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Begreifen und Verstehen (1930)

1. Erkenntnis von außen und Erkenntnis von innen
2. Begreifen und Verstehen
3. Das Irrationale als Gegenstand der Erkenntnis
4. Sombarts Kritik der Nationalökonomie
5. Logik und Sozialwissenschaft

3. Das Irrationale als Gegenstand der Erkenntnis

Alle Versuche wissenschaftlicher Erklärung vermögen im besten Falle die Veränderung eines Gegebenen zu erklären. Das Gegebene selbst ist unerklärbar. Es ist; warum es ist, bleibt uns verborgen. Es ist das Irrationale, das, was das Denken nicht erschöpfen kann, was die Begriffe nicht restlos erfassen können. Der Wissenschaft vom menschlichen Verhalten sind die menschlichen Wertungen und Zielsetzungen letzter Ordnung ein Gegebenes, das sie nicht weiter zu erklären vermag. Sie kann die Werte registrieren und klassifizieren, doch es ist ihr ebensowenig möglich, die Werte zu „erklären“ als es ihr möglich ist, Werte zu setzen, als richtig anzuerkennen oder als verkehrt zu verwerfen. Die intuitive Erfassung der Werte durch das Verstehen ist noch kein „erklären“; sie versucht die Werte zu sehen und zu bestimmen, nicht mehr. Wo der Geschichtsschreiber darüber hinauszugehen versucht, wird er zum Apologeten oder zum Richter, zum Agitator und zum Politiker; er verläßt die Sphäre der betrachtenden, forschenden und erkennenden Wissenschaft und betritt das Feld menschlichen Handelns und Wirkens.

Wissenschaft gehört ganz und gar dem Bereiche der Rationalität an. Eine Wissenschaft vom Irrationalen gibt es so wenig als es irrationale Wissenschaft geben kann. Das Irrationale liegt jenseits des Bereiches menschlichen Denkens und menschlicher Wissenschaft; das Denken und die Wissenschaft kommen registrierend und klassifizierend bis zu ihm; „tiefer“ können sie nicht dringen, auch nicht mit dem „Verstehen“. Das ist ja eben das Kriterium des Irrationalen, daß es vom Denken nicht voll erfaßt werden kann. Wessen wir uns denkend ganz bemächtigen können, ist nicht mehr irrational.

Am reinsten tritt uns das Irrationale als Objekt wissenschaftlicher Arbeit in der Kunstwissenschaft entgegen. Kunstwissenschaft kann immer nur Geschichte der Künste und der Künstler, der Kunsttechnik, der von der Kunst behandelten Stoffe und Motive und der sie beherrschenden Ideen sein. Eine allgemeingültige Lehre vom Künstlerischen, vom Kunstwerke und von der künstlerischen Individualität gibt es nicht. Was die Kunstschriftsteller darüber aussagen, verleiht nur ihrem persönlichen Erlebnis am Kunstwerke Ausdruck, mag Verherrlichung oder Ablehnung sein, mag „Verstehen“ genannt werden, ist aber, soweit es die Feststellung des irrationalen Tatbestandes überschreitet, nichts weniger als Wissenschaft. Wer ein Kunstwerk analysiert, löst es im strengen Sinne des Wortes auf. Der spezifische Kunstwert aber wirkt nur im Ganzen des Werks, nicht in seinen Teilen. Das Kunstwerk ist ein Versuch, das All als Ganzheit zu erleben; man kann es, ohne seinem Wesen Abbruch zu tun, nicht in Stücke zerlegen, nicht zergliedern und nicht kommentieren. Die Kunstwissenschaft muß daher immer an der Außenseite der Kunst und ihrer Werke haften, sie kann nie die Kunst als solche erfassen. Sie mag vielen als unentbehrlich erscheinen, weil sie ihnen den Zugang zum Genuß des Kunstwerkes eröffnet; sie mag in den Augen anderer mit einer besonderen Würde umkleidet sein, die der Glanz der Kunstwerke auf sie zurückwirft. Wenn aber wieder andere feststellen, daß sie an das spezifisch Künstlerische nie heranzukommen vermag, so ist auch das wahr, mag es auch unberechtigt sein, Kunstgeschichte und Kunsthistoriker darum gering zu achten.

Nicht anders als zu den Kunstwerten stellt sich die Wissenschaft zu den übrigen Werten, die die handelnden Menschen gelten lassen. Auch hier kann sie den Werten selbst gegenüber nichts mehr tun als sie verzeichnen und höchstens noch ordnen. Alles, was sie mit dem „Begreifen“ zu leisten vermag, betrifft die Mittel, die zu den Werten führen sollen, kurz das rationale Verhalten der der Verwirklichung von Werten zustrebenden Menschen. Geschichte und Soziologie unterscheiden sich darin nicht grundsätzlich. Was sie unterscheidet, ist allein das, daß die Soziologie als theoretische Wissenschaft nach den allgemeingültigen Gesetzen des rationalen Verhaltens strebt, daß hingegen die Geschichte, diese Gesetze anwendend, den zeitlichen Ablauf des menschlichen Handelns darstellt. Gegenstand der Geschichte ist das historisch gegebene Individuelle, das sie mit den von der Theorie gelieferten Mitteln zu bearbeiten hat, das sie aber – solange sie nicht ihre Grenzen überschreitet und zur Verkünderin von Werten wird – auch mit dem „Verstehen“ nicht ausschöpfen kann. Man mag, wenn man durchaus will, die Geschichte als eine Wissenschaft vom Irrationalen bezeichnen, doch man darf nicht vergessen, daß sie an dieses Irrationale nur mit den Denkmitteln der rationalen Wissenschaft heranzukommen vermag und daß dort, wo diese Mittel versagen, ihr nichts weiter gelingen kann als Feststellung des irrationalen Tatbestandes durch das einfühlende Verstehen.

Da das Verstehen das Individuelle, das Persönliche, die Werte nicht erklärt, da es ihren Sinn nicht durch Begreifen erfaßt, sondern lediglich schaut, kann es, soweit das Verstehen in Frage kommt, in den historischen Wissenschaften keinen Fortschritt in dem Sinne geben, in dem es einen Fortschritt der Naturwissenschaft oder der Soziologie gibt. Fortschritt in der Geschichtswissenschaft gibt es nur insofern, als das Begreifen in Frage kommt, d.h. insoferne, als Vervollkommnung der Quellenbehandlung und vertiefte soziologische Erkenntnis es uns ermöglichen, den Sinn der Geschehnisse besser zu erfassen als dies früher möglich war, wenn wir z.B. mit Hilfe der nationalökonomischen Theorie wirtschaftsgeschichtliche Vorgänge heute anders zu erfassen imstande sind, als dies den älteren Historikern möglich war. Immer wieder aber muß Geschichte neu geschrieben werden, weil das persönliche Element dem Verstehen im Wandel der Zeiten und der Persönlichkeiten immer neue Gesichtspunkte eröffnet.

Das subjektive Element, das dem Verstehen stets beigemengt ist, macht, daß Geschichte von verschiedenem Standpunkt aus geschrieben werden kann. Es gibt eine Geschichte der Reformation vom katholischen und eine solche vom protestantischen Standpunkt. Wer die grundsätzlichen Unterschiede, die zwischen Begreifen und Verstehen, zwischen Soziologie und Geschichte bestehen, verkennt, wird geneigt sein, diese Verschiedenheit des Standpunktes auch für das Gebiet der Soziologie anzunehmen, etwa eine deutsche Soziologie der englischen oder eine proletarische Nationalökonomie der bürgerlichen gegenüberzustellen.