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Begreifen und Verstehen (1930)

1. Erkenntnis von außen und Erkenntnis von innen
2. Begreifen und Verstehen
3. Das Irrationale als Gegenstand der Erkenntnis
4. Sombarts Kritik der Nationalökonomie
5. Logik und Sozialwissenschaft

2. Begreifen und Verstehen

Für das Verfahren der Wissenschaften vom menschlichen Verhalten, dessen Wesen in der Erfassung des Sinns des Verhaltens liegt, hat sich in der deutschen Logik und Wissenschaftslehre der Ausdruck »Verstehen« eingebürgert.(1) Um diesen Ausdruck so zu nehmen, wie ihn die Mehrzahl jener, die ihn verwendet haben, genommen haben, muß man sich vor allem vor Augen halten, daß die Entwicklung und Ausbildung einer theoretischen, auf die Gewinnung allgemeingültiger Regeln des menschlichen Verhaltens hinarbeitenden Wissenschaft in Deutschland entweder überhaupt nicht beachtet oder aber leidenschaftlich bekämpft worden war. Der Historismus wollte nicht gelten lassen, daß es neben den mit den Mitteln der Geschichte und der Philologie arbeitenden Wissenschaften auch noch eine nach allgemeingültiger theoretischer Erkenntnis strebende Wissenschaft vom menschlichen Verhalten gibt; er wollte nur Geschichte (im weitesten Sinne) gelten lassen und bestritt der Soziologie im allgemeinen und der nationalökonomischen Theorie im besonderen die Existenzberechtigung und Existenzmöglichkeit. Er hat nicht gesehen, daß ohne Rückgriff auf solche als allgemeingültig hingenommene Sätze auch Geschichte nicht betrieben werden kann und daß logisch vor der Geschichte die Theorie des menschlichen Handelns steht. Sein Verdienst liegt in der Zurückweisung der Bestrebungen des Naturalismus, der – nicht weniger irrend als der Historismus, wenn auch in anderer Hinsicht – wieder alle Geschichtswissenschaft ablehnte und an ihrer Stelle eine Wissenschaft der Gesetze menschlicher Entwicklung setzen wollte, die nach dem Vorbild der Newtonschen Mechanik oder nach dem der Darwinschen Deszendenzlehre zu gestalten wäre. Der Begriff des Verstehens ist vom Historismus nicht nur im Kampfe gegen den Naturalismus zur Umschreibung der Verfahrensart der Wissenschaften vom menschlichen Verhalten ausgebildet worden; er diente zugleich im Kampfe gegen die Gesetzeswissenschaft vom menschlichen Verhalten. Wenn heute im deutschen wissenschaftlichen Schrifttum vom „Verstehen“ die Rede ist, dann wird zwar in der Regel versichert, daß damit das den Sinn erfassende Verfahren der „Geisteswissenschaften“ gemeint ist im Gegensatz zu dem Verfahren des Erkennens von außen, das die Naturwissenschaft übt. Da aber, wie schon bemerkt, diesem Schrifttum nahezu durchwegs die Erkenntnis fehlt, daß auch eine theoretische Wissenschaft vom menschlichen Verhalten möglich ist, hat es das Verstehen in der Regel als das spezifische Erfassen des Individuellen und Irrationalen, als das intuitive Erschauen des historisch-einmaligen zu bestimmen gesucht und es dem durch rationale Denkmittel erreichbaren Begreifen geradezu entgegengestellt.(2) An und für sich wäre es denkbar gewesen, als Verstehen jedes auf die Erfassung des Sinns gerichtete Verfahren zu bestimmen. Wie die Dinge heute liegen, müssen wir uns dem herrschenden Sprachgebrauch fügen. Wir wollen daher innerhalb des auf Erfassung des Sinns gerichteten Verfahrens, dessen sich die Wissenschaften vom menschlichen Verhalten bedienen, das Begreifen und das Verstehen fordern. Das Begreifen sucht den Sinn durch diskursives Denken zu erfassen, das Verstehen sucht den Sinn in einfühlendem Sicheinleben in eine Totalität.

Das Begreifen hat dort, wo es überhaupt anwendbar ist, in jeder Beziehung Vorrang vor dem Verstehen. Niemals kann das, was das diskursive Denken ergibt, durch intuitive Erfassung eines Sinnzusammenhanges widerlegt oder auch nur berührt werden. Der logische Raum des Verstehens liegt allein dort, wohin das Begreifen und der Begriff nicht dringen können, im Erfassen der Qualität der Werte. Soweit das Begreifen reicht, herrscht die Logik mit ihrer Strenge, kann man beweisen und widerlegen, hat es einen Sinn, mit anderen über „wahr“ und „nichtwahr“ Zwiesprache zu pflegen, Probleme zu stellen und ihre Lösung zu erörtern.

Was so gewonnen wurde, muß man als bewiesen anerkennen, oder aber man muß es entweder als unbewiesen oder als widerlegt erweisen; man kann ihm nicht ausweichen, und man kann es nicht umgehen. Wo das Verstehen einsetzt, beginnt das Reich der Subjektivität. Von dem intuitiv Geahnten und Erschauten, das nicht in der Schmiede des begrifflichen Denkens gehärtet wurde, können wir anderen keine sichere Kenntnis vermitteln. Die Worte, in die wir es fassen, laden dazu ein, uns zu folgen und den von uns erlebten Komplex nachzuerleben, doch ob und wie uns nachgefolgt wird, hängt ganz von der Persönlichkeit und dem Willen der Geladenen ab. Wir können nicht einmal mit Gewißheit feststellen, ob wir so verstanden wurden, wie wir verstanden werden wollten, denn nur die scharfe Prägung des Begriffes sichert Eindeutigkeit, nur dem Begriffe kann man das Wort genau anpassen. Mit dem Verstehen geht es wie mit den anderen Versuchen, die Erfassung der Totalität wiederzugeben, wie mit der Kunst, mit der Metaphysik und mit der Mystik. Was da gegeben wird sind Worte, die man verschieden aufnehmen kann, aus denen man das heraushört, was man selbst in sie hineinlegt. Soweit der Geschichtsschreiber die politischen und militärischen Taten Cäsars schildert, kann zwischen ihm und seinen Lesern kein Mißverständnis entstehen. Wo er von Cäsars Größe, von seiner Persönlichkeit, von seiner Sendung und von seinem Charisma spricht, können seine Ausdrücke verschieden aufgenommen werden. Um das Verstehen kann es keine Auseinandersetzung geben, weil das Verstehen stets subjektiv bedingt ist. Das Begreifen ist Denken, das Verstehen ist Schauen.

Das „Begreifen“ des rationalen Verhaltens setzt sich nicht so weitgesteckte Ziele, wie sie das „Verstehen“ verfolgt. Doch in seinem Rahmen kann es alles leisten, was es zu leisten verspricht. Denn das rationale Verhalten erfassen und begreifen wir durch die unwandelbare logische Struktur unseres Denkens, in der alle Rationalität ihre Wurzel hat. Das a priori des Denkens ist zugleich das a priori des rationalen Handelns. Das Begreifen menschlichen Verhaltens ist die γνώσις τού όμοίου τώ όμοίω des Empedokles.

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(1) Breit angelegte dogmengeschichtliche Untersuchungen über die Entwicklung der Theorie des Verstehens in der deutschen Wissenschaft unternimmt WACH in seinem Werk: Das Verstehen, Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jahrhundert (3 Bände, Tübingen 1926 – 1933). Wollte man auch die Geschichte des »Begreifen« in dem Sinne, in dem dieser Ausdruck in den nachstehenden Ausführungen gebraucht wird, darstellen, dann müßte man vor allem auf das Schrifttum des Utilitaris-mus zurückgehen. 

(2) Vgl. Rothacker, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften. (Handbuch der Philosophie.) München und Berlin 1927, S. 119ff.