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Soziologie und Geschichte (1929)

Einleitung
I. Das methodologische und das logische Problem
II. Der logische Charakter der Geschichtswissenschaft
III. Idealtypus und soziologisches Gesetz
IV. Die Wurzel der Irrtümer über den logischen Charakter der Nationalökonomie

III. Idealtypus und soziologisches Gesetz

Als »Ausgangspunkt des sozialwissenschaftlichen Interesses« erscheint Max Weber »die wirkliche, also individuelle Gestaltung des uns umgebenden sozialen Kulturlebens in seinem universellen, aber deshalb nicht minder individuell gestalteten Zusammenhange und in seinem Gewordensein aus anderen, selbstverständlich wiederum individuell gearteten, sozialen Kulturzuständen heraus«.(11) Wo immer aber »die kausale Erklärung einer ‚Kulturerscheinung’ – eines ‚historischen Individuums’, . . . – in Betracht kommt, da kann (72) die Kenntnis von Gesetzen der Verursachung nicht Zweck, sondern nur Mittel der Untersuchung sein. Sie erleichtert und ermöglicht uns die kausale Zurechnung der in ihrer Individualität kulturbedeutsamen Bestandteile der Erscheinungen zu ihren konkreten Ursachen. Soweit und nur insoweit sie dies leistet, ist sie für die Erkenntnis individueller Zusammenhänge wertvoll. Und je ‚allgemeiner’, d. h. abstrakter, die Gesetze, desto weniger leisten sie für die Bedürfnisse der kausalen Zurechnung individueller Erscheinungen und damit indirekt für das Verständnis der Bedeutung der Kulturvorgänge«.(12) Max Weber stellt »Historiker und Sozialforscher« in eine Reihe; beider Aufgabe ist »Erkenntnis der Kulturwirklichkeit«.(13) Darum ist ihm auch das logische und methodologische Problem in Soziologie und Geschichte das gleiche; es lautet: »welches ist die logische Funktion und Struktur der Begriffe, mit der unsere, wie jede, Wissenschaft arbeitet, oder spezieller mit Rücksicht auf das entscheidende Problem gewendet: welches ist die Bedeutung der Theorie und der theoretischen Begriffsbildung für die Erkenntnis der Kulturwirklichkeit«.(14)

Max Weber beantwortet diese Frage dahin, daß er »in der abstrakten Wirtschaftstheorie« einen »Spezialfall einer Form der Begriffsbildung, welche den Wissenschaften von der menschlichen Kultur eigentümlich und in gewissem Umfange unentbehrlich ist«, erkennt; wir hätten hier »ein Beispiel jener Synthesen vor uns, welche man als Ideen historischer Erscheinungen zu bezeichnen pflegt«.(15) Es ist das die Schaffung eines »Gedankenbildes«, das »bestimmte Beziehungen und Vorgänge des historischen Lebens zu einem in sich widerspruchslosen Kosmos gedachter Zusammenhänge« vereinigt. Wir veranschaulichen uns die Eigenart dieses Zusammenhangs pragmatisch, indem wir einen »Idealtypus« konstruieren.(16) Der Idealtypus »wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbilde«.(17) Für Max Weber steht mithin »die abstrakte Wirtschafts- (73) theorie«, die, seiner Auffassung nach, »ein Idealbild der Vorgänge auf dem Gütermarkt bei tauschwirtschaftlicher Gesellschaftsorganisation, freier Konkurrenz und streng rationalem Handeln« bietet,(18) logisch in einer Linie mit »der Idee der ‚Stadtwirtschaft’ des Mittelalters« oder mit der »Idee des Handwerks« (19) oder mit Begriffen »wie etwa: Individualismus, Imperialismus, Merkantilismus, konventionell und zahllosen Begriffsbildungen ähnlicher Art, mittels deren wir uns der Wirklichkeit denkend und verstehend zu bemächtigen suchen«.(20) Man könne diese Begriffe nicht »ihrem Inhalt nach durch ‚voraussetzungslose’ Beschreibung irgendeiner konkreten Erscheinung oder aber durch abstrahierende Zusammenfassung dessen, was mehreren konkreten Erscheinungen gemeinsam ist«, bestimmen.(21) Sie seien Formen des »Idealtypus«, der der Geschichte und der Soziologie, kurz aller Kulturwissenschaft, eigentümlichen Art der Begriffsbildung.

Soziologie und Geschichte sind aber auch in Webers Auffassung nicht identisch. Die Soziologie »bildet Typenbegriffe und sucht generelle Regeln des Geschehens«, wogegen die Geschichte »die kausale Analyse und Zurechnung individueller, kulturwichtiger Handlungen, Gebilde, Persönlichkeiten erstrebt . . . Wie bei jeder generalisierenden Wissenschaft bedingt die Eigenart ihrer Abstraktionen es, daß ihre Begriffe relativ inhaltsleer sein müssen. Was sie dafür zu bieten hat, ist gesteigerte Eindeutigkeit der Begriffe. Diese gesteigerte Eindeutigkeit wird durch ein möglichstes Optimum von Sinnadäquanz erreicht, wie es die soziologische Be-griffsbildung erstrebt«.(22) Der Unterschied zwischen Soziologie und Geschichte ist mithin ein Gradunterschied. Das Erkenntnisobjekt ist bei beiden identisch, beide arbeiten mit derselben Art logischer Begriffsbildung; sie sind nur durch den Grad der Wirklichkeitsnähe, der Inhaltsfülle und der Reinheit ihrer idealtypischen Konstruktionen verschieden. Max Weber hat mithin die Frage, die einst den Inhalt des Methodenstreites gebildet hatte, implizite ganz im Sinne jener beantwortet, die das logische Recht der theoretischen Sozialwissenschaft bestritten haben; sozialwissenschaftliche Forschung ist ihm nur als besonders qualifizierte Art historischer Forschung logisch denkbar. Doch die Theorie, die er kennt und ablehnt, ist nicht die, die (74) Walter Bagehot und Carl Menger im Auge hatten, als sie gegen die Wissenschaftslehre der historischen Schule der Volkswirte auftraten. Das, woran Max Weber denkt, ist etwas ganz anderes. Er will uns beweisen »die Sinnlosigkeit des selbst die Historiker unseres Faches gelegentlich beherrschenden Gedankens, daß es das, wenn auch noch so ferne, Ziel der Kulturwissenschaften sein könne, ein geschlossenes System von Begriffen zu bilden, in dem die Wirklichkeit in einer in irgendeinem Sinne endgültigen Gliederung zusammengefaßt und aus dem heraus sie dann wieder deduziert werden könnte«.(23) Ihm erscheint nichts gefährlicher als »die ,naturalistischen’ Vorurteilen entstammende Vermischung von Theorie und Geschichte, sei es in der Form, daß man glaubt, in jenen theoretischen Begriffsbildern (24) den ‚eigentlichen’ Gehalt, das ,Wesen’ der geschichtlichen Wirklichkeit fixiert zu haben, oder daß man sie als ein Prokrustesbett benützt, in welches die Geschichte hineingezwängt werden soll, oder daß man gar die ‚Ideen’ als eine hinter der Flucht der Erscheinungen stehende ‚eigentliche’ Wirklichkeit, als reale ‚Kräfte’ hypostasiert, die sich in der Geschichte auswirken«.(25)

Soweit Max Weber die logisch-begriffliche Gestalt der ge-schichtswissenschaftlichen Forschung zu bestimmen sucht, soweit er das Bemühen, »historische Gesetze« aufzustellen, ablehnt und soweit er, in Windelbands und Rickerts Bahnen wandelnd, die Unanwendbarkeit der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung auf das Gebiet des Geschichtlichen darlegt, kann man ihm ohne weiteres beipflichten. In allen diesen Dingen hat er, das Werk seiner Vorgänger fortführend und vollendend, der Logik und der Wissenschaftslehre Unvergängliches gegeben.(26) Wo er aber, darüber hinausgehend, versucht hat, das Wesen soziologischer Forschung zu bestimmen, ist er fehlgegangen und mußte fehlgehen, weil er eben unter Soziologie etwas ganz anderes verstanden hat als die Gesetzeswissenschaft vom (75) menschlichen Handeln, deren Möglichkeit den Gegenstand des Methodenstreits gebildet hatte. Daß und warum Max Weber diesem Irrtum verfallen ist, kann man aus seinem persönlichen Werdegang und aus dem Stande, auf dem die Kenntnis der Ergebnisse soziologischer Forschung sich zu seiner Zeit im Deutschen Reiche und besonders an den Universitäten des Reiches befand, wohl verstehen und erklären. Damit mögen sich Dogmenhistoriker befassen. Was uns am Herzen liegt, ist allein die Berichtigung der Mißverständnisse, die zwar Max Weber nicht ihren Ursprung verdanken, wohl aber dadurch, daß Weber sie zur Grundlage seiner Wissenschaftslehre gemacht hat, weite Verbreitung gefunden haben.(27) Man kann die Wurzel der Weberschen Irrtümer nicht anders aufdecken als durch Untersuchung der Frage, ob die Begriffe der nationalökonomischen Theorie tatsächlich den logischen Charakter des »Idealtypus« tragen. Diese Frage ist schlechthin mit nein zu beantworten. Wohl gilt auch von den Begriffen unserer Theorie, daß sie in ihrer »begrifflichen Reinheit . . . nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar« sind.(28) Begriffe finden sich eben niemals und nirgends in der Wirklichkeit, sie gehören dem Bereiche des Denkens und nicht dem der Wirklichkeit an; sie sind das geistige Mittel, mit dessen Hilfe wir die Wirklichkeit denkend zu erfassen suchen. Doch man kann von diesen Begriffen der nationalökonomischen Theorie nicht aussagen, daß sie gewonnen werden »durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbild«. Sie werden vielmehr durch Denkakte gewonnen, die darauf ausgehen, das in jeder der in Betracht gezogenen Einzelerscheinungen Enthaltene zu erfassen. Ob diese Absicht durch die Aufstellung dieses (76) oder jenes Begriffes oder Satzes auch wirklich in logisch einwandfreier und die Wirklichkeit richtig erfassender Weise gelungen ist, das zu entscheiden gehört zu den eigentlichen Aufgaben der Wissenschaft, um deren logischen Charakter der Streit geht. Was uns hier inter-essieren kann, ist nicht die Frage nach dem materiellen Wahrheitsgehalt der einzelnen Begriffe und Sätze und des sie zu einem System verknüpfenden Gedankenbaues, sondern die Frage, ob die Aufstellung solcher Sätze logisch zulässig und für die Erreichung der Ziele, die wir der Wissenschaft setzen, zweckmäßig oder gar notwendig ist.

Das menschliche Handeln, das den Gegenstand aller gesellschaftswissenschaftlichen Forschung, der historischen sowohl als auch der theoretischen bildet, hat einen Tatbestand zur Voraussetzung, den wir in der Gottlschen Formulierung bestimmen wollen, weil Max Weber sich gegen sie – m. E. mit mangelhafter Begründung – gewendet hat. Gottl bezeichnet als das eine der zwei »Grundverhältnisse«, die über unserem Handeln walten, die »Not«, worunter er den Umstand versteht, »daß sich nie ein Streben erfüllen läßt, ohne dem Erfolge anderer Streben in irgendeiner Weise Abbruch zu tun«.(29) Nun meint Max Weber, daß dem Tatbestande dieses Grundverhältnisses die Ausnahmslosigkeit fehle. Es sei nicht wahr, daß »die Kollision und also die Notwendigkeit der Wahl zwischen mehreren Zwecken ein unbedingt gültiger Tatbestand ist«.(30) Dieser Einwand Max Webers ist jedoch nur soweit richtig, als es auch »freie Güter« gibt; doch soweit er richtig ist, wird eben nicht »gehandelt«. Wären alle Güter »freie Güter«, dann würde der Mensch nur mit seinem persönlichen Wirken, d. i. mit dem Einsatz seiner persönlichen Kräfte und seiner dahinfließenden Lebenszeit, haushalten; mit den Dingen der Außenwelt würde er achtlos umgehen.(31) Nur in einem von unsterblichen und dem Ablauf der Zeit gegenüber gleichgültigen Menschen bevölkerten Schlaraffenlande, in dem jeder Mensch immer und überall voll befriedigt und genußgesättigt ist, oder in einer Welt, in der durch nichts eine bessere Befriedigung und Sättigung erreicht (77) werden kann, würde es den Tatbestand der Gottlschen »Not« nicht geben. Nur soweit sie gegeben ist, wird gehandelt; soweit sie fehlt, fehlt auch das Handeln.

Hat man das einmal erkannt, so erkennt man auch ohne weiteres, daß jedes Handeln eine Entscheidung zwischen verschiedenen Möglichkeiten bedeutet; alles Handeln ist Wirtschaften mit den Mitteln, die zur Verwirklichung erreichbarer Ziele zu Gebote stehen. Das Grundgesetz des Handelns ist das wirtschaftliche Prinzip; unter seiner Herrschaft steht alles Handeln. Wer die Möglichkeit nationalökonomischer Wissenschaft leugnen will, muß damit beginnen, dem wirtschaftlichen Prinzip seine Stellung als allgemeingültige Aussage über das Wesen alles Handelns streitig zu machen. Das aber kann nur tun, wer das Prinzip ganz und gar mißverstanden hat.

Das gangbarste Mißverständnis besteht darin, daß man im wirtschaftlichen Prinzip eine Aussage über das Materielle und den Inhalt des Handelns erblickt. Man greift ins Psychologische hinüber, konstruiert den Begriff des Bedürfnisses und sucht dann die Spannung zwischen dem Bedürfnis, der Vorstellung eines Unlustgefühls, und der konkreten Entscheidung im Handeln. So wird das Bedürfnis zum Richter über das Handeln; man glaubt das richtige, der Bedürfnisgestaltung entsprechende, dem unrichtigen Handeln entgegenstellen zu können. Doch wir können das Bedürfnis nirgends erkennen als im Handeln.(32) Das Handeln ist immer den Bedürfnissen gemäß, weil wir nur aus dem Handeln auf das Bedürfnis zurückschließen. Was jemand über seine eigenen Bedürfnisse aussagt, ist immer nur Erörterung und Kritik vergangenen und künftigen Verhaltens; erst im Handeln und nur im Handeln wird das Bedürfnis existent. Bei dem, was wir über die Bedürfnisse anderer oder gar aller Menschen aussagen, ist es wohl jedermann klar, daß es nur zwei Möglichkeiten gibt: entweder festzustellen, wie gehandelt wurde oder voraussichtlich gehandelt werden wird, oder festzustellen, wie sie hätten handeln sollen oder wie sie in Zukunft handeln sollen.

Kein Mißverständnis kann daher fundamentaler sein als das des Historismus, wenn er im »Willen zur Wirtschaftlichkeit ein Glied einer späten Entwicklung« erblickt und einwirft, daß der »natürliche Mensch nicht in vollster Zweckmäßigkeit handelt«,(33) oder wenn er (78) das wirtschaftliche Prinzip als ein Spezifikum der geldwirtschaftlichen Produktion erklärt.(34) Max Scheler hat darauf die richtige Antwort erteilt, wenn er selbst auch von seinem Willen zu einer absoluten Rangbestimmung der Werte daran gehindert wurde, aus ihr die für die Ethik entscheidenden Schlußfolgerungen zu ziehen. »Daß das Angenehme«, meint er, »dem Unangenehmen vorgezogen wird (ceteris paribus), ist kein Satz, der auf Beobachtung und Induktion beruht; er liegt im Wesen dieser Werte und im Wesen des sinnlichen Fühlens. Würde uns z. B. ein Reisender, ein Historiker oder ein Zoologe eine Menschen- und Tierart beschreiben, bei der das Gegenteil der Fall wäre, so würden wir dem ‚a priori’ keinen Glauben schenken und zu schenken brauchen. Wir würden sagen: Dies ist ausgeschlossen, diese Wesen fühlen höchstens andere Dinge als angenehm und unangenehm wie wir; oder aber, sie ziehen nicht Unangenehmes dem Angenehmen vor, sondern es muß für sie ein (uns vielleicht unbekannter) Wert einer Modalität bestehen, die ‚höher’ ist als die Modalität dieser Stufe, und indem sie diesen Wert ,vorziehen’, nehmen sie nur das Unangenehme auf sich; oder es liegt eine Perversion der Begierden vor, vermöge deren sie lebensschädliche Dinge als ‚angenehm’ erleben usw. Wie alle diese Zusammenhänge ist eben auch der, den unser Satz ausspricht, gleichzeitig ein Verständnisgesetz für fremde Lebensäußerungen und konkrete, z. B. historische Wertschätzungen (ja selbst der eigenen z. B. in der Erinnerung); und er ist daher bei allen Beobachtungen und Induktionen bereits vorausgesetzt. Er ist z. B. aller ethnologischen Erfahrung gegenüber ‚a priori’. Auch kann diesen Satz und seinen Tatbestand keine entwicklungstheoretische Betrachtung weiter ,erklären’«.(35) Was Scheler hier vom Angenehmen und Unangenehmen sagt, ist das Grundgesetz des menschlichen Handelns, das unabhängig von Ort, Zeit, Rasse u. dgl. gilt. Ersetzen wir in Schelers Ausführungen »angenehm« durch »subjektiv als wichtiger angesehen« und »unangenehme durch »subjektiv als minder wichtig angesehene, dann wird dies wohl noch deutlicher.

Der Historismus nimmt seine Aufgabe zu leicht, wenn er sich damit begnügt, einfach die Behauptung aufzustellen, daß die Qualität des menschlichen Handelns nicht überzeitlich sei und sich im Laufe der Entwicklung verändert habe. Man hätte doch, wenn man solche (79) Behauptungen vertritt, zumindest die Verpflichtung, anzugeben, worin sich das Handeln der vermeintlich vorrationalen Zeit von dem der rationalen unterschieden habe, wie etwa anders als rational gehandelt werden könnte oder hätte gehandelt werden können. Diese Verpflichtung hat nur Max Weber empfunden; ihm verdanken wir den einzigen Versuch, diese Grundthese des Historismus aus dem Bereich des feuilletonistischen Aperçus in den der wissenschaftlichen Betrachtung zu erheben.

Max Weber  unterscheidet innerhalb des »sinnhaften Handelns« vier verschiedene Arten des Handelns. Das Handeln kann »bestimmt sein 1. zweckrational: durch Erwartungen des Verhaltens der Gegenstände der Außenwelt und von anderen Menschen und unter Benutzung dieser Erwartungen als ‚Bedingungen’ oder als ‚Mittel’ für rational, als Erfolg erstrebte und abgewogene eigene Zwecke, – 2. wertrational: durch bewußten Glauben an den – ethischen, ästhetischen, religiösen oder wie immer sonst zu deutenden – unbedingten Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens rein als solchen und unabhängig vom Erfolg, – 3. affektuell, insbesondere emotional: durch aktuelle Affekte und Gefühlslagen, – 4. traditional: durch eingelebte Gewohnheit«.(36) Jenseits jeder Art von sinnhaftem Handeln steht »ein bloß reaktives, mit einem subjektiv gemeinten Sinn nicht verbundenes, Sichverhalten«; die Grenzen zwischen dem sinnhaften und dem bloß reaktiven Handeln sind flüssig.(37)
Betrachten wir zunächst das, was Max Weber das bloß reaktive Verhalten nennt. Die Biologie und die Naturwissenschaften überhaupt können an das Verhalten der Objekte mit ihrer Betrachtung nur von außen herankommen; sie können daher nicht mehr feststellen als die Beziehung von Reiz und Reaktion; darüber hinaus heißt es für sie »ignorabimus«. Daß irgendwie das Verhalten des Gereizten so ähnlich zu erklären sein müßte wie rationales menschliches Handeln, mag der Naturforscher dunkel ahnen; es ist ihm aber nicht gegeben, in die Dinge tiefer hineinzusehen. Dem menschlichen Verhalten gegenüber ist aber unsere Stellung eine ganz andere; hier erfassen wir den Sinn, den, wie Max Weber sagt, vom »Handelnden subjektiv gemeinten Sinn«, der »nicht etwa ein objektiv ,richtiger’ oder ein metaphysisch ergründeter ‚wahrer’ Sinn« ist.(38) Wo wir bei Tieren, denen wir (80) menschliche Vernunft nicht zuzutrauen vermögen, ein Verhalten beobachten, das wir zu erfassen in der Lage wären, wenn wir es als menschliches Verhalten beobachtet hätten, sprechen wir von instinktivem Verhalten.

Die Antwort des Menschen auf Reize kann entweder reaktiv oder sinnhaft oder sowohl reaktiv als auch sinnhaft sein. Auf die Zufuhr von Giftstoffen antwortet der Körper reaktiv, aber daneben kann auch das Handeln sinnhaft etwa durch Zufuhr von Gegengiften antworten; auf die Erhöhung der Marktpreise antwortet nur das sinnhafte Handeln. Die Grenzen zwischen sinnhaftem und reaktivem Verhalten sind für den Psychologen flüssig wie die zwischen Bewußtheit und Unbewußtheit; es mag aber sein, daß nur die Unvollkommenheit unseres Denkens uns hindert, zu erkennen, daß Reizreaktion und Handeln wesensgleich sind, und zwischen ihnen nur Gradverschiedenheit festzustellen.

Wenn wir von einem menschlichen Verhalten sagen, daß es bloß reaktiv, instinktiv, triebhaft sei, so meinen wir damit, daß es unbewußt vor sich geht. Man muß aber beachten, daß wir dort, wo wir es als unzweckmäßig erachten, uns so zu verhalten, sinnhaft darauf ausgehen, das bloß reaktive, instinktive, triebhafte Verhalten auszuschalten. Wenn meine Hand von einem scharfen Messer berührt wird, ziehe ich sie unwillkürlich zurück; soll aber etwa ein ärztlicher Eingriff vorgenommen werden, dann werde ich durch bewußtes Verhalten das reaktive zu überwinden trachten. Der bewußte Wille bemächtigt sich aller Gebiete unseres Verhaltens, die ihm überhaupt zugänglich sind, indem er hier nur jenes bloß reaktive, instinktive, triebhafte Handeln duldet, das er als zweckmäßig billigt und vollzogen haben will. Für die der Wissenschaft vom menschlichen Handeln angemessene Betrachtung, die eben anderes im Auge hat als die psychologische, ist somit die Grenze zwischen sinnhaftem und bloß reaktivem Verhalten durchaus nicht flüssig. Soweit der Wille wirksam zu werden vermag, gibt es nur sinnhaftes Handeln.

Das führt uns nun zur Prüfung der Verhaltensarten, die Weber dem zweckrationalen Verhalten entgegenstellt. Zunächst ist es wohl klar, daß das, was Weber das »wertrationale« Verhalten nennt, vom »zweckrationalen« nicht grundsätzlich geschieden werden darf. Auch die Erfolge, denen das zweckrationale Verhalten zustrebt, sind doch Werte und stehen als Werte jenseits der Rationalität; sie haben, um den Ausdruck Webers zu verwenden, »unbedingten Eigenwert«; das (81) zweckrationale Handeln ist »nur in seinen Mitteln zweckrational«.(39) Das, was Weber das wertrationale Verhalten nennt, unterscheidet sich vom zweckrationalen nur darin, daß es auch ein bestimmtes Sichverhalten als Wert ansieht und demgemäß in die Rangordnung der Werte einstellt. Wenn jemand nicht nur überhaupt seinen Lebensunterhalt verdienen will, sondern auch auf »anständige« und »standesgemäße« Weise, also etwa als preußischer Junker älteren Schlages die Verwaltungslaufbahn der Anwaltschaft vorzog, oder wenn jemand auf die Vorteile, die die Beamtenkarriere bietet, verzichtet, weil er seine politische Überzeugung nicht aufgeben will, so liegt darin keineswegs ein Verhalten, das man als nicht zweckrational bezeichnen kann; das Festhalten an überkommenen Lebensauffassungen oder an der politischen Überzeugung ist ein Zweck wie jeder andere und geht wie jeder andere Zweck in die Rangordnung der Werte ein. Weber verfiel hier eben in das alte Mißverständnis, dem die utilitarische Grundidee immer wieder verfällt: nämlich unter »Zweck« nur materielle und in Geld ausdrückbare Werte zu verstehen. Wenn Weber glaubt, »rein wertrational« handle, »wer ohne Rücksicht auf die vorauszusehenden Folgen handelt im Dienst seiner Überzeugung von dem, was Pflicht, Würde, Schönheit, religiöse Weisung, Pietät, oder die Wichtigkeit einer ‚Sache’ gleichviel welcher Art ihm zu gebieten scheinen«,(40) so drückt er den Tatbestand in unzweckmäßiger Weise aus. Richtiger wäre, zu sagen, daß es Menschen gibt, die Pflicht, Würde, Schönheit u. dgl. m. so hoch stellen, daß sie dahinter andere Ziele und Zwecke zurückstellen. Dann erkennt man aber unschwer, daß es sich hier wohl um andere Zwecke handelt als die, denen die Masse zustrebt, daß es aber immerhin doch Zwecke sind und daß daher ein auf ihre Verwirklichung gerichtetes Verhalten gleichfalls als zweckrational bezeichnet werden muß.

Nicht anders steht es mit dem traditionalen Verhalten. Wenn der Bauer dem Agrikulturchemiker, der ihm die Verwendung von Kunstdünger empfiehlt, die Antwort gibt, er lasse sich von einem Städter, der doch unmöglich von Landwirtschaft etwas verstehen könne, in seine Wirtschaft nicht dreinreden; er wolle weiter so vorgehen, wie es seit altersher im Dorfe Brauch gewesen sei, wie sein Großvater und sein Vater, tüchtige Landwirte, es ihn gelehrt hätten und wie es sich bisher immer bewährt habe, so heißt das, daß er am überkommenen Verfahren festhalten will, weil er es für das bessere ansieht. Wenn der (82) hochadelige Großgrundbesitzer den Vorschlag seines Domänendirektors, die in den Einzelhandel gelangenden Butterpakete mit seinem Namen, Titel und Wappen zu kennzeichnen, mit der Begründung zurückweist, daß solches nicht dem adeligen Herkommen entspreche, dann heißt das: ich will auf eine Mehrung meiner Einnahmen verzichten, die ich nur unter Aufopferung eines Stückes meiner Würde erlangen könnte. In dem einen Falle wird die eingelebte Gewohnheit beibehalten, weil man sie – ob mit oder ohne Berechtigung, ist für uns gleichgültig – für »rationeller« hält, in dem zweiten Falle, weil man ihr einen Wert beilegt, den man über den Wert dessen, was durch ihre Aufopferung erreicht werden könnte, stellt.

Schließlich noch das »affektuelle« Verhalten. Im Affekt verschiebt sich die Rangordnung der Zwecke, man beurteilt sie anders als später bei kühler Erwägung der Dinge und gibt einer Gefühlsaufwallung, die sofortige Befriedigung heischt, leichter nach. Wer einem Ertrinkenden mit Gefahr des eigenen Lebens zu Hilfe eilt, kann es tun, weil er der augenblicklichen Regung, Hilfe zu leisten, nachgibt, oder weil er die Verpflichtung empfindet, sich unter solchen Umständen als Held zu bewähren, oder weil er die Lebensrettungsprämie verdienen will. In jedem Falle ist sein Handeln dadurch bedingt, daß er im Augenblicke den Wert des Zuhilfekommens so hoch stellt, daß andere Rücksichten – auf das eigene Leben, auf das Schicksal der eigenen Familie u. dgl. m. – zurückstehen; es mag sein, daß eine nachträgliche Überprüfung ihn dann zu einem anderen Ergebnisse führt. Doch im Augenblicke – und nur darauf kommt es an -war auch dieses Verhalten »zweckrational«.

Die Unterscheidung, die Max Weber innerhalb des sinnhaft-en Verhaltens zieht, wenn er das zweckrationale Verhalten und das nicht zweckrationale Verhalten auseinanderzuhalten sucht, kann mithin nicht aufrechterhalten werden. Alles, was wir als menschliches Verhalten ansehen können, weil es über das bloß reaktive Verhalten der Organe des menschlichen Körpers hinausgeht, ist zweckrational, wählt zwischen gegebenen Möglichkeiten, um das am sehnlichsten erwünschte Ziel zu erreichen. Eine andere Auffassung ist für eine Wissenschaft, die das Handeln als solches, nicht aber die Beschaffenheit seiner Ziele ins Auge fassen will, nicht zu brauchen.

Max Webers fundamentaler Irrtum liegt in der Verkennung des Anspruches auf ausnahmslose Geltung, mit der der soziologische Satz auftritt. Das wirtschaftliche Prinzip, die Grundgesetze der Bildung der Austauschverhältnisse, das Ertragsgesetz, das Bevölkerungs- (83) gesetz und alle anderen Sätze gelten immer und überall, wo die von ihnen vorausgesetzten Bedingungen gegeben sind.

Max Weber nennt wiederholt als Beispiel eines nationalökonomischen Satzes das Greshamsche Gesetz, wobei er es nicht unterläßt, das Wort »Gesetz« unter Anführungszeichen zu setzen, um zu zeigen, daß es sich bei diesem Lehrsatze wie bei anderen der ver-stehenden Soziologie nur um »durch Beobachtung erhärtete typische Chancen eines bei Vorliegen gewisser Tatbestände zu gewärtigenden Ablaufes von sozialem Handeln, welche aus typischen Motiven und typisch gemeintem Sinn der Handelnden verständlich sind« handelt.(41) Dieses »sog. ‚Greshamsche Gesetz’« sei »eine rational evidente Deutung menschlichen Handelns bei gegebenen Bedingungen und unter der idealtypischen Voraussetzung rein zweck-rationalen Handelns. Inwieweit tatsächlich ihm entsprechend gehandelt wird, kann nur die (letztlich im Prinzip irgendwie statistisch` auszudrückende) Erfahrung über das tatsächliche Verschwinden der jeweils in der Geldverfassung zu niedrig bewerteten Münzsorten aus dem Verkehr lehren; sie lehrt tatsächlich eine sehr weitgehende Gültigkeit«.(42) Das Greshamsche Gesetz – das übrigens schon von Aristophanes in den Fröschen erwähnt und, von Nicolaus Oresmius (1364) klar ausgesprochen, erst 1858 von Macleod nach Sir Thomas Gresham benannt wurde – ist eine besondere Anwendung der allgemeinen Theorie der Preistaxen auf die Verhältnisse des Geldes.(43) Das Wesentliche, von dem es handelt, ist nicht das »Verschwinden« des »guten« Geldes, sondern das, daß Zahlungen, die nach Wahl des Schuldners mit gleicher Rechtswirkung in »gutem« oder in »schlechtem« Gelde geleistet werden können, in dem durch die Obrigkeit zu niedrig bewerteten Geld geleistet werden. Es geht nicht an, zu behaupten, daß das »unter der idealtypischen Voraussetz-ung rein zweckrationalen Handelns« immer der Fall ist, selbst dann nicht, wenn man, wie es Max Weber offenbar vorschwebt, zweckrational als synonym mit »auf höchsten Geldgewinn abzielend« gebraucht. Vor kurzem ist ein Fall berichtet worden, in dem das Greshamsche Gesetz »ausgeschaltet« war. Eine Anzahl österreichischer Unternehmer besuchte Moskau und wurde von den russischen Machthabern, die sie zur Gewährung langfristiger Warenkredite an die Sowjetunion veranlassen wollten, nach der alten Methode mit der (84) Lage Rußlands bekannt gemacht, die schon Fürst Potemkin seiner Souveränin gegenüber angewendet hatte. Man führte die Herren auch in ein Warenhaus, wo sie die Gelegenheit wahrnahmen, kleine Reiseandenken und Geschenke für ihre Freunde in der Heimat zu erwerben. Als der eine der Reisenden mit einer größeren Banknote bezahlte, bekam er auch ein Goldstück heraus. Auf seine erstaunte Bemerkung, er hätte nicht gewußt, daß Goldmünzen in Rußland effektiv zirkulieren, antwortete der Kassier, es käme doch mitunter vor, daß Käufer in Gold zahlen, und dann behandle er die Goldstücke wie jede andere Geldart und gebe sie geradeso wieder aus. Der Österreicher, der offenbar nicht »wundergläubig« war, beruhigte sich bei der Antwort nicht, ging der Sache weiter nach, und es gelang ihm schließlich zu erfahren, daß eine Stunde vor dem Besuche der Reisegesellschaft ein Regierungsbeamter im Warenhause erschienen war, dem Kassier ein Goldstück übergab und ihm auftrug, dieses eine Goldstück einem der Fremden beim Herausgeben unauffällig al pari einzuhändigen. Gesetzt, der Vorfall hätte sich wirklich so abgespielt, dann kann man dem Verhalten der Sowjetbehörde durchaus nicht die »reine Zweckrationalität« absprechen. Die Kosten, die ihr daraus erwuchsen – sie sind durch das Goldagio gegeben – erschienen ihr durch den Zweck – Gewinnung langfristiger Warenkredite – gerechtfertigt. Ich wüßte nicht, was sonst »zweckrational« wäre, wenn solches Verhalten es nicht ist.

Wenn die Bedingungen, die das Greshamsche Gesetz voraussetzt, nicht gegeben sind, dann wird auch nicht so gehandelt, wie das Gesetz es beschreibt. Wenn der Handelnde die von der gesetzlichen Tarifierung abweichende Marktbewertung nicht kennt, oder wenn er nicht weiß, daß er zur Zahlung in der vom Markte niedriger bewerteten Geldart berechtigt ist, oder wenn er einen anderen Grund hat, dem Gläubiger mehr zu geben als ihm gebührt, etwa weil er ihm schenken will oder weil er Gewalttätigkeiten des Gläubigers fürchtet, dann treffen die Voraussetzungen des Gesetzes nicht zu. Daß diese Voraussetzungen für die Masse der Gläubiger-Schuldner Beziehungen zutreffen, lehrt die Erfahrung. Doch auch wenn die Erfahrung zeigen würde, daß die vorausgesetzten Bedingungen in einer größeren Anzahl von Fällen nicht gegeben sind, könnte das die Gedankengänge, die zur Aufstellung des Gesetzes führen, nicht erschüttern und dem Gesetz die ihm zukommende Bedeutung nicht nehmen. Ob nun aber die Bedingungen, die das Gesetz voraussetzt, gegeben sind oder nicht, und ob demgemäß so gehandelt wird, wie das Gesetz es beschreibt, oder nicht, in jedem Falle wird »rein zweckrational« gehandelt. Auch (85) wer schenkt oder wer der Drohung eines Erpressers weicht, handelt rein zweckrational, und ebenso der, der aus Unkenntnis anders handelt, als er besser unterrichtet handeln würde.
Die Gesetze der Katallaktik, deren Anwendung auf einen be-sonderen Fall das Greshamsche Gesetz darstellt, gelten ausnahmslos immer und überall, wo Tauschakte gesetzt werden. Faßt man sie in der unvollkommenen und unexakten Weise, daß man nur auf unmit-telbaren und nächstliegenden Geldvorteil Rücksicht nimmt – so etwa wie: man sucht so billig als möglich zu kaufen und seine Schulden zu tilgen, man sucht so teuer als möglich zu verkaufen , dann muß man sie freilich noch durch eine Reihe von weiteren Sätzen ergänzen, wenn man etwa eine Erscheinung wie die Preise der zum Anlocken der Käufer besonders billig ausgebotenen Reklameartikel der Warenhäuser erklären will. Niemand wird aber doch bestreiten können, daß die Warenhäuser in diesem Fall auf Grund kühler Erwägung »rein zweckrational« vorgehen.
Wenn ich nur einfach Seife kaufen will, dann werde ich in vielen Kaufläden nach dem Preise fragen und dann im billigsten kaufen. Wenn ich Mühe und Zeitverlust, die solches Herumsuchen erfordert, für so lästig halte, daß ich lieber um einige Groschen teuerer kaufe, dann werde ich, ohne viel herumzufragen, in den nächsten Laden gehen. Wenn ich mit dem Einkauf der Seife auch die Unterstützung eines armen Kriegsbeschädigten verbinden will, dann werde ich beim hausierenden Invaliden kaufen, obwohl das teuerer ist. In diesen Fällen müßte ich, wenn ich meine Ausgaben genau in mein Wirtschaftsbuch eintragen will, den Ankauf der Seife mit dem allgemeinen Ladenpreis eintragen und den Mehrbetrag das eine Mal als »für meine Bequemlichkeit«, das andere Mal als »Unterstützung«.(44) Die Gesetze der Katallaktik sind nicht unexakt, wie es die Formulierung, die ihnen manche Schriftsteller gegeben haben, vermuten ließe. Wenn wir den Sätzen der Katallaktik den Charakter der Allgemeingültigkeit und Objektivität zuschreiben, so ist hier Objektivität nicht nur im gewöhnlichen und eigentlichen erkenntnistheoretischen Sinne zu verstehen, sondern auch in dem Sinne des Freiseins von der Beimischung von Werturteilen, wie es in dem jüngsten Streite um das Werturteil – selbstverständlich durchaus mit Recht – für die Gesellschaftswissenschaft gefordert wurde. Dieser Forderung entspricht allein die subjektivistische Wertlehre, die jedes Werturteil, jede sub
(86) jektive Wertschätzung der Individuen in gleicher Weise zur Erklärung der Bildung der Austauschverhältnisse heranzieht und überhaupt keinen irgendwie gearteten Versuch unternimmt, das »normale« Handeln vom »nicht normalen« zu sondern. Die Werturteildiskussion hätte viel gewonnen, wenn ihre Teilnehmer mit der modernen Nationalökonomie vertraut gewesen wären und erfaßt hätten, in welcher Weise hier das Problem der Objektivität gelöst wurde.

Nur die Fremdheit, mit der die historisch-realistische Schule der Staatswissenschaften der modernen Nationalökonomie gegenübersteht, und der Umstand, daß sie, wenn von Nationalökonomie ge-sprochen wird, stets nur an die klassische Nationalökonomie denkt, erklären es, daß man den Lehren der Nationalökonomie den Charakter wissenschaftlicher »Gesetze« absprechen will und vorschlägt, lieber von »Tendenzen« zu sprechen. So meint, um die jüngste Äußerung dieser Richtung anzuführen, Karl Muhs, daß »reine und für sich abgeschlossene Kausalreihen derart, daß eine gegebene Tatsache eine andere dauernd und unbedingt zur Folge habe, im »Wirtschaftsleben niemals« auftreten. »Jede Kausalität ist in Wirklichkeit meist mit anderen, gleichfalls mehr oder minder intensiv als Ursache wirkenden Tatbeständen verbunden, welch letztere die Wirkungen jener meist in irgendeiner Richtung beeinflussen, das Ergebnis sich daher als Wirkung eines Ursachenkomplexes bildet. Die Reduktion des Gesamtvorganges auf eine einfache Formel, in der einer Ursache eine Wirkung zugesellt wird, verbietet sich dadurch, weil unvereinbar mit dem mehrseitigen Kausalaufbau des Prozesses. Wo bestimmte Tatsachen einen Vorgang weitgehend kausal beherrschen . . . spricht man zweck-mäßiger von Regel- oder Gesetzmäßigkeiten oder Tendenzen, doch stets mit dem Vorbehalt, daß die Durchsetzung solcher Tendenzen von anderen Kausalkräften gehemmt oder modifiziert werden kann.« Das sei »die Erkenntnis von der Bedingtheit und dem Relativismus aller ökonomischen und sozialen Gesetzmäßigkeiten«, die sich bereits seit langem in der Nationalökonomie eingebürgert hätte.(45) Man begreift die weite Verbreitung dieser und verwandter Ansichten, wenn man auf der einen Seite beachtet, wie nahe sie jedem liegen müssen, der die von der klassischen Nationalökonomie überkommene und anfangs, wenn auch gewiß nicht dem Sinne nach, so doch in der Ausdrucksweise von den Begründern der österreichischen Schule festgehaltene Unterscheidung zwischen wirtschaftlichen und nicht (87) wirtschaftlichen Preisbestimmungsgründen vor Augen hatte,(46) und wenn man auf der anderen Seite beachtet, daß wir es hier eben mit dem Grundirrtum der historisch-realistischen Staatswissenschaft zu tun haben. Jedes Kausalgesetz – gleichviel in welcher Wissenschaft – gibt uns Aufschluß über ein Verhältnis von Ursache und Wirkung. Diese Erkenntnis wird sowohl in ihrem theoretischen Wert für unser Wissen als auch in ihrer praktischen Bedeutung für das Verständnis konkreter Vorgänge und für die Regelung unseres Verhaltens in keiner Weise von dem Umstande beeinflußt, daß gleichzeitig ein anderes Kausalverhältnis zu dem entgegengesetzten Ergebnis führen kann, so daß die Wirkung des einen durch die Wirkung des anderen ganz oder zum Teile aufgehoben wird. Das pflegt man mitunter durch den – übrigens selbstverständlichen Beisatz – ceteris paribus auszudrücken. Das Ertragsgesetz verliert seinen Charakter als Gesetz nicht dadurch, daß z. B. Veränderungen der Technik eintreten, die seine Wirkung kompensieren. Die Berufung auf die Mannigfaltigkeit und Kompliziertheit des »Lebens« ist logisch unhaltbar. Auch der menschliche Körper lebt und seine Prozesse sind dem »mehrseitigen Kausalaufbau« unterworfen. Dennoch würde wohl niemand dem Satz, daß die Zufuhr von Eiweiß, Fett und Kohlehydraten die Lebensfunktionen des Körpers fördert, aus dem Grunde den Charakter eines Gesetzes absprechen wollen, weil bei gleichzeitiger Zufuhr von Blausäure der Tod eintreten muß.(47)

Fassen wir es zusammen: Die Gesetze der Soziologie sind keine Idealtypen und keine Durchschnittstypen; sie sind vielmehr der Aus-druck dessen, was aus der Fülle und Mannigfaltigkeit der Erscheinungen vom Gesichtspunkte der auf die Erkenntnis des Ablaufes menschlichen Handelns gerichteten Wissenschaft als das Bleibende und jedem einzelnen Fall Notwendige herauszuheben ist. Die soziologischen Begriffe sind nicht Konstruktionen, die gewonnen werden »durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, (88) zu einem in sich einheitlichen Gedankenbilde«. Sie sind vielmehr die Zusammenfassung der Merkmale, die in jedem einzelnen Gegenstand, auf den sie sich beziehen, in derselben Weise zu finden sind. Die soziologischen Kausalsätze sind nicht der Ausdruck dessen, was in der Regel einzutreten pflegt, durchaus aber nicht immer eintreten muß, sondern ein Ausdruck dessen, was notwendigerweise immer eintreten muß, wofern die Bedingungen, die sie voraussetzen, gegeben sind.

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(11) Vgl. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922, S. 172 f.

(12) Ebendort S. 178.

(13) Ebendort S. 181.

(14) Ebendort S. 185.

(15) Ebendort S. 189 f.

(16) Ebendort S. 190.

(17) Ebendort S. 191.

(18) Ebendort S. 190.

(19) Ebendort S. 191.

(20) Ebendort S. 193.

(21) Ebendort S. 193.

(22) Ebendort S. 520 f.

(23) Ebendort S. 184.

(24) Nämlich in den idealtypischen Konstruktionen.

(25) Ebendort S. 195.

(26) Treffend sagt Schelting: »Mit dem Begriff des ‚Idealtypus’ hat Max Weber zuerst klar und deutlich eine spezifische Form der Begriffsbildung erkannt. Der ‚Idealtypus’ ist eine logische Entdeckung. Keine ‚Erfindung’. Max Weber wollte der Wissenschaft in keiner Weise etwas anempfehlen, was sie noch nicht getan hätte. Er wollte einen schon vorhandenen, weil im Wesen der kulturwissenschaftlichen Erkenntnis liegenden logischen Sachverhalt klären.« Vgl. Schelting, Die logische Theorie der historischen Kulturwissenschaft von Max Weber und im besonderen sein Begriff des Idealtypus (Archiv für Sozialwissenschaft, 49. Bd.), S. 174. Vgl. ferner Pfister, Die Entwicklung zum Idealtypus, Tübingen 1928, S. 131 ff.

(27) Max Webers Wissenschaftslehre wurde von Alfred Schütz (Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Wien 1932) in einer Weise fortgeführt und umgestaltet, die auch die von mir beanstandete Beurteilung des logischen Charakters der nationalökonomischen Sätze zu beseitigen sucht. (Vgl. insbesondere S. 277 ff.) Die scharfsinnigen, am Husserlschen System geschulten Untersuchungen von Schütz führen zu Ergebnissen, deren Bedeutung und Fruchtbarkeit sowohl für die Wissenschaftslehre als auch für die Wissenschaft selbst ganz besonders hoch veranschlagt werden müssen. Eine Würdigung des von Schütz neu gefaßten Begriffs des Idealtypus würde jedoch den Rahmen dieser Abhandlung überschreiten und den Aufgaben, die sie sich gesetzt hat, nicht dienen. Ich muß die Auseinandersetzung mit seinem Ideengang einer anderen Arbeit vorbehalten.

(28) Vgl. Max Weber, Wissenschaftslehre, a. a. O., S. 191.

(29) Vgl. Gottl, Die Herrschaft des Wortes, 1901 (jetzt in: Wirtschaft als Leben, Jena 1925), S. 165 f.

(30) Vgl. Weber, Wissenschaftslehre, a. a. O., S. 117 Anm. 2. – Man halte
dagegen Webers Umschreibung des »grundlegenden Tatbestandes, an den
sich alle jene Erscheinungen knüpfen, die wir im weitesten Sinne als
,sozialökonomische’ bezeichnen« (ebendort S. 161).

(31) Vgl. meine Gemeinwirtschaft, 2. Auflage, Jena 1932, S. 90. – Vgl.
ferner Heckscher, A Plea for Theory in Economic History (Economic
History, Vol. I), S. 527.

(32) Über die Hypostasierung, die im Begriffe »Bedürfnis« steckt, vgl.
Felix Kaufmann, Logik und Wirtschaftswissenschaft (Archiv für
Sozialwissenschaft, 54. Bd.), S. 620 f.

(33) Vgl. Halberstädter, Die Problematik des wirtschaftlichen Prinzips  Berlin und Leipzig 1925, S. 61.

(34) Vgl. Lexis, a. a. O., S. 14.

(35) Vgl. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die formale Wertethik, 2. Auflage, Halle 1921, S. 104. 

(36) Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Grundriß der Sozial-ökonomik, III. Abteilung), Tübingen 1922, S. 12.

(37) Ebendort S. 2.

(38) Ebendort S. 1.

(39) Ebendort S. 13.

(40) Ebendort S. 12.

(41) Ebendort S. 9.

(42) Ebendort S. 5.

(43) Vgl. meine Kritik des Interventionismus, a. a. O., S. 123 ff. 

(44) Vgl. weiter unten [Anm. von mises.de: weiter unten im Buch Grundprobleme der Nationalökonomie]S. 166.

(45) Vgl. Karl Muhs, Die »wertlose« Nationalökonomie (Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 129. Bd.), S. 808.

(46) Vgl. darüber weiter unten [Anm. von mises.de: weiter unten im Buch Grundprobleme der Nationalökonomie] S. 163 ff.

(47) Ich habe mit Absicht hier als Beispiel nicht einen Satz der mathematischen Naturwissenschaft, sondern eine Aussage der Biologie gewählt, die in der Form, in der ich sie bringe, unpräzise ist und in keiner denkbaren Form den strengen Charakter eines Gesetzes annehmen kann, weil es mir darum ging, zu zeigen, daß mit dem Argument der Vielheit der Ursachenkomplexe nicht einmal einer Aussage dieser Art der Charakter strengster Gesetzmäßigkeit bestritten werden kann.