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Soziologie und Geschichte (1929)

V. Geschichte ohne Soziologie
VI. Allgemeine Geschichte und Soziologie
VII. Soziologische Gesetze und historische Gesetze
VIII. Qualitative und quantitative Analyse in der Nationalökonomie
IX. Die Allgemeingültigkeit soziologischer Erkenntnis

VI. Allgemeine Geschichte und Soziologie

Max Weber hat nicht nur ein Programm und eine Methodenlehre der Soziologie entworfen, er hat auch selbst, neben vortrefflichen historischen Untersuchungen, umfangreiche Arbeiten veröffentlicht, die er als soziologische bezeichnete. Wir können ihnen den Anspruch auf diesen Namen freilich nicht ohne weiteres zuerkennen. Das ist beileibe nicht etwa eine abfällige Kritik. Die Untersuchungen, die Max Webers nachgelassenes Hauptwerk »Wirtschaft und Gesellschaft« vereinigt, gehören zu dem Besten, was das deutsche wissenschaftliche Schrifttum der letzten Jahrzehnte hervorgebracht hat. Doch sie sind in ihren wichtigsten Teilen nicht soziologische Theorie in unserem Sinne. Sie sind auch nicht Geschichte in dem allgemein gebräuchlichen Sinn des Ausdrucks. Die Geschichte bringt uns die Geschichte e i n e r Stadt oder die der deutschen Städte oder die der mittelalterlichen Städte Europas. Sie kennt aber nichts, was gleich dem meisterhaften Kapitel in Webers Werk einfach von »der Stadt« im allgemeinen handelt, eine allgemeine Lehre von der städtischen Siedlung, zu allen Zeiten und bei allen Völkern, die idealtypische Konstruktion der Stadt an sich. Für Weber, der die auf allgemeingültige Begriffe und ausnahmslos geltende Sätze hinarbeitende Wissenschaft nicht gesehen hat, war das Soziologie. Wollten wir uns diesem Sprachgebrauch fügen und für das, was wir unter Soziologie verstehen, einen anderen Namen suchen, dann würden wir eine heillose Verwirrung stiften, Wir müssen also schon bei unserer Unterscheidung bleiben und trachten, dem, was Weber als Soziologie angesehen hat, einen anderen Namen zu geben. Am zweckmäßigsten wäre da vielleicht die Bezeichnung: Allgemeine Lehren der Geschichte oder kürzer Allgemeine Geschichte. Der Umstand, daß man als allgemeine Geschichte gewöhnlich Darstellungen der Geschichte aller Zeiten und Völker bezeichnet, muß uns daran nicht hindern. Denn solche Darstellungen können nicht anders vorgehen, als daß sie an die Darstellung des Verlaufes in einem Kulturkreise oder bei einem Volke die Darstellung des Verlaufes bei einer, anderen historischen Individualität reihen. All- (497) gemeine Geschichte in diesem Sinne ist mithin nur die Bezeichnung für eine Reihe von Arbeiten, die durch die Einreihung ihren ursprünglichen Charakter und ihre Selbständigkeit nicht einbüßen. Allgemeine Geschichte in unserem Sinn – Soziologie in Webers Sinn – wäre die Heraushebung und Sonderbearbeitung der von der Geschichte verwendeten idealtypischen Konstruktionen. Es entspräche das ungefähr, aber doch nur ungefähr, dem, was Bernheim in seiner thematischen Einteilung des Arbeitsfeldes der Geschichte als Universalgeschichte bezeichnet. Bernheim stellt nämlich der spezialisierten Geschichte die allgemeine Geschichte gegenüber, innerhalb der er zwei Gruppen unterscheidet: »1. Universalgeschichte oder Kulturgeschichte im weiteren Sinne, auch Weltgeschichte genannt: die Geschichte der Menschen in ihren Betätigungen als soziale Wesen, zu allen Zeiten und an allen Orten, im einheitlichen Zusammenhang der Entwicklung. 2. Allgemeine Staatengeschichte, auch Weltgeschichte und früher auch Universalgeschichte genannt: eine kompendiumartige Aneinanderreihung der Geschichte aller namhaften Völker«.(73) Daß es natürlich auf die Terminologie gar nicht, sondern nur auf die logisch-begriffliche Scheidung ankommt, braucht wohl nicht besonders hervorgehoben zu werden.

In der Ethnologie wären ähnlich allgemeine und besondere Ethnologie zu sondern.

Analog liegen die Dinge in der Bearbeitung wirtschaftlicher Probleme. Zwischen der nationalökonomischen Theorie auf der einen Seite und der Wirtschaftsgeschichte und der Wirtschaftsbeschreibung oder Wirtschaftskunde, die ja auch immer Wirtschaftsgeschichte sein muß, auf der anderen Seite liegt die Allgemeine Wirtschaftskunde, die der Sonderbearbeitung der von der Wirtschaftsgeschichte verwendeten idealtypischen Konstruktionen dient.

In der konkreten wissenschaftlichen Arbeit und in ihrer Darstellung für die Oeffentlichkeit werden die Grenzen zwischen diesen Gebieten nicht immer beachtet; es besteht auch kein Bedürfnis nach solcher Sonderung; der schaffende Geist bringt, was er zu geben hat, und wir danken es ihm. Doch auch wer die Grenzen, die die einzelnen Fächer sondern, nie zu überschreiten gedenkt, muß wissen, was jenseits der Grenzen vorgeht. Kein Soziologe kann die Geschichte, kein Historiker die Soziologie entbehren.

Der Historismus hat die historische Methode als die allein für die Behandlung der den Wissenschaften vom menschlichen Handeln gesetzten Probleme zulässige und angemessene erklärt; eine theoretische Wissenschaft vom menschlichen Handeln hielt ein Teil der Vertreter des Historismus überhaupt für unmöglich; andere wollten für eine ferne Zukunft, die über reichere historische Vorarbeiten verfügen wird, die Möglichkeit nicht ganz bestreiten. Die Gegner des Historismus haben natürlich niemals die Berechtigung, logische Zulässigkeit und Ersprießlichkeit der historischen Arbeit bestritten; im Methodenstreit wurde niemals die Geschichte, stets nur die Theorie in Frage (498) gestellt. Vom wirtschaftspolitischen Standpunkte betrachtet, lag der verhängnisvolle Irrtum des Historismus in der Ablehnung der Theorie; das war ja auch der Sinn des Angriffes gegen die Theorie, bei dem es sich darum handelte, wirtschaftspolitische Ideen, die der Prüfung an der Hand der Wissenschaft nicht standhalten konnten, vor unliebsamer Kritik zu schützen. Vom Standpunkte der Wissenschaft betrachtet, wog schwerer als der Irrtum, man könne Geschichte (und Wirtschaftskunde) ohne Theorie betreiben, die Verkennung der Wahrheit, daß jede historische Untersuchung und jede Beschreibung gesellschaftlicher Zustände theoretische Begriffe und Kausalsätze voraussetzen. Die dringendste Aufgabe der Logik der Geschichtswissenschaft ist die Bekämpfung dieses Irrtums.

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(73) Vgl. Bernheim a. a. O., S. 53. Kracauer (a. a. O., S. 24 ff.) spricht von vergleichender Gesellschaftsgeschichte und vergleichender Kulturgeschichte.