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Soziologie und Geschichte (1929)

Einleitung
I. Das methodologische und das logische Problem
II. Der logische Charakter der Geschichtswissenschaft
III. Idealtypus und soziologisches Gesetz
IV. Die Wurzel der Irrtümer über den logischen Charakter der Nationalökonomie

IV. Die Wurzel der Irrtümer über den logischen Charakter der Nationalökonomie

Die nationalökonomische Theorie ist wie jede Theorie und jede Wissenschaft in dem Sinne rationalistisch, als sie das Erfahrungsmaterial mit den Mitteln der Vernunft – ratio – bearbeitet. Wissenschaft ohne Vernunft, was könnte das wohl sein? Man mag immerhin metaphysische Begriffsdichtung gegen wissenschaftliche Kritik und Intuition gegen diskursives Denken auszuspielen suchen, doch das heißt eben die Wissenschaft als solche ablehnen.

Die Ablehnung der Wissenschaft, des wissenschaftlichen Denkens und mithin des Rationalismus ist keineswegs das, als was man sie ausgeben wollte, eine Forderung des Lebens; sie ist ein Postulat, das (485) Eigenbrötler und Snobs, voll von Ressentiment gegen das Leben, ersonnen haben. Wohl kümmert sich das Weltkind nicht um die graue Theorie; doch die Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeit, die sich in Verbesserung der technischen Ausrüstung des Menschen im Kampfe um Hebung seines äußeren Reichtums umsetzen lassen, werden vom Leben gierig aufgenommen. Daß manche von denen, deren Erwerb die Wissenschaft ist, in dieser Beschäftigung keine innere Befriedigung zu finden vermögen, ist kein Argument für die Abschaffung der Wissenschaft.

Die Richtung, die sich in der Gesellschaftslehre, besonders in der Nationalökonomie, und in den historischen Wissenschaften um das Banner des Antirationalismus schart, will aber gar nicht die Wissenschaft abschaffen.. Sie will in Wahrheit ganz anderes. Sie will einerseits in die einzelnen wissenschaftlichen Gedankengänge Argumente und Behauptungen einschmuggeln, die der Kritik nicht standhalten können, und anderseits wieder Sätze, denen sie kritisch nicht beizukommen vermag, ohne sachliche Kritik aus dem Wege räumen. Meist handelt es sich dabei um ein Entgegenkommen an die Absichten und Ideen von politischen Parteien; es ist aber nicht allzu selten, daß einfach der Wunsch eines für wissenschaftliche Leistung Minderbegabten im Spiele ist, der um jeden Preis irgendwie auffallen möchte. Nicht jeder ist dabei so ehrlich, das wahre Motiv – es sei kein Vergnügen, sein ganzes Leben im Schatten eines Größeren zu stehen – offen zuzugeben.(48)

Wenn jemand für nationale Autarkie eintritt, sein Volk vom Verkehr mit den übrigen Völkern abschließen will und bereit ist, alle materiellen und ideellen Folgen solcher Politik zu tragen, um das angestrebte Ziel zu erreichen, dann ist das eine Wertung, die man als solche mit rationalistischen Argumenten nicht zu widerlegen vermag. Doch so pflegen die Dinge eben nicht zu liegen. Die Massen könnten vielleicht bewogen werden, kleine Opfer zugunsten der Autarkie zu bringen, sie werden aber kaum jemals dafür zu haben sein, große Opfer für ein derartiges Ideal zu bringen. Es ist nun einmal so, daß nur die Literaten für Armut, nämlich für Armut der anderen, schwärmen, die übrigen Menschen aber Wohlstand der Not vorziehen. Da man nun mit dem Argument, die Erreichung dieses oder jenes Literatenideals sei auch um den Preis beträchtlicher Senkung des allgemeinen Wohlstandes nicht zu teuer erkauft, kaum mit Aussicht auf Erfolg vor die Oeffentlichkeit treten kann, muß man zu beweisen suchen, daß die Erreichung nur unbeträchtliche oder gar keine materiellen Opfer auferlege, ja, daß sie selbst noch besonderen materiellen Gewinn bringe. Um solche Beweise zu führen, um zu beweisen, daß Beschränkung des Handels und des Verkehrs mit dem Auslande, daß Verstaatlichungen und Verstadtlichungen, daß selbst Kriege »überdies auch noch ein gutes Geschäft« sind, muß man in den Gedankengang irrationale Glieder einzufügen suchen, weil es eben nicht möglich ist, derartige Dinge mit den rationalen nüchternen Argumenten (486) der Wissenschaft zu beweisen. Daß die Verwendung irrationaler Elemente im Zuge einer Argumentation unzulässig ist, ist klar. Irrational, d. h. einer rationalen Rechtfertigung weder bedürftig noch auch fähig, sind die Ziele; was bloß Mittel zu Zielen ist, muß immer rationaler Ueberprüfung unterworfen werden.

Allgemein verbreitet – und übrigens im Hinblick auf die Entwicklung der Doktrinen entschuldbar, wenn auch darum um so gefährlicher – ist der Irrtum, der »rationales« Handeln mit dem »richtigen« Handeln identifiziert. Max Weber hat diese Verwechslung ausdrücklich abgelehnt, (49) wenn er ihr auch, wie wir gesehen haben, an anderen Stellen seiner Schriften immer wieder verfallen ist.

»Die Grenznutzenlehre«, sagt Max Weber, »behandelt … menschliches Handeln so, als liefe es von A bis Z unter der Kontrolle kaufmännischen Kalküls: eines auf der Kenntnis aller in Betracht kommender Bedingungen aufgestellten Kalküls, ab«.(50) Das ist gerade das Verfahren der klassischen Nationalökonomie, keineswegs aber das der modernen Nationalökonomen. Der klassischen Nationalökonomie blieb, weil es ihr nicht gelungen war, die scheinbare Antinomie des Wertes zu überwinden, kein anderer Ausweg übrig als der, von dem Handeln des Kaufmanns auszugehen. Sie konnte auf das, was hinter dem Verhalten des Kaufmanns und Unternehmers steht und es in letzter Linie beherrscht und leitet, auf das Verhalten der Verbraucher, nicht zurückgehen, weil sie mit dem Gebrauchswert, den sie nicht in objektiven und subjektiven Gebrauchswert zu spalten wußte, nichts anfangen konnte. Was nicht durch kaufmännische Rechnungen und Bücher durchgeht, war ihr unerreichbar. Schränkt man aber die Betrachtung auf das kaufmännische Verhalten ein, dann muß man recht wohl zwischen kaufmännisch richtigem und kaufmännisch unrichtigem Verhalten unterscheiden. Denn als Kaufmann – nicht auch in seiner Eigenschaft als Verbraucher – hat der Unternehmer als gegebenes Ziel: höchste Geldrentabilität des Unternehmens.

Die moderne Nationalökonomie geht aber nicht vom Verhalten des Kaufmanns aus, sondern von dem des Verbrauchers, von dem jedermanns. Für sie gibt es daher – darin liegt eben ihr »Subjektivismus« im Gegensatz zum »Objektivismus« der Klassiker und darin liegt zugleich auch ihre »Objektivität« im Gegensatz zur normativen Stellung der Klassiker – weder richtiges noch unrichtiges Verhalten der Wirtschafter. Ob jemand gesunde Kost vorzieht oder narkotische Gifte, ob jemand von unter dem Gesichtspunkt einer ethisch oder sonstwie wertenden Betrachtung noch so verkehrten Anschauungen beherrscht wird, kann sie nicht kümmern. Denn sie hat doch die Preisbildung des Marktes zu erklären; sie hat zu erklären, wie die Preise wirklich werden, nicht wie sie werden sollten. Die Alkoholgegner sehen im Genuß geistiger Getränke einen grandiosen Mißgriff der Menschheit, den sie auf Irrtum, Charakterschwäche, Unmoral zurückführen. Für die Katallaktik gibt es nur die Tatsache, daß Alkohol be- (487) gehrt wird; wer den. Preis des Branntweins zu erklären hat, den kümmert es nicht, ob es »rationell« oder sittlich ist, Branntwein zu trinken. Ich mag über Kinodramen denken wie ich will; als Katallaktiker habe ich die Gestaltung der Marktpreise für Filmdarsteller und Lichtspieltheater zu erklären, nicht über Filme zu Gericht zu sitzen. Ob die Verbraucher irren oder nicht, ob sie edel, großmütig, sittlich, weise, vaterlandsliebend, kirchengläubig sind oder nicht, prüft die Katallaktik nicht; sie kümmert sich nicht um die Beweggründe der Handelnden, sondern nur darum, wie sie handeln.

Die moderne subjektivistische Nationalökonomie – die Grenznutzenlehre – nimmt die alte Lehre von Angebot und Nachfrage wieder auf, die man ob der Unfähigkeit, die Wertantinomie zu lösen, einst hatte aufgeben müssen, und vertieft sie. Wenn man, wie die moderne Lehre, den Sinn der Marktpreisbewegungen dahin versteht, daß Ruhe erst eintritt, bis Gesamtnachfrage und Gesamtangebot sich decken, so ist es klar, daß alle Momente, die das Verhalten der Marktparteien beeinflussen, mithin auch die »außerwirtschaftlichen« und »irrationalen« wie Irrtum, Liebe oder Haß, Sitte, Gewohnheit, Edelmut, miteingeschlossen sind.

Wenn, daher Schelting behauptet, die theoretische Nationalökonomie »fingiert eine Gesellschaft, welche allein durch das Wirken wirtschaftlicher Faktoren sich gebildet hat«,(51) so trifft das, wenn man den Ausdruck »wirtschaftliche Faktoren« im Sinne Scheltings auffaßt, für die moderne Nationalökonomie nicht zu. Daß auch Menger und Böhm-Bawerk sich über diese logische Grundlage der von ihnen begründeten Lehre nicht ganz klar geworden sind, daß erst später die volle Tragweite des Ueberganges vom werttheoretischen Objektivismus zum Subjektivismus, erkannt wurde, habe ich schon früher einmal zu zeigen gesucht.(52)

Nicht minder unzutreffend ist es, wenn man – der allgemein unter den Anhängern der historisch-realistischen Schule herrschenden Auffassung folgend – behauptet, »die weiteren wichtigsten Fiktionen der abstrakten Theorie sind die ‚freie Konkurrenz‘ und die absolute Bedeutungslosigkeit der staatlichen und anderen geltenden Ordnungen für den Verlauf des wirtschaftlichen Zusammenhandelns der Wirtschaftssubjekte«.(53) Das trifft auch für die klassische Nationalökonomie nicht zu. Daß die moderne Theorie dem Problem des Monopolpreises zu wenig Beachtung geschenkt hätte, wird wohl kaum jemand behaupten wollen. Der Fall der beschränkten Konkurrenz auf der Käufer- oder auf der Verkäuferseite stellt der Theorie keine besondere Aufgabe; sie hat es immer nur mit den auf dem Markte auftretenden und wirkenden Subjekten zu tun; von denjenigen, die auf den Markt noch kommen könnten, wenn nicht irgendwelche Faktoren sie zurückhalten würden, ist eben nichts anderes auszusagen, als daß (488) ihr Hinzutreten die Marktlage verschieben würde. Die Theorie – und auch dies gilt von der klassischen ebenso wie von der modernen – fingiert auch nicht »die absolute Bedeutungslosigkeit der staatlichen und anderen geltenden Ordnungen«; sie widmet diesen »Eingriffen« sehr eindringliche Untersuchungen und stellt eine besondere Theorie der Preistaxen und des Interventionismus auf.

Auch Mitscherlich behauptet, die Grenznutzenlehre sei »am stärk sten auf die freie Wirtschaft zugeschnitten«. Das Mittelalter hätte sich daher in sie »überhaupt nicht hineindenken können«, sie wäre da »gegenstandslos« gewesen. »Was«, meint er, »hätte wohl das Mittelalter zu der Aufstellung eines Karl Menger gesagt, wenn er ausführt: Als Maß der Schätzung dient derjenige letzte Intensitätsgrad des Bedürfnisses, der durch den gegebenen Vorrat noch befriedigt werden kann: der Grenznutzen«.(54) Man darf vermuten, daß das Mittelalter die moderne Preistheorie ebensowenig begriffen hätte wie die Newtonsche Mechanik oder die modernen Auffassungen von der Funktion des Herzens. Dennoch fielen im Mittelalter die Regentropfen nicht anders nieder als heute, und die Herzen schlugen auch nicht anders. Wenn die mittelalterlichen Menschen das Grenznutzengesetz auch nicht verstanden hätten, so haben sie doch nicht anders gehandelt und handeln können als so, wie es das Grenznutzengesetz beschreibt. Auch der Mensch des Mittelalters hat die ihm zur Verfügung stehenden Mittel so zu verteilen gesucht, daß er in jeder einzelnen Bedürfnisgattung das gleiche Niveau der Befriedigung erreichte. Auch im Mittelalter hat der Reichere sich vom Aermeren nicht nur dadurch unterschieden, daß er mehr gegessen hat. Auch im Mittelalter hat niemand freiwillig ein Pferd gegen eine Kuh im Tausche hingegeben, wenn er nicht die Kuh höher schätzte als das Pferd. Auch damals haben die Eingriffe der Obrigkeit und anderer Zwangsgewalten keine anderen Wirkungen nach sich gezogen als die, die die moderne Lehre von den Preistaxen und Interventionen zeigt.

Wenn gegen die moderne nationalökonomische Theorie eingewendet wird, daß »notwendig ihr Grundschema die Wirtschaft der freien Konkurrenz« bilde, daß sie aber »die organisierte Wirtschaft der Gegenwart, die Wirtschaft des geregelten Wettbewerbs« und die »gesamte Erscheinung des Imperialismus« theoretisch nicht erfassen könne,(55) so genügt es, einfach darauf hinzuweisen, daß dasjenige, was den Kampf gegen die Theorie historisch ausgelöst hat und was ihm seine Hartnäckigkeit und seine Volkstümlichkeit gegeben hat, der Umstand ist, daß gerade vom Boden der Theorie aus, und nur von ihm aus, eine genaue Beurteilung der Wirkungen sowohl jeder einzelnen interventionistischen Maßnahme als auch der Gesamterscheinung des Interventionismus in jeder seiner historischen Gestaltungen möglich ist. Es heißt die geschichtlichen Tatsachen geradezu auf den Kopf (489) stellen, wenn man behauptet, die historische Schule lehne die Theorie ab, weil die Theorie nicht imstande gewesen wäre, die geschichtliche Erscheinung des Interventionismus zu erklären; in Wahrheit hat sie sie gerade darum abgelehnt, weil man vom Boden der Theorie aus zu einer Erklärung gelangen mußte, diese Erklärung aber einerseits den Anhängern der Schule politisch nicht genehm war, anderseits aber auch von ihnen nicht widerlegt werden konnte. Daß die moderne Theorie die Erscheinung des Imperialismus theoretisch nicht erfaßt hätte, kann nur behaupten, wer »theoretisch erfassen« mit »kritiklos verherrlichen« gleichsetzen will.

Uebrigens wird wohl niemand, der die wirtschaftspolitischen Erörterungen der letzten Jahre auch nur mit einiger Aufmerksamkeit verfolgt hat, bestreiten können, daß alles, was zur Aufhellung der Probleme, die man als »gebundene« Wirtschaft bezeichnet, geschehen ist, ausschließlich mit den Mitteln der »reinen« Theorie von Theoretikern geleistet wurde; man denke doch nur, um von den Währungsproblemen und vom Monopolpreis ganz zu schweigen, an die Erörterungen über die Ursache der Arbeitslosigkeit als Dauererscheinung und an die Erörterung der Probleme des Protektionismus.(56)

Drei Voraussetzungen, meint Weber, liegen der abstrakten Wirtschaftstheorie zugrunde: tauschwirtschaftliche Gesellschaftsorganisation, freie Konkurrenz und streng rationales Handeln.(57) Von der freien Konkurrenz und dem streng rationalen Handeln haben wir schon gesprochen. Für die dritte Voraussetzung sei einerseits auf den Ausgangspunkt aller Untersuchungen der modernen Schule, auf die isolierte tauschlose Wirtschaft, die man als Robinsonade lächerlich zu machen gesucht hat, verwiesen, anderseits aber auf die Untersuchungen über die Wirtschaft des gedachten sozialistischen Gemeinwesens.

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(48) Von einem Fall, in dem das offen zugegeben wurde, berichtet Freud, Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung (Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre, 4. Folge, 2. Auflage, Wien 1922) S. 57.

(49) Vgl. Max Weber, Wissenschaftslehre, a. a. O., S. 503.

(50) Ebendort S. 370.

(51) Vgl. Schelting a. a. O., S. 721.

(52) Vgl. Mises, Bemerkungen zum Grundproblem der subjektivistischen Wertlehre, a. a. O., S. 36 ff.

(53) Vgl. Schelting a.a. O., S. 721.

(54) Vgl. Mitscherlich, Wirtschaftswissenschaft als Wissenschaft (Schmollers Jahrbuch, 50. Jahrgang) S. 397.

(55) Vgl. Salin , Geschichte der Volkswirtschaftslehre, 2. Auflage, Berlin 1929, S. 97 f.

(56) Vgl. Heckscher a. a. O., S. 525.

(57) Vgl. Weber , Wissenschaftslehre a. a. O., S. 190.









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