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Die Irrthümer des Historismus in der deutschen Nationalökonomie.

Vierter Brief.
Fünfter Brief.
Sechster Brief.
Siebenter Brief.
Achter Brief.

Vierter Brief.

20 Der Gegensatz zwischen den historischen und den theoretischen Socialwissenschaften, wie ich ihn in meinem letzten Briefe gekennzeichnet und in meinen „Untersuchungen über die Methode der Socialwissenschaften“ eines Weiteren ausgeführt habe(1), wird von Schmoller nicht bestritten, sondern in seiner Weise anerkannt. Er gibt zu(2), dass die Scheidung der Erkenntnissrichtungen, von denen ich ausgehe — berechtigt? — nein! — dieser Ausdruck fehlt offenbar in dem eigenthümlichen Recensenten-Argot Schmoller’s — sondern „von einer gewissen Berechtigung sei“. „Aber dieser Gegensatz dürfe nicht als eine unüberbrückbare Kluft aufgefasst werden.“ „Die Wissenschaft vom Individuellen“ — Schmoller möchte „lieber sagen“, die descriptive Wissenschaft(3) — „liefere die Vorarbeiten für die all- 21 gemeine Theorie; diese Vorarbeiten seien um so vollendeter, als die Erscheinungen nach allen wesentlichen Merkmalen, Veränderungen, Ursachen und Folgen beschrieben seien. Die vollendete Beschreibung setze aber wieder eine vollendete Classification der Erscheinungen, eine vollendete Begriffsbildung, eine richtige Einreihung des Einzelnen unter die beobachteten Typen, eine völlige Uebersicht über die möglichen Ursachen voraus. Jede vollendete Beschreibung also sei ein Beitrag zur Feststellung des generellen Wesens der betreffenden Wissenschaft.“

„Des generellen Wesens der betreffenden Wissenschaft!“ Was soll das heissen? Was ist „das generelle Wesen einer Wissenschaft“? Meint Schmoller vielleicht die Erkenntniss des Generellen, (der Erscheinungsformen!) auf irgend einem Gebiete der Forschung? Doch ich will ihm mit dergleichen Fragen nicht allzu lästig werden. Indess, was will überhaupt die obige Darlegung mit ihrer seltsamen Terminologie?

Wenn Schmoller in den obigen Ausführungen sagen wollte, dass historische Studien für den Theoretiker, und umgekehrt die Kenntniss der Theorie der Volkswirthschaft für den Historiker von Wichtigkeit seien und deshalb jeder Fortschritt auf dem Gebiete der Geschichtsschreibung der Theorie, und umgekehrt 22 jeder Fortschritt der letzteren der Geschichtsschreibung zu Gute komme, so hat er Recht, vollkommen Recht, und es könnte nur die Frage entstehen, weshalb es Schmoller, eine so selbstverständliche Wahrheit in eine so unverständliche Sprache zu hüllen, beliebt? Schmoller wird doch nicht etwa seinen Lesern zumuthen, den obigen Satz, und wäre er in eine noch seltsamere Sprache gekleidet, für eine neue, erst noch zu beweisende Wahrheit zu nehmen, oder ihnen glauben machen wollen, dass mir dergleichen unbekannt sei?

Ich habe (in meinen „Untersuchungen“) darauf hingewiesen, dass die theoretische Forschung auf dem Gebiete der Volkswirthschaft in der Geschichte der letzteren eine höchst werthvolle empirische Grundlage finde, habe hervorgehoben(4), dass eine höher entwickelte Theorie der Wirthschaftserscheinungen ohne das Studium der Geschichte der Volkswirthschaft nicht denkbar sei, auch für die praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft (die Volkswirthschaftspolitik und die Finanzwissenschaft) die Bedeutung des Geschichtsstudiums in nicht misszuverstehender Weise betont.(5) Ich habe ausdrücklich die historischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft als Hilfswissenschaften der politischen Oekonomie, und umgekehrt diese letztere als eine Hilfswissenschaft der ersteren bezeichnet.(6)

Was will also Schmoller mit den obigen im Tone der Belehrung vorgetragenen Bemerkungen?

Was will er damit in einer Kritik meines Buches?

23 Doch wohl nur seinen Lesern die Meinung beibringen, dass mir die Trivialitäten, welche er in einer halb unverständlichen Sprache vorträgt, unbekannt seien? Er will mich über Dinge belehren, von denen ich um des Humors willen, welcher in gewissen Prätensionen der historischen Nationalökonomen liegt, nachgewiesen habe(7), dass sie seit Platon und Aristoteles von den Schriftstellern über „praktische Philosophie“ wiederholt wurden und wiederholt werden!

Indess selbst wenn die obigen Bemerkungen originell wären, wenn nicht die Patina von zwei Jahr- tausenden auf ihnen läge, was haben sie mit der Frage nach den Grenzen zwischen Geschichtsschreibung und Theorie auf dem Gebiete der Volkswirthschaft zu thun? Dass die Geschichte der Volkswirthschaft und nicht nur diese, sondern auch zahlreiche andere Disciplinen als Hilfswissenschaften der theoretischen Nationalökonomie bezeichnet werden können und jeder Fortschritt derselben demnach der theoretischen Nationalökonomie zu Gute komme, ja dass alle Wissenschaften in einem gewissen Zusammenhange stehen, wer wird dies leugnen, wer hat dies je geleugnet? Nur ein ganz unkundiger Beurtheiler vermöchte indess daraus den Schluss zu ziehen, dass zwischen den einzelnen Wissenschaften überhaupt keine festen Grenzen bestehen und dass insbesondere die historischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft und die theoretische Nationalökonomie miteinander verwechselt werden dürfen. Und nur dagegen, gegen die Irrthümer, in welche unsere historischen Nationalökonomen in dieser Rücksicht verfallen sind, habe ich mich gewendet.(8)

24 Keine unüberbrückbare Kluft trennt die Geschichte von der Theorie der Volkswirthschaft, so wenig als die Anatomie von der Physiologie, die Mathematik von der Physik und der Chemie; zwischen der theoretischen Nationalökonomie und der Geschichte der Volkswirthschaft, ja zwischen den Wissenschaften überhaupt besteht selbstverständlich keine so unüberbrückbare Kluft, wie etwa zwischen der transcendentalen Philosophie und einer dänischen Dogge; indess doch in jedem Falle eine ganz bestimmte Grenze, wie eine solche zwischen Wissenschaften eben zu bestehen vermag. Der Physiolog verfolgt andere wissenschaftliche Ziele als der Anatom, auch wenn er sich für seine Zwecke mit den Ergebnissen der Anatomie beschäftigt, der Physiker andere Ziele als der Mathematiker, auch wenn er sich der Ergebnisse der Mathematik für seine Zwecke bedient, und das Ziel, welches sich der Bearbeiter der Theorie der Volkswirthschaft setzt, ist ein durchaus verschiedenes von jenem des Historikers auf dem Gebiete der Volkswirthschaft, auch wenn er für seinen Zweck historische Studien betreibt. „Es sind concrete Thaten, Schicksale, Institutionen etc. bestimmter Völker und Staaten, es sind concrete Culturentwicklungen und Zustände, deren Erforschung die Aufgabe der Geschichte, beziehungsweise der (historischen!) Statistik bildet, während die theoretischen Socialwissenschaften uns die Erscheinungsformen der socialen Phänomene und die Gesetze ihrer Aufeinanderfolge, Coëxistenz u. s. f. darzulegen die Aufgabe haben.“(9)

Hier, in Rücksicht auf die Aufgaben und die Ziele der Forschung, bestehen jene strengen Grenzen zwischen den obigen Wissenschaften, welche nicht ver- 25 wischt werden dürfen, ohne der Verwirrung und dem flachsten Dilettantismus Thür und Thor zu öffnen. Was ich der historischen Schule deutscher Nationalökonomen zum Vorwurfe mache, ist nicht, dass sie die Geschichte der Volkswirthschaft als Hilfswissenschaft der politischen Oekonomie betreibt, sondern, dass ein Theil ihrer Anhänger über historischen Studien die politische Oekonomie selbst aus dem Auge verloren hat.


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(1) S. 3 ff. und 252 ff.

(2) Jahrbuch a. a. O. S. 241.

(3) Ich, für meine Person, möchte dies keineswegs „lieber sagen“. Die Botanik, die Zoologie, die Petrographie u. s. f. sind doch sicherlich keine Wissenschaften vom Indi- 21 viduellen und doch descriptive Wissenschaften. Ich habe nicht ohne
triftigen Grund die alte Terminologie, welche die obigen Disciplinen
zur „historia naturalis“, zu den „historischen Wissenschaften“ in ganz
anderem, als dem modernen Verstande des Wortes zählt, verlassen und die
historischen Wissenschaften im heutigen Sinne als die „Wissenschaften
vom Individuellen“ bezeichnet. Schmoller missversteht mich hier, wie an
zahlreichen anderen Stellen, indem er mich zu berichtigen vermeint.

(4) A. a. O. S. 123.

(5) A. a. O. S. 187.

(6) Ebend. S. 18.

(7) Ebend. S. 187.

(8) Ebend. S. 11 ff.

(9) „Untersuchungen“ S. 12 ff.