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Die Irrthümer des Historismus in der deutschen Nationalökonomie.

Vierter Brief.
Fünfter Brief.
Sechster Brief.
Siebenter Brief.
Achter Brief.

Achter Brief.

42 Ich würde glauben, die Einwürfe der historischen Schule gegen meinen Standpunkt in der Frage nach dem Verhältnisse der politischen Oekonomie zu den historischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft nicht zu erschöpfen, wenn ich nicht einer eigenthümlichen Form des Historismus in unserer Wissenschaft gedächte, welche in nicht geringerem Masse, als die in meinem vorigen Schreiben gekennzeichnete, zur Ueberschätzung historischer Studien und zur einseitigen Hingabe der deutschen Volkswirthe an diese letzteren beigetragen hat: ich meine die unter den deutschen Volkswirthen weit verbreitete Ansicht, dass die Geschichte die ausschliessliche empirische Grundlage, sowohl der theoretischen Volkswirthschaftslehre, als auch der praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft sei. Die Irrthümlichkeit dieser Ansicht, sowohl rücksichtlich der theoretischen Volkswirthschaftslehre, als auch der praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft, klar zu stellen, scheint mir aber um so wichtiger, als die in Rede stehende Lehrmeinung für die ganze Stellung der historischen Volkswirthe zu den Fragen der Methodik unserer Wissenschaft von entscheidender Bedeutung ist.

43 Die Anhänger der obigen Meinung scheinen mir — um zunächst von dem Historismus in der theoretischen Nationalökonomie zu sprechen — vor Allem zu übersehen, dass neben der Geschichte auch die gemeine Lebenserfahrung (die Kenntniss der Motive, der Ziele, der den Erfolg bestimmenden Umstände und der Erfolge individualwirthschaftlicher Thätigkeit) eine nothwendige Grundlage der theoretischen Volkswirthschaftslehre sei. Die complicirten Erscheinungen der Volkswirthschaft sind vorwiegend das Ergebniss des Contactes individualwirthschaftlicher Bestrebungen(1), das Verständniss dieser letzteren und ihrer Wechselbeziehungen ist somit die nothwendige Voraussetzung jenes der ersteren. Die Geschichte der Volkswirthschaft bietet uns aber nicht die Kenntniss der individualwirthschaftlichen Vorgänge(2) 44 zumal ihrer psychologischen Motivirung, ja sie vermag uns, aus Gründen, deren ich an anderer Stelle in ausführlicher Weise gedacht habe, eine solche gar nicht zu gewähren.(3) Nur wer das Wesen der Geschichtsschreibung völlig verkennt, vermag die Geschichte als die ausschliessliche empirische Grundlage der theoretischen Nationalökonomie zu bezeichnen.

Noch viel weniger kann die Geschichte als die ausschliessliche empirische Grundlage der praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft bezeichnet werden; es ist vielmehr von selbst einleuchtend, dass eine auch noch so gründliche Kenntniss der Vergangenheit der Völker an und für sich uns nicht zu befähigen vermöchte, die Grundsätze zum zweckmässigen Eingreifen in die Volkswirthschaft, zum zweckmässigen Handeln auf dem Gebiete dieser letztern festzustellen. Das wirthschaftliche Leben der Völker fördert unablässig neue Aufgaben der Volkswirthschaftspflege und der Finanzverwaltung zu Tage, deren Lösung doch nicht ausschliesslich auf Grundlage des Studiums der Vergangenheit, sondern lediglich auf der Grundlage einer weit über blos historisches und statistisches Wissen hinausreichenden Erkenntniss der jeweiligen Exigenzen des Staatslebens, der wechselnden Auffassung von den Aufgaben staatlicher Thätigkeit, des Standes der technischen Wissen- 45 schaften u. s. f. gelöst zu werden vermag. Der Historiker, „der rückwärts gekehrte Prophet“, kann nicht der allein Massgebende auf dem Gebiete der praktischen Wirthschafts-Wissenschaften sein. Der Historismus im obigen Sinne ist auch in Rücksicht auf die Volkswirthschaftspolitik und die Finanzwissenschaft eine augenfällige Einseitigkeit. Derselbe ist bei einer einigermassen den Anforderungen des Lebens an die Wissenschaft entsprechenden Auffassung der Theorie der Volkswirthschaft und der praktischen Wirthschafts-Wissenschaften überhaupt ganz unhaltbar und nur aus den Irrthümern unserer historischen Volkswirthe über das Wesen und die Aufgaben der politischen Oekonomie erklärlich.

Wer in der theoretischen Volkswirthschaftslehre, gleich den hier in Rede stehenden Volkswirthen, eine „Wissenschaft von den Parallelismen der Wirthschaftsgeschichte“, wer in den praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft lediglich eine systematische Darstellung der von den hauptsächlichen Culturvölkern in der Vergangenheit angestrebten wirthschaftlichen Ziele, der zur Erreichung derselben in der Vergangenheit ergriffenen Massregeln und der hier erzielten Erfolge erkennt: vermag in der obigen Rücksicht allerdings in historischen Studien sein Genügen zu finden. Wer in den hier gekennzeichneten Bestrebungen unserer historischen Volkswirthe dagegen nur besondere, wenn auch in hohem Grade schätzbare Zweige der Forschung auf dem Gebiete der politischen Oekonomie, wer in der theoretischen Volkswirthschaftslehre: die Wissenschaft von den Erscheinungsformen und den Gesetzen der volkswirthschaftlichen Phänomene; in den praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft: die Wissenschaften von den Grundsätzen 46 zur zweckmässigen Pflege der Volkswirthschaft, beziehungsweise zur zweckmässigen Regelung des Staatshaushaltes erkennt, wird die Geschichte und die Statistik der Volkswirthschaft zwar als wichtige Hilfswissenschaften, niemals aber als die ausschliessliche empirische Grundlage der Forschung auf dem Gebiete der politischen Oekonomie zu bezeichnen vermögen.

Indem unsere historischen, zumal unsere neuhistorischen Volkswirthe sich nahezu ausschliesslich historischen Studien hingeben, verfallen sie demnach nicht nur in die Einseitigkeit, an Stelle jener Wissenschaft, deren Bearbeitung ihnen zunächst obliegt, eine Hilfswissenschaft derselben zu setzen, d. i. anstatt die „Gesetze der Volkswirthschaft“ und die „Grundsätze zum zweckmässigen Handeln auf dem Gebiete der Volkswirthschaft“ zu erforschen, empirisches Material zur Feststellung der obigen wissenschaftlichen Wahrheiten festzustellen; ihre Einseitigkeit ist vielmehr eine ungleich grössere. Sie beschäftigen sich nur mit Einer von den zahlreichen Hilfswissenschaften der politischen Oekonomie und zwar noch überdies mit einer solchen, welche uns nur einen Theil des zur Feststellung der Wahrheiten dieser letzteren nöthigen empirischen Materials darzubieten vermag, während sie doch die politische Oekonomie selbst zu bearbeiten wähnen.

Die obige Ansicht ist jener des Kärrners vergleichbar, welcher für den Architekten gelten wollte, weil er einige Karren Steine und Sand zum Bauwerke geführt hatte.

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(1) Untersuchungen, S. 232 ff.
(2) Die theoretische Volkswirthschaftslehre hat nicht nur das generelle Wesen und den generellen Zusammenhang jener Erscheinungen der menschlichen Wirthschaft zu erforschen, welche, wie beispielsweise die Marktpreise, die Wechsel- und Effectencurse, die Geldwährung, die Banknoten, die Handelskrisen u. s. f. Erscheinungen der „Volkswirthschaft“, die Resultante des Contactes der durch den Güterverkehr zu einer höheren Einheit verbundenen Individualwirthschaften, beziehungsweise der auf die Pflege dieses Organismus von Individualwirthschaften gerichteten staatlichen Thätigkeit sind (S. 233 ff. meiner Untersuchungen), sondern auch das Wesen der Singularerscheinungen der menschlichen Wirthschaft und ihren Zusammenhang mit den Erscheinungen der „Volkswirthschaft“ in dem obigen Verstande des Wortes. Die Volkswirthschaftslehre hat uns z. B. auch das Wesen „der individuellen Bedürfnisse“, das Wesen der „Güter“, ja selbst das Wesen solcher WirthschaftsPhänomene darzulegen, welche, wie z. B. der „Gebrauchswerth“, durchaus subjectiver Natur, lediglich im Individuum real 44 sind. Wie vermöchte sie die Erkenntniss des Wesens dieser Erscheinungen und ihres Zusammenhanges mit den Phänomenen der „Volkswirthschaft“ ausschliesslich aus der Geschichte zu schöpfen? Die Meinung, die Geschichte sei die ausschliessliche empirische Grundlage der Socialwissenschaften, ist eine in die Augen fallende Einseitigkeit. (Vgl. S. 121 ff. meiner Untersuchungen.)
(3) Ebend. S. 122.