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Soziologie und Geschichte (1929)

V. Geschichte ohne Soziologie
VI. Allgemeine Geschichte und Soziologie
VII. Soziologische Gesetze und historische Gesetze
VIII. Qualitative und quantitative Analyse in der Nationalökonomie
IX. Die Allgemeingültigkeit soziologischer Erkenntnis

VIII. Qualitative und quantitative Analyse in der Nationalökonomie

Das menschliche Handeln kann von der Soziologie nicht restlos kausal erklärt und verstanden werden; sie muß die Wertungsakte der Individuen als gegeben hinnehmen, sie vermag sie nur qualitativ, nicht aber auch in ihrem Ausmaß und demgemäß auch nicht im Ausmaß ihrer Wirkung vorauszubestimmen. Das ist jener Tatbestand, den man ungefähr im Auge hatte, wenn man die Eigenart der Geschichte in der Befassung mit dem Individuellen, mit dem Irrationalen, mit dem Leben, mit der Sphäre der Freiheit erkennen wollte.(88) Die Wertentscheidungen, die im menschlichen Verhalten hervortreten, sind für die Soziologie Daten, die sie nicht vorauszubestimmen weiß. Darum ist der Geschichte Voraussage des Kommenden versagt, und darum ist es eine Illusion, zu glauben, man könnte einmal die qualitative Nationalökonomie durch eine quantitative ersetzen oder ergänzen.(89) Die Nationalökonomie als theoretische Wissenschaft kann keine andere als qualitative Erkenntnis vermitteln; quantitative Erkenntnis kann immer nur die Wirtschaftsgeschichte ex post geben.

Die Gesellschaftswissenschaft ist in dem Sinne exakt, als sie mit begrifflicher Strenge nach einem eindeutig bestimmten und beweisbaren System strebt. Das ist die logische Exaktheit, die der Erfahrungswissenschaft erreichbar ist; es ist ein Wahn, die Erfahrungswissenschaft nach dem Muster der rein apriorischen Wissenschaften Logik und Mathematik durchwegs axiomatisch-exakt aufbauen zu wollen. Der Streit darüber, ob man sich in der Soziologie und besonders in der Nationalökonomie mathematischer Darstellungs- (506) formen bedienen soll, ist darum müßig. Die Probleme, mit denen es die Soziologie in allen ihren Teilgebieten und auch in dem der Nationalökonomie zu tun hat, bieten so außerordentliche Schwierigkeiten, daß ihnen gegenüber selbst die höchsten Aufgaben der Mathematik den Vorzug größerer Anschaulichkeit besitzen. Wer auf die Hilfe, die ihm die mathematische Denk- und Ausdrucksform bei der Bewältigung der nationalökonomischen Aufgaben bieten mag, nicht verzichten zu können glaubt, möge sich ihrer nur immer bedienen. Vestigia terrent! Die Theoretiker, die man als die Heroen der mathematischen Nationalökonomie zu bezeichnen pflegt, haben das, was sie geleistet haben, ohne Mathematik geschaffen, nachträglich haben sie ihre Gedanken mathematisch darzustellen gesucht. Bisher hat der Gebrauch der mathematischen Form in der Nationalökonomie mehr Unheil als Nutzen gestiftet. Der metaphorische Charakter der Uebertragung von – relativ anschaulicheren – Begriffen und Vorstellungen der Mechanik, die als didaktisches und mitunter auch als heuristisches Hilfsmittel gerechtfertigt sein mag, wurde mißverstanden; man ließ hier nur zu oft die jeder Analogie gegenüber erforderliche Kritik außer acht. Das, worauf es in erster Linie ankommt, ist der Ansatz, der den Ausgangspunkt für die weitere mathematische Behandlung zu liefern hat; das ansetzende Denken ist aber immer amathematisch.(90) Von der Richtigkeit des Ansatzes hängt es ab, ob die weitere mathematische Bearbeitung brauchbar sein kann oder nicht; sie könnte unter Umständen – wenn sie nämlich mathematisch, fehlerhaft wäre – von einem richtigen Ansatz zu falschen Ergebnissen gelangen, sie kann aber niemals den Fehler, der durch falschen Ansatz gemacht wurde, aufdecken. (Wenn man auf den Fehler dadurch aufmerksam wird, daß das Ergebnis nicht verifizierbar erscheint, so ist das nicht der Mathematik zuzuschreiben.)

Auch die mathematische Naturwissenschaft verdankt ihre Theorien nicht dem mathematischen, sondern dem amathematischen, dem ansetzenden Denken. Das, was der Verwendung der mathematischen Form in den Naturwissenschaften eine ganz andere Bedeutung verleiht als ihr in der Soziologie und Nationalökonomie zukommt, ist der Umstand, daß die Physik empirisch konstante Beziehungen zu ermitteln vermag, die sie in ihre Gleichungen einsetzt.(91) So wird die auf der Physik aufgebaute wissenschaftliche Technologie befähigt, gegebene Aufgaben mit quantitativer Bestimmtheit zu lösen. Der Konstrukteur vermag zu errechnen, wie eine Brücke beschaffen sein muß, (507) um eine gegebene Belastung zu ertragen. Diese konstanten Beziehungen sind in der Nationalökonomie nicht aufzuweisen. Die Quantitätstheorie z. B. zeigt, daß ceteris paribus Vergrößerung der Geldmenge zum Sinken der Kaufkraft der Geldeinheit führt; doch die Verdoppelung führt nicht etwa zum Rückgang der Kaufkraft auf die Hälfte, die Beziehung zwischen Geldmenge und Kaufkraft ist nicht konstant. Es ist ein Irrtum, wenn man glaubt, aus statistischen Untersuchungen über das Verhältnis von Angebot und Nachfrage bestimmter Waren quantitative Schlüsse auf die Gestaltung dieses Verhältnisses in der Zukunft ziehen zu können. Alles, was auf diesem Wege festgestellt werden kann, hat nur historischen Wert, wogegen z. B. die Ermittlung der spezifischen Gewichte allgemeinen Wert hat.(92)

Auch die Nationalökonomie kann in dem Sinne voraussagen, in dem diese Fähigkeit der Naturwissenschaft zugeschrieben wird. Was Vermehrung der Geldmenge für die Gestaltung der Kaufkraft bedeutet oder welche Wirkungen die Setzung von Preistaxen nach sich ziehen muß, weiß und wußte der Nationalökonom schon im voraus. Für die Nationalökonomie brachten daher die Inflationen der Kriegs- und Revolutionszeit und die in Verbindung mit ihnen erlassenen Taxgesetze keine unvorhergesehenen Folgen. Doch diesem Wissen fehlt die quantitative Bestimmtheit. Die Nationalökonomie ist z. B. nicht in der Lage zu sagen, wie groß die Nachfrageeinschränkung sein wird, mit der der Konsum auf eine quantitativ bestimmte Preissteigerung reagieren wird. Für die Nationalökonomie kommen die konkreten Wertentscheidungen der Individuen nur als Daten in Betracht. Und keine andere Wissenschaft – auch nicht die Psychologie – kann hier mehr leisten.

Gewiß, auch die Wertungen der Individuen sind kausal determiniert. Wir verstehen auch, wie sie zustande kommen. Daß wir ihre konkrete Gestaltung nicht im voraus abzusehen vermögen, liegt darin, daß wir hier auf jene Grenze stoßen, über die hinaus uns jede wissenschaftliche Erkenntnis versagt ist; das Verhältnis der Welt in uns zur Außenwelt müßte kennen, wer Wertungen und Wollen voraussagen will. Auch das hat Laplace nicht beachtet, als er von seiner Weltformel träumte.

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(88) In geistreicher Weise sucht Simmel dieser Besonderheit des Historischen in seinen Ausführungen über individuelle Kausalität Ausdruck zu verleihen. Vgl. Simmel a.a.O., S. 100 ff.

(89) Diese Illusion teilt mit vielen anderen Mitchell, Quantitative Analysis in Economic Theory (American Economic Review, Vol. XV, S. l ff.).

(90) Vgl. Dingler, Der Zusammenbruch der Wissenschaft, München 1926, S. 63 ff.; Schams, Die Casselschen Gleichungen und die mathematische Wirtschaftstheorie (Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, III. Folge, 72. Bd.), S. 386 ff.

(91) Vgl. Cairnes, Le caractère et la méthode logique de l’économie politique, traduit par Valran, Paris 1902, S. 129 ff. (Die englische Originalausgabe steht mir leider nicht zur Verfügung). Eulenburg, Sind historische Gesetze möglich? (Hauptprobleme der Soziologie, Erinnerungsgabe für Max Weber, München 1923) I. Bd., S. 43.

(92) Darum wäre es auch verfehlt, die Behauptung im Text mit dem Hinweis darauf bekämpfen zu wollen, daß die Naturwissenschaft der Soziologie das statistische Verfahren entlehnt habe und es nun ihren Zwecken dienstbar zu machen sucht.