinge zu blicken, ohne kalt und pessimistisch zu werden, ohne Erbitterung zu kämpfen, ohne Schwäche zu entsagen – durch alle Brandungen und Stürme an einem zugleich großen und einfachen Lebensplan festzuhalten.

Böhm-Bawerk’s work in economic theory resembles that of Ricardo in both aim and method. In his case, however, the gifts of the originator were supplemented by the gifts of the critic. (J. A. SCHUMPETER)

Man kann die ganze Grundlage, auf welcher er seine Zinstheorie aufgebaut hat, ablehnen – auch ich halte die berühmten drei Gründe nicht für überzeugend, wie es überhaupt keine Empfehlung für eine Theorie ist, wenn sie zu ihrer Verteidigung solch umfangreicher Schriften bedurfte, – der Ruhm und die wissenschaftliche Bedeutung Böhms wird dadurch nicht erschüttert. (O. WEINBERGER)

Eugen v. Böhm-Bawerk wurde als Sohn des Vizepräsidenten der mährischen Statthalterei Hofrates v. Böhm am 12. Februar 1851 zu Brünn geboren, wo er auch die Volksschule und das Gymnasium absolvierte. Nach Beendigung der rechts- und staatswissenschaftlichen Studien (1) an der Wiener Universität trat er (1872) als Praktikant in den österreichischen Finanzdienst, ohne indes die nationalökonomischen Studien, für die er schon an der Universität ein besonderes Interesse gewonnen hatte, zu unterbrechen. Nachdem er (1875) an der Wiener Universität den Doktorgrad erworben hatte, setzte er (1875 bis 1877) in Heidelberg, Leipzig und Jena (unter Knies, Roscher und Br. Hildebrand) seine volkswirtschaftlichen Studien fort.(2) Im Jahre 1880 habilitierte er sich auf Grund seiner Schrift »Rechte und Verhältnisse vom Standpunkte der volkswirtschaftlichen Güterlehre« als Privatdozent der politischen Ökonomie an der Wiener Universität. Fast unmittelbar nachher wurde er an die Universität Innsbruck berufen, wo er den Lehrstuhl für politische Ökonomie einnahm.(3) 1889 legte er diese Stelle nieder und folgte einem Rufe nach Wien als Ministerialrat in das österreichische Finanzministerium. 1895 zum Finanzminister ernannt, bekleidete er dies Amt nur kurze Zeit. November 1897 bis März 1898 war er zum zweitenmal, 1900 bis 1904 zum drittenmal Finanzminister. Nach seinem Rücktritt übernahm er eine Professur der politischen Ökonomie an der Wiener Universität, wo er als geistvoller und anregender Lehrer bis zu seinem Tode wirkte.(4)

Seine unermüdliche, hervorragende politische und wissenschaftliche Tätigkeit hat seitens Seiner Majestät des Kaisers und zahlreicher wissenschaftlicher und politischer Körperschaften reichliche Anerkennung gefunden. Er war wirklicher Geheimer Rat, Mitglied des Herrenhauses des österreichischen Reichsrates, Großkreuz mehrerer hoher Orden, Besitzer des Ehrenzeichens für Kunst und Wissenschaft, wirkliches Mitglied und in der Folge (1907 bis 1911) Vizepräsident und (1911 bis 1914) Präsident der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, Ehrendoktor der Philosophie der Universität Heidelberg, Ehrenbürger der Stadt Spittal a.D. u.a.m.

Böhm-Bawerk war (seit 1880) mit Paula Freiin v. Wieser (Tochter des w. Geheimen Rates, Sektionschefs Leopold Freiherrn v. Wieser), einer Dame von hervorragenden Eigenschaften des Geistes und Gemütes, vermählt; seine Ehe blieb kinderlos.(5)

Er starb am 27. August 1914 während eines Ferienaufenthaltes zu Kramsach bei Brixlegg in Tirol im 64. Lebensjahre unerwarteterweise an einer tückischen Krankheit (an Venenthrombose). Der Verblichene wurde zunächst im Sterbeorte beerdigt, um (November 1915) von dort in das ihm von der Großkommune Wien gewidmete Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhofe überführt zu werden.

Böhm-Bawerk war von gefälliger Erscheinung, liebenswürdigen Umgangsformen und einem stets gleichmäßigen freundlichen Auftreten; seine Gesichtszüge widerspiegelten Wohlwollen, Intelligenz und ein nicht gewöhnliches Maß von Tatkraft, Eigenschaften, die ihm, in Verbindung mit großer Lebensklugheit, rasch die Zuneigung und das Vertrauen aller derjenigen erwarben, mit denen er in Berührung trat. Er gehörte zu denjenigen Personen, die stets noch ein Gutteil Eifer, Tatkraft und Wohlwollen übrig haben, um sie bereitwillig in den Dienst öffentlicher Interessen und derjenigen zu stellen, die ihrer Unterstützung bedürfen. Obzwar eine streitbare Natur und unablässig in Polemiken verwickelt, hatte er wohl zahlreiche Gegner, indes sicherlich keinen einzigen Feind.

Eine Würdigung der Leistungen Böhms, soll sie nicht dem Vorwurfe der Einseitigkeit verfallen, darf sich nicht auf seine wissenschaftlichen Publikationen beschränken. Er hat wiederholt, und zwar unter schwierigen Verhältnissen, das österreichische Finanzwesen geleitet und in dieser Funktion große und wichtige Aktionen erfolgreich durchgeführt. Seine Verdienste als Finanzminister (6) würden allein genügen, ihm einen ehrenvollen Platz in der Geschichte Österreichs zu sichern.

Mag man indes die Leistungen Böhms als Finanzminister noch so hoch veranschlagen, die Hauptaufgabe seines arbeitsamen Lebens hat Böhm in seinen wissenschaftlichen Arbeiten und im Lehrberufe gefunden, zu denen er sich immer wieder zurückgezogen fühlte und zurückkehrte, wenn er den Pflichten der verantwortungsvollen Ämter, die ihm übertragen worden waren, Genüge geleistet hatte.

Böhm hat als Gelehrter eine überaus fruchtbare literarische Tätigkeit entfaltet. Ein systematisches, das ganze Gebiet de Wirtschaftstheorie umfassendes Werk hat er indes nicht veröffentlicht. Er hat sich auf die Publikation von Monographien beschränkt, zum nicht geringen Teile von solchen, deren Thema eng begrenzt war. Er hat indes seine monographischen Untersuchungen durch den Scharfsinn und die Universalität, mit denen er an sie herantrat, zu ungewöhnlicher Bedeutung zu erheben verstanden. Bei Untersuchung des geringfügigsten Teilproblems hat er das ganze Rüstzeug seiner Belesenheit, seines Scharfsinnes und seiner Beherrschung der volkswirtschaftlichen Theorie aufgeboten, um keinen mit dem von ihm behandelten Probleme irgendwie im Zusammenhang stehende Punkt unerörtert, keinen möglichen Einwand gegen seine Ausführungen unbeantwortet zu lassen. Es ist ihm wohl hauptsächlich aus diesem Grunde von seinen zahlreichen wissenschaftlichen Gegnern vielfach übergroße, ja ermüdende Breite zum Vorwurfe gemacht worden, während seine nicht minder zahlreichen Verehrer gerade hierin, in der jedem Einwande von vornherein vorbauenden, überaus klaren und eindringlichen Darstellung, einen Hauptvorzug seiner Publikationen, zum nicht geringen Teile sogar die Erklärung des großen Erfolges derselben erkannten.

In der ersten von Böhm (1881) veröffentlichten Schrift: »Über die Rechte und Verhältnisse vom Standpunkte der nationalökonomischen Güterlehre« untersuchte er das Problem, ob die, zumal in der deutschen Nationalökonomie, vielfach festgehaltene Lehrmeinung berechtigt sei, daß neben den Sachgütern und den Arbeitsleistungen auch noch Rechte und Verhältnisse (also Forderungs-, Monopol- und Patentrechte, Firmen, Kundenkreise usf.) als eine besondere Kategorie von Gütern im ökonomischen Sinne aufzufassen seien, oder aber die Wissenschaft hier nur einem äußeren Scheine folge. Sie sind, dem Autor zufolge (S. 147), nicht an sich Güter, keine Güter im objektiven Sinne, sondern nur Beziehungen von (wirtschaftenden) Subjekten zu bestimmten Gütern und Güterkomplexen. Die Rechte und Verhältnisse, also bloße Beziehungen der Wirtschaftssubjekte zu Gütern, zugleich aber diese letzteren als Güter anzuerkennen, sei eine fehlerhafte »doppelte Komputation«. Man könne zum Beispiel nicht die »Forderung des Gläubigers« und gleichzeitig das Objekt der Forderung, das sich in den Händen des Schuldners befinde, als »Gut« in Anrechnung bringen. Die nationalökonomische Güterlehre, »der wirtschaftliche Gutsbegriff« müsse somit von dieser Kategorie von Pseudogütern gereinigt werden.

Die kleine Schrift, das Erstlingswerk Böhms, enthält eine Fülle anregender Gedanken, zumal von Problemstellungen, die für die kommende Entwicklung der Wirtschaftstheorie von ernster Bedeutung sind. Böhms Versuch einer Lösung des oben erwähnten Problems hat wegen der augenfälligen Künstlichkeit der theoretischen Konstruktion, insbesondere aber wegen des Widerspruches, in welchem Böhms Grundauffassung zur Erfahrung steht, in den Kreisen der Volkswirte nur geteilte Zustimmung gefunden.

Um so größer war der Erfolg seiner zweiten Publikation »Grundzüge der Theorie des wirtschaftlichen Güterwertes«, welche in Conrads weitverbreiteten Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik (1886) erschien.

Wer die Entwicklung der nationalökonomischen Wertlehre, zumal der Theorie des Gebrauchswertes, seit Adam Smith aufmerksam verfolgt, weiß, welchen Schwierigkeiten diejenigen Autoren begegneten, die dieser Lehre die ihr gebührende wichtige Stellung in der Wirtschaftswissenschaft zu erringen bemüht waren. Adam Smith und die Mehrzahl seiner Schüler (etwa Malthus ausgenommen!) haben die Erscheinung des Gebrauchswertes nur flüchtig, zum Teil überhaupt nicht berührt. Einzelne Autoren, die schon im XVIII., zumal aber im Beginne und bis zur Mitte des XIX. Jahrhunderts auf diese empfindliche Lücke in der Wirtschaftstheorie hingewiesen und sie zu beseitigen versucht hatten, waren unverstanden und unbeachtet geblieben. Erst seit dem Beginne der siebziger Jahre des abgelaufenen Jahrhunderts treten an voneinander weit entfernten Punkten Europas (in Österreich, England und in der französischen Schweiz) fast gleichzeitig einzelne Volkswirte, in der Folge größere und kleinere Gruppen von solchen auf, welche auf die Unzulänglichkeit der bisherigen Versuche zur Erklärung zahlreicher, und zwar, zum nicht geringen Teile, gerade der wichtigsten volkswirtschaftlichen Erscheinungen und die fundamentale Bedeutung einer Theorie des Gebrauchswertes für die wissenschaftliche Nationalökonomie in energischer Weise hinwiesen und an die Reform der Smithschen Theorien auf der Grundlage der subjektiven Wertlehre schreiten.

In diesem Kampfe der Ideen, in dem nicht nur Mißverständnis und Mißdeutung mancherlei Art, sondern vor allem das Schwergewicht des Bestehenden, des Gewohnten, zu überwinden war und zum Teil noch zu überwinden ist, war es nun, daß Böhm zunächst mit seiner Abhandlung über die »Grundzüge des wirtschaftlichen Güterwertes«, in der Folge auch in seinen späteren Schriften, in ebenso glänzender als erfolgreicher Weise für die neue Richtung der ökonomischen Wissenschaft eintrat. Böhm hat, trotzdem er in mehr als einer Rücksicht von seinen Vorgängern abweicht, wiederholt Gelegenheit genommen, den Anspruch auf Originalität seiner Auffassung der Wertlehre zurückzuweisen. Wenn indes die neue, auf der psychologischen Grundlage des Gebrauchswertes aufgebaute Wirtschaftstheorie in allen Kulturländern unablässig an Bedeutung und Verbreitung gewinnt und ihr endlicher Sieg über die unzulänglichen älteren Theorien heute kaum noch in Frage steht, so muß Böhms energischem und glänzendem Eintreten für die neue Lehre (Böhm hat in seine Darstellung der Wertlehre zahlreiche Elemente der älteren Doktrin aufgenommen!) sicherlich ein wesentlicher Anteil an diesem Erfolge zuerkannt werden.

Böhms Name war schon durch seine meisterhafte Darstellung der Wertlehre in den Kreisen seiner Fachgenossen rühmlichst bekannt geworden.

Dasjenige Werk, durch welches er seinen weit über die Grenzen Österreichs und Deutschlands reichenden Ruf als Gelehrter und Schriftsteller begründete, war indes seine Geschichte und Theorie des Kapitalzinses (zwei Bände, 1884 bis 1889). In diesem seinem Hauptwerke, in dem er das schwierige Problem einer Erklärung des Kapitalzinses zu lösen unternahm, sind alle Vorzüge der wissenschaftlichen Individualität Böhm-Bawerks, seine Gründlichkeit, Belesenheit, seine glänzende Darstellungsgabe und polemische Kraft, zur vollsten Geltung gelangt. Das ein Spezialproblem der theoretischen Nationalökonomie in zwei, schließlich (in dritter Auflage 1909 bis 1915) in drei starken Bänden von zusammen nahezu 2000 Druckseiten behandelnde Werk hat, trotz dieses für eine monographische Darstellung auf dem Gebiete der Wirtschaftstheorie ungewöhnlichen Umfanges, noch zu Lebzeiten des Verfassers drei Auflagen erfahren und allenthalben, wo wissenschaftliche Nationalökonomie betrieben wird, die ernsteste Beachtung gefunden.

Nicht die gleiche, ungeteilte Anerkennung hat der von Böhm zuerst im Jahre 1889 in einem Bande, in dritter Auflage in zwei Bänden (1909 bis 1912) veröffentlichte Versuch einer positiven Lösung des viel umstrittenen Kapitalzinsproblems gefunden. Diese Publikation ist in höherem Maße als vielleicht irgendeine andere der letzten Dezennien Gegenstand einer lebhaften wissenschaftlichen Diskussion in der nationalökonomischen Literatur aller Kulturländer, insbesondere auch derjenigen Amerikas, geworden. Ihr hauptsächlicher Inhalt kann (in möglichst strengem Anschluß an den Wortlaut des Verfassers) in folgenden Sätzen kurz zusammengefaßt werden:

Eine Anzahl teils psychologischer, teils technischer Gründe wirkt zusammen, um in der Wertschätzung der Menschen und weiterhin in den aus den Wertschätzungen resultierenden Preisen, den gegenwärtigen Gütern, jeweils einen gewissen Vorzug vor künftigen Gütern derselben Art und Zahl zu verschaffen. Die psychologischen Gründe wurzeln hauptsächlich in der Unsicherheit der Zukunft und in dem geringeren Bedacht, welchen die meisten Menschen auf die Sicherstellung der künftigen Bedürfnisse nehmen; die technischen Gründe hängen hauptsächlich mit gewissen Verhältnissen der Produktion, namentlich damit zusammen, daß die technisch ergiebigsten Produktionsmethoden diejenigen sind, bei welchen man sich weit ausholende und zeitraubende Produktionsumwege (die vorbereitende Herstellung geeigneter Zwischenprodukte, Werkzeuge, Hilfsmittel u. dgl.) gestatten kann. Insofern nun solche zeitraubende Umwege nur derjenige beschreiten kann, der schon jetzt eine genügende Geld- oder Gütersumme in der Hand hat, um die Produktionserfordernisse einer so langen Zeit zu bestreiten, gewinnt die Verfügung über gegenwärtige Gütersummen in der Produktion eine erhöhte Bedeutung, gegenüber welcher künftige Gütersummen, die jene Dienste natürlich nicht leisten können, zurückstehen müssen.

Infolge aller dieser Umstände stellt sich zwischen gegenwärtigen und künftigen Gütern ein Schätzungs- und Austauschverhältnis heraus, das regelmäßig zu Gunsten der ersteren steht, so zwar, daß zum Beispiel 100 gegenwärtige Mark oder Zentner Weizen nicht mit 100, sondern etwa 105 nächstjahrigen (im nächsten Jahr zur Verfügung oder Bezahlung gelangenden) Mark oder Zentnern Weizen gleichwertig gehalten werden.

Aus dieser Grundtatsache ergeben sich, Böhm zufolge, »der Kapitalzins und die verschiedenen Erscheinungsformen desselben«.

Die hier kurz zusammengefaßte Kapitalzinstheorie Böhm-Bawerks hat allenthalben kein geringes Aufsehen unter den gelehrten Volkswirten, und zwar nicht nur unter derjenigen hervorgerufen, von denen der Kapitalzins monographisch behandelt worden war, sondern auch unter den zahlreichen Verfassern nationalökonomischer Kompendien, Lehrbücher, Systeme usw., die ja insgesamt das Kapitalzinsproblem ex professo dargestellt hatten. Sie alle, welchen Standpunkt immer sie einnahmen, sahen sich, schon nach dem Erscheinen des ersten Bandes des Böhmschen Werkes, also bevor sie noch den Lösungsversuch des Autors kannten, einer einschneidenden Kritik ihrer Lehren gegenübergestellt. Die Spannung, mit der dem Erscheinen von Böhms positiver Theorie des Kapitalzinses entgegengesehen wurde, war unter diesen Umständen eben so begreiflich, als die reichliche Flut von Angriffen, die sich nach Erscheinen des Werkes über das Haupt des kühnen Neuerers ergoß. Dazu kam der Umstand, daß die Theorie Böhms in der Tat manchen Anhaltspunkt für eine berechtigte Kritik bot. Hervorragende Volkswirte, insbesondere Englands und Amerikas, haben Böhms Kritik der bisherigen Theorien als einseitig, seinen eigenen Lösungsversuch als künstlich und unempirisch, ja als im Widerspruch zur Erfahrung stehend bezeichnet, dabei allerdings die wichtigen Elemente der Wahrheit in der von ihnen bekämpften Theorie vielfach übersehen.

Der Wert des Böhmschen Hauptwerkes ist durch die zahlreichen Gegnerschaften, die es hervorrief, nur in geringem Maße berührt worden.(7) Was nämlich niemand anzuzweifeln vermochte, war die gewaltige Anregung und Vertiefung der nationalökonomischen Forschung, die von diesem Werke und seinem streitbaren Verfasser ausgegangen ist, die Redlichkeit von Böhms wissenschaftlichem Streben und die volle Hingabe seiner Persönlichkeit an die Förderung der Wissenschaft, in deren Dienst er sich gestellt hatte.

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Anmerkungen:

(1)
Vornehmlich äußere Gründe waren für die Wahl des juristischen Studiums und damit für systematische Bekanntschaft mit der Nationalökonomie entscheidend. So folgte die Wiener Rechtsfakultät auf das Schottengymnasium. Der österreichischen, namentlich in Beamtenfamilien gepflegten Übung entsprechend, trat er 1872 nach Ablegung der juristischen Staatsprüfungen in den niederösterreichischen Finanzdienst ein, um bald darauf in das Finanzministerium berufen zu werden, wo er sofort die Augen seiner Vorgesetzten auf sich lenkte.

(2) Anders als Marshall wurde er nicht durch das Verlangen nach Erklärung der sozialen Probleme, anders als Marx nicht durch den Willen zu reformatorischer Tat zur Wissenschaft geführt. Er wollte analysieren um des Analysierens, um des Verstehens, des Forschens selbst willen. Mit der spontanen Annahme des Mengerschen Grundgedankens, den er später in klassischer Vollkommenheit ausbauen und verteidigen sollte, wie man nur Eigenes verteidigen kann, vereinigte sich sofort der eigene große Grundgedanke. Er klingt schon in seiner ersten Arbeit an, mit der er sich im Jahre 1880 an der Wiener Universität für Nationalökonomie habilitierte und die ein Jahr darauf in etwas veränderter Gestalt publiziert wurde, aber schon in den wissenschaftlichen Wanderjahren entstanden war.

(3) In jenen Jahren stand die Nationalökonomie im Nadir ihrer Leistungen und ihres Ansehens. Der große Aufschwung der ersten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts hatte sie zur Wissenschaft gemacht und ihre Leistungen im achtzehnten Jahrhundert präzisiert, fundiert, systematisiert und entwickelt. Dann war der produktive Impuls erstorben. Weder Ricardo noch Thünen waren Nachfolger gleichen Wertes erstanden. Das Erbe verkam in den Händen einer Schar von Epigonen, deren beste – und das gilt selbst von John St. Mill – nichts anderes zu geben hatten als eine mehr oder weniger vollkommene Darstellung und Interpretation der Lehre der Meister, die vom Standpunkt eines etablierten Systems sprach. Das war um so schlimmer, als schon die ersten im Felde die neugewonneue und in ihrer Tragweite weit überschätzte Erkenntnis sofort auf wirtschafts- und sozialpolitische Fragen der Zeit angewandt und so die Wissenschaft scheinbar unzertrennlich mit einer bestimmten wirtschaftspolitischen Stellungnahme, mit dem wirtschaftlichen Liberalismus, verbunden hatten, was, an sich schon mehr als gewagt, durch den unfruchtbaren pedantischen Doktrinarismus der Nachfolger einer Zeit, die sich von diesem wirtschaftspolitischen System abwandte, vollends unerträglich wurde. So kam es, daß die Nationalökonomie damals nicht nur immer weniger den wissenschaftlichen Anforderungen der lebendigeren Geister genügen, sondern daß sie für weitere Kreise und selbst für Fachleute, deren Interesse nicht den wissenschaftlichen Grundfragen der Theorie, sondern den Fragen galt, die das Leben darbot, einfach als Werkzeugkasten liberaler Argumentation gelten konnte. Die Jugend floh die dürren Formeln, und die jüngeren Berufsgelehrten von damals nahmen sich gar nicht mehr die Mühe, in den inneren Sinn jener Doktrinen einzudringen oder an ihrer Reform zu arbeiten – sie verurteilten das »klassische System« in Bausch und Bogen und wandten sich, namentlich in Deutschland, wirtschaftsgeschichtlicher Arbeit oder sozialreformatorischen Interessen zu. Es wurde in weiten Kreisen die Auffassung sozusagen offiziell, daß es eine ökonomische Wissenschaft in dem Sinne eines Systems von allgemeingültigen Wahrheiten überhaupt nicht gäbe und daß jedes solche System bestenfalls eine Formulierung der wirtschaftspolitischen Ideen seiner Zeit sei. Das war die intellektuelle Situation, der die drei Männer gegenüberstanden, denen ein Neubau des alten Lehrgebäudes gelang: Jevons, Menger und Walras. Jede wissenschaftliche Neuerung setzt die Kraft voraus, durch dargebotene, festgewordene Denkgewohnheiten durchzubrechen, und das taten diese drei.

(4) Erst nach 1904 begann jene Tätigkeit, die uns allen unvergeßlich sein wird … und jene Reihe von Seminardiskussionen in den Sommersemestern. Außerdem las er in dieser Periode das eine, das theoretische der drei Hauptkollegien, aus denen das Curriculum der politischen Ökonomie in Österreich – wie ja auch in Deutschland – besteht. Seinerzeit, in Innsbruck, auch die beiden anderen. Er hat stets dem Drängen seiner Freunde widerstanden, jene Vorlesungen zu veröffentlichen. Wie kein anderer wäre er berufen gewesen, eine lehrbuchmäßige Darstellung der Grenzwertlehre zu geben und das hätte den wesentlichen Inhalt seiner Vorlesungen weiteren Kreisen zugänglich gemacht. Er bevorzugt keine Lieblingspartie. Er betont keine eigene Ansicht oder Leistung. Er spricht nie über die Köpfe der Zuhörer hinweg. Er leitet sie sicher und nur auf sie bedacht über die erste Etappe des Weges.

(5) Hier sei des Bündnisses gedacht, das dem sonst so sehr auf sich gestellten Mann die Lebensatmosphäre bot, die ihm als Forscher wie als Staatsmann von kaum zu definierendem Werte war, die seine Arbeit schützend und fördernd umgab und den Boden schuf für die Geradlinigkeit und Einheit seines Lebens und seiner Leistung: Im Jahre 1880 hat er sich mit der Schwester seines Freundes, Baronesse Paula von Wieser, verheiratet und bis zu seinem Tode das Glück eines Heimes genossen, wie es eine selbstlose Frauenhand schaffen kann, und eines Lebensstiles, der so glücklich und das Werk so fördernd Heiterkeit und Interessen aller Art mit den festgefügten Arbeitsstunden verwebte.

(6) Sein Name ist unzertrennlich verbunden mit fruchtbarer Gesetzgebung, mit der besten Tradition österreichischer Finanzverwaltung, mit den größten Erfolgen und der glücklichsten Zeit österreichischer Finanzpolitik. Und sein politisches Werk trägt ganz denselben Stempel wie sein wissenschaftliches. In der Wissenschaft wählte er sich die schwierigste Aufgabe unter den schwierigsten Zeitumständen ohne Rücksicht auf Beifall und Erfolg, im öffentlichen Leben bewährte er sich an der schwierigsten und undankbarsten Aufgabe der Politik, der Aufgabe, gesunde finanzielle Grundsätze zu vertreten – eine Aufgabe, die überall schwer und undankbar ist, auch dort, wo eine hochstehende öffentliche Meinung den Minister stützt, auch dort, wo er auf einer festen Parteiorganisation steht, auch dort, wo der Staatsgedanke national und der Ruf »der Staat braucht es« daher ein stets siegreicher Bundesgenosse ist, – die aber fast übermenschlich ist in Österreich. In Politik wie in Wissenschaft sind es dieselben hohen Gaben, die ihm zum Siege halfen: Dieselbe Originalität und konstruktive Kraft, derselbe klare Blick für die Wirklichkeit und das Mögliche, derselbe konstante Strom von Energie, der jeder Aufgabe gewachsen ist und ohne Zaudern, Zweifeln und Kraftverlust die Arbeit jedes Tages bewältigt, dieselbe Ruhe und dieselbe scharfe Klinge – denn der große Kontroversialist war auch ein gefürchteter Debatter, dem mancher Gegner das höchste Kompliment erwies, das ein Mann dem anderen erweisen kann, nämlich den Kampf mit ihm zu scheuen. Und in Politik wie in Wissenschaft bewährte sich derselbe Charakter: Dieselbe Beherrschtheit und Intensität, derselbe hohe Standard der Pflichterfüllung, der sich Untergebenen wie Schülern einprägt, dieselbe Fähigkeit, sehr scharf in Menschen und Dinge zu blicken, ohne kalt und pessimistisch zu werden, ohne Erbitterung zu kämpfen, ohne Schwäche zu entsagen – durch alle Brandungen und Stürme an einem zugleich großen und einfachen Lebensplan festzuhalten. So war sein Leben ein einheitliches Ganzes, der Ausdruck einer mit sich und in sich einen Persönlichkeit, die sich nie verlieren konnte, überall von selbst und ungezwungen ihre Überlegenheit bewies, – ein Kunstwerk, dessen strenge Linien eine unendliche, zarte, reservierte und sehr persönliche Liebenswürdigkeit vergoldete.

(7) Schumpeter würdigte die wissenschaftliche Leistung mit folgenden Worten: Die Theorie des sozialen Wirtschaftsprozesses entrollt sich in Böhm-Bawerks Seiten zum erstenmal als organisches Ganzes aus Wertungen und »objektiven« Tatsachen. Nirgends ist das Bild des Meisters so klar umstrahlt vom Glanz des Genies wie im letzten Abschnitt seines Werkes. Nirgends zeigt er so deutlich, was die Theorie in seiner Hand vermochte. Dabei ist es frappierend, mit welcher Sicherheit und Korrektheit er sich da essentiell mathematischer Denkformen bedient, freilich ohne je ein Symbol anzuwenden oder ihre Technik zu adoptieren. Diese Technik war ihm ja fremd. jene Denkformen hatte er nie gelernt – mit dem untrüglichen Blick des geborenen Forschers für die logischen Notwendigkeiten und die logische Symmetrie der Sache, ganz unbewußt, fand er sie selbst.

Mit diesem Blick für logische Richtigkeit und Schönheit verband er einen ebenso starken Instinkt für das Konkrete und für das, was für unsere Erkenntnis praktisch wichtig ist. Wie er nie ausglitt auf seinem Weg, so wußte er ihn auch dahin zu lenken, wo konkrete Probleme zu lösen sind, und sein Werk ist eine einzige große Anweisung auf Schätze, die mit seinen Methoden gehoben werden können. Unter anderem hat er durch die Eigenart seines Gedankengangs die Möglichkeit konkreter zahlenmäßiger Erfassung der Vorgänge der kapitalistischen Wirtschaft durch Einsetzung entsprechender Daten in die theoretischen Formen, ich will nicht sagen, uns nahegebracht, aber doch in den Bereich diskutierbarer Hoffnungen gerückt. Ich weiß nicht, ob er jemals selbst an diese Möglichkeit dachte. Geäußert hat er sich darüber meines Wissens nicht. Aber diese Möglichkeit wird einmal Wirklichkeit werden, und seine Leistung vor allem wird uns dazu geführt haben.

 

Literatur:

F. X. Weiss, Eugen von Böhm-Bawerk, in: Deutsches Biographisches Jahrbuch 1914 bis 1916, Stuttgart 1925

O.Weinberger, Eugen von Böhm-Bawerk, in: »Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik«, Bd. 53 (1925)

R.Kamitz, Eugen von Böhm-Bawerk, in: Neue Österreichische Biographie, Bd. IX, Wien 1956

E.Kauder, Eugen von Böhm-Bawerk, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, Bd. 2, New York 1968