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Die Irrthümer des Historismus in der deutschen Nationalökonomie.

Neunter Brief.
Zehnter Brief.
Elfter Brief.
Zwölfter Brief.
Dreizehnter Brief.

Zwölfter Brief.

60 Sie werden, mein Freund, nach dem Gesagten, sicherlich nicht wenig neugierig sein, zu erfahren, wie Schmoller sich eigentlich die Erhebung der praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft zum Range von theoretischen denkt. Lassen wir ihn selbst uns hierüber belehren. Derselbe schreibt wörtlich Folgendes:

Die praktische Nationalökonomie kann das Gewand der Kunstlehre vollständig abstreifen, wenn sie die specielle Entwicklung der deutschen, eventuell dieser und der französisch-englischen Volkswirthschaft der letzten Jahrhunderte nach der Seite der Agrar-, Gewerbe- und Handelspolitik, nach Ursachen und Folgen im Einzelnen darlegt. Sie beschränkt sich dann darauf, wesentlich descriptiv zu verfahren, ist aber so vielleicht ein ebenso gutes oder besseres Erziehungs- oder Unterrichtsmittel für künftige Beamte, als wenn sie blos Kunstlehre sein will, d. h. wenn  sie freihändlerische oder staatssocialistische Rathschläge ertheilt.“(1)

Beachten Sie, mein Freund, die köstliche Logik, 61 welche in dem Schlusssatze dieser Ausführungen liegt. Doch davon nur im Vorübergehen. Untersuchen wir die Modalitäten, unter welchen Schmoller, ein moderner Apollo, der praktischen Nationalökonomie, seinem Marsyas, zwar nicht die Haut, wohl aber „das Gewand der Kunstlehre“ „vollständig abstreifen will“.

Dass die Darstellung der speciellen Entwickelung der deutschen, und nicht nur „eventuell“, sondern jedenfalls auch der „englisch-französischen“, überdies aber doch wohl auch der italienischen, der spanischen, der portugiesischen, der holländischen, der amerikanischen Volkswirthschaft u. s. f., und zwar eine alle „Seiten“ und Perioden derselben (nicht nur die von Schmoller erwähnten!) umfassende „Darstellung derselben nach Ursachen und Folgen im Einzelnen“, kurz und deutsch: „dass eine ihren Aufgaben entsprechende Wirthschafts-Geschichte der Culturvölker für den Staatsmann und selbstverständlich auch für den künftigen Beamten“, ein zweckmässiges Bildungsmittel sei: darüber ist man doch wohl schon vor Schmoller im Klaren gewesen. Der Nutzen der Geschichte der Wirthschaftspolitik der einzelnen Staaten und ihres Finanzwesens, gleich wie der Nutzen der Finanzstatistik steht für den Bearbeiter der praktischen Wirthschaftswissenschaften so sehr ausser jedem Zweifel, so sehr ausser jeder Discussion, dass Schmoller uns mit dergleichen endlich verschonen sollte. Die Geschichte und die Statistik sind für den Forscher auf dem Gebiete der politischen Oekonomie nützlich — für den Theoretiker nützlich, für den Praktiker nützlich, für den Studirenden für den künftigen Beamten, für jeden Menschen nützlich. Wie oft haben wir dies schon gehört?

Factum est jam tritum sermone proverbium!

62 In welcher Beziehung soll die obige Wahrheit indess zur Frage nach der „Erhebung“ der praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft zu einer Theorie der letztern stehen?

Oder sollte Schmoller sich diese Erhebung etwa gar in der Weise denken, dass — ? Nein! Es ist unmöglich. Und doch, Sie verweisen, mein Freund, mich auf seine eigenen Worte. — Sollte Schmoller etwa gar der Meinung sein, dass eine praktische Wissenschaft zu einer theoretischen „erhoben“ werden könne, indem man eine historische an ihre Stelle setzt, ihr die Aufgaben der Geschichtsforschung auf dem bezüglichen Wissensgebiete zuweist? Ein Säugethier soll zu einem Reptil erhoben werden, indem man einen Vogel an seine Stelle setzt?

Nein! mein Freund, solcher Denkevolutionen halte ich selbst Schmoller nicht für fähig, in dem Momente nicht für fähig, wo er sich „eben rüstet, nach längerer Unterbrechung seine Vorlesung über Methodologie der Staatswissenschaften wieder zu halten.“(2) Nochmals nein! solcher Widersinn ist unmöglich, zumal in einem für die Staatswissenschaften so feierlichen Momente! Lesen wir noch einmal, ehe wir unseren Augen trauen.

„Die praktische Nationalökonomie kann das Gewand der Kunstlehre vollständig abstreifen, wenn sie die specielle Entwicklung der deutschen, eventuell dieser und der französisch englischen Volkswirthschaft der letzten Jahrhunderte nach der Seite der Agrar- , Gewerbe- und Handelspolitik nach Ursachen und Folgen im Einzelnen darlegt. Sie beschränkt sich dann darauf, wesentlich de- 63 scriptiv zu verfahren, ist aber so vielleicht ein eben so gutes oder besseres Erziehungsmittel für künftige Beamte, als wenn sie blos Kunstlehre sein will, d. h. wenn sie freihändlerische oder staatssocialistische Rathschläge ertheilt.“ — — —

Wenn auf dem Gebiete irgend einer andern praktischen Wissenschaft — nehmen wir des Beispieles willen jenes der Chirurgie oder der Therapie — ein Schriftsteller den Gedanken fassen würde, diese Disciplinen, nicht etwa auf die Physiologie und Anatomie (also auf die entsprechenden theoretischen Wissenschaften!) zu begründen, sondern sie zu diesen letztern zu erheben, d. i. im Sinne Schmoller’s zu theoretischen Naturwissenschaften umzugestalten, so würden alle Fachgenossen desselben die sachkundigen Häupter bedenklich zu schütteln beginnen. Wenn der nämliche Autor aber die Chirurgie oder die Therapie gar in der Weise zur Physiologie oder Anatomie erheben wollte, dass er an ihre Stelle eine historische Wissenschaft, also etwa die Ethnographie oder die Anthropohistorie setzen wollte, so würde sich ihm sicherlich sofort die allgemeinste werkthätige Theilnahme seiner medicinischen Collegen zuwenden. Und doch hätte derselbe, im Grunde genommen, nur nicht das richtige Terrain für die Publication seiner Entdeckungen erwählt; hätte er den nämlichen Gedanken auf dem Gebiete der politischen Oekonomie ausgesprochen, so würde er denselben nicht nur als Ergebniss seiner unermüdlichen historischen und philosophischen Studien bezeichnen können, sondern vielleicht sogar gläubige Seelen finden, welche dergleichen für epochemachende Wahrheiten hinzunehmen bereit sein würden.


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(1) Jahrbuch, S. 245 ff.
(2) Jahrbuch, S. 239.